Leseprobe zu "William und Die blutende Quelle im Wald"

1. Das alte Haus des Larsson

 

»Bist du sicher?«, fragte Albin mit skeptischem Blick.

»Absolut!«, antwortete Ida und warf ihren dicken, blonden Zopf nach hinten. Entschlossen zog sie das kleine Kellerfenster auf. Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein, da sie keine der praktischen Stirnlampen hatte wie William und Albin.

 

»Das Haus soll abgerissen werden, genau, wie William vermutet hat«, erklärte Ida. »Der alte Larsson ist vor einem Monat ins Heim umgezogen. Morgen kommt die Abrissfirma. Also ist das unsere letzte Chance.«

»Ich gehe vor«, entschied William und schob Ida beiseite.

Ida verdrehte die Augen und schnaufte abfällig. Sie drückte William unsanft zurück. »Da wartet schon kein Geist auf mich!«, spöttelte sie.

Albin grinste breit. »Da hast du’ s. Den Geist des Pastors gibt‘ s ja auch nicht!«

William zog eine Grimasse und fuhr sich mit der Hand durch seine strubbeligen, blonden Haare.

Im Ort wurde erzählt, der Geist des Pastors spuke in dem Haus hinter dem Friedhof. William, Albin und Ida wussten es besser, denn vor ein paar Jahren waren sie der Geschichte auf den Grund gegangen. Gefunden hatten sie Williams großen Bruder Anders und dessen Freundin Sophie. Jugendliche benutzten das Spukhaus nämlich als heimlichen Treffpunkt. Und, um ungebetene Gäste fernzuhalten, hielten sie die Spukhausgeschichte mit einem angeblich unheimlichen Licht am Leben. William erinnerte sich gut daran, dass sie alle drei schreckliche Angst gehabt hatten. Denn der einzige Weg zum Spukhaus führte über den Friedhof, und der war nachts richtig gruselig.

»Sei bloß still, Albin! Du hast dir doch fast in die Hosen gemacht!«, konterte William und grinste zufrieden, als er sah, wie Albin sich nervös umblickte, als Ida in den dunklen Keller kletterte.

Die Taschenlampe störte sie.

»Ich brauch dringend eine neue Stirnlampe«, murmelte sie vor sich hin. Der Lichtschein fuhr umher wie ein Irrlicht auf der Flucht.

»Du wolltest doch nur vor Ida den Mutigen spielen«, zischte Albin William zu. »Nur deshalb wolltest du zuerst gehen!«

»So ein Quatsch«, giftete William zurück, obwohl Albin genau ins Schwarze getroffen hatte. Er kannte ihn wirklich gut, was nicht verwunderlich war.

William, Albin und Ida waren Freunde, seit sie denken konnten. Es gab sogar Fotos von ihnen, wie sie mit zwei Jahren nackt am Strand spielten. Williams Mama holte diese Fotos oft hervor und zeigte sie Menschen, die William oft nicht einmal kannte.

Peinlich, fand William. Warum machte sie das nur? Als ob er, Albin und Ida das heute noch machen würden!

»Kommt ihr?« Idas aufgeregtes Gesicht erschien im Kellerfenster. Sie leuchtete mit der Taschenlampe direkt in Williams Augen.

»He, lass das!«, schimpfte er und sah sich aufgebracht um. »Willst du den ganzen Ort herlocken?«

Albin wurde immer nervöser.

»Los, zur Seite!«, drängelte er Ida rückwärts. Sie machte Platz, und Albin kletterte in den Keller.

Es war nicht nur im Keller kalt und dunkel. Obwohl es erst sechs Uhr abends war, war die Dämmerung längst vorbei. Ein umherhuschender Lichtkegel bei einem verlassenen Haus war also mehr als verdächtig.

William lauschte angespannt und spähte in alle Richtungen. Als sich nichts regte, kletterte er schnell Albin hinterher.

Hoffentlich lohnt sich das Abenteuer.

William landete auf dem Betonfußboden und sah sich hastig um. Ida schob ihn vom Fenster weg, zog es zu und ließ ein uraltes Rollo herunter.

»So, jetzt können wir etwas mehr Licht machen!«, sagte sie zufrieden.

William knipste seine Stirnlampe an und ließ den Lichtkegel umherschweifen. Alte Möbel und Kisten mit Kleidung und allerhand Krimskrams standen herum und waren zum Teil aufeinandergestapelt. Es roch muffig und feucht. Geräusche hörte er keine, nur ihre eigenen Schritte und Albins aufgeregten Atem. Doch dann raschelte es in einer Ecke. Albin zuckte erschrocken zusammen.

»Mäuse«, flüsterte Ida. »Bei uns hat Papa überall Fallen aufgestellt. Er sagt, die Mäuse suchen sich zum Winter ein warmes Zuhause.«

»Hier ist es aber nicht warm«, klapperte Albin mit den Zähnen.

»Und ich dachte schon, du klapperst aus Angst«, witzelte William. Ein harter Schlag traf ihn am Oberarm.

»Aua!«, rief William etwas zu laut. Albin gluckste.

»Könnt ihr das vielleicht auf später verschieben?«, schnaubte Ida wütend. »Ihr macht Lärm wie eine ganze Schulklasse!«

William stieß Albin in die Seite, und beide unterdrückten nur mühsam ihr Lachen. Für ein Mädchen war Ida einfach klasse. Sie machte jeden Unfug mit, den sich William ausdachte, und war oftmals mutiger als William und Albin, was die beiden Jungen aber nie öffentlich zugeben würden. Aber manchmal war sie einfach zu ernst. Wo blieb der Spaß? Sich gegenseitig schubsend, folgten Albin und William Ida durch eine sehr niedrige Tür. Albin duckte sich rechtzeitig, William stieß mit dem Kopf an.

»Aua!«, rief er wieder.

Albin biss sich auf die Lippen, um nicht vor Lachen loszugrölen.

William war sehr groß für seine elf Jahre, aber er passte normalerweise schon durch eine Tür. Sogar durch die niedrige Schlafzimmertür in Omas altem Haus. William fluchte und rieb sich den Schädel. Dann stapfte er grimmig an Albin vorbei.

»Seht mal!«, flüsterte Ida. Ihr Lichtkegel blieb an mehreren Paketen hängen, die aussahen wie Zucker- oder Mehlpackungen.

»Willst du jetzt backen?«, knurrte William und rieb sich immer noch den Schädel. Eine Beule wuchs dort, das spürte er genau.

Ida verdrehte die Augen und bückte sich, um besser sehen zu können.

»Rauchpulver«, las sie vor.

William war mit zwei schnellen Schritten bei ihr. Tatsächlich. Rauchpulver stand dort in großen Buchstaben auf der prall gefüllten Tüte.

»Was ist das?« Albin schaute sich ihren Fund neugierig an.

»Keine Ahnung«, gab Ida zu und erhob sich wieder, »aber es klingt spannend.« Beide sahen William an.

»Rauchpulver«, murmelte er. »Hm … Rauch.« William wusste auch nicht, was das sein sollte. »Wir nehmen es mit und testen es. Steht da drauf, wie man es verwendet?«

Ida drehte das Paket um.

»Nein, das Etikett vorne drauf ist die einzige Info.«

Es polterte über ihnen. Was war das? Die Kinder erstarrten. Mit großen Augen und noch größeren Ohren lauschten sie.

Da war jemand! Schritte. Ein Lachen. Brummende Stimmen. Sie konnten nicht verstehen, was gesagt wurde, aber eines stand fest: Es waren Menschen im Haus, mindestens zwei.

»Schnell, raus hier!«, zischte William.

Albin war blass geworden, er zitterte wie Espenlaub.

»Jeder nimmt eins!«, wisperte Ida. Ihre Hände griffen nach dem ersten Paket Rauchpulver. Sie drückte es Albin in den Arm. »Hier!« Ihre leise Stimme bebte vor Aufregung. Ihre Bewegungen waren ganz flatterig. Trotzdem schnappte sie sich ein weiteres Paket und warf es William zu.

Die Jungen waren schon auf dem Weg zum Fenster nach draußen, als die Stimmen lauter wurden.

»Ich hab keine Ahnung, wo ich anfangen soll zu suchen«, seufzte ein Mann. »Und das Ganze bloß wegen einem alten Hut! Wir kaufen deinem Vater einfach einen neuen!«

»Stell dich nicht so an und such weiter«, antwortete eine Frau genervt. »Sei froh, dass es nur der Hut ist! Mit dem ganzen Krempel hier könnte man eine Lagerhalle füllen!«

Ida griff sich ein drittes Paket, lauschte kurz reglos – es hörte sich an, als käme dort jemand die Kellertreppe hinunter. Ida wartete nicht länger. Sie wollte nicht sehen, ob sie recht hatte. Sie rauschte durch die niedrige Tür, zog sie hastig hinter sich zu und drängelte hinter William am Fenster.

Albin war schon draußen. Er reichte William die Hand, doch William hechtete durch das Fenster, als wollte er einen Kopfsprung in einen See machen. Eine Vorwärtsrolle später rappelte er sich auf, drückte Albin sein Paket Rauchpulver in die Hand und wandte sich Ida zu.

»Schnell!«, flüsterte er – überflüssigerweise, da Ida schon auf der Fensterbank hing. Sie ließ ihr Paket auf den gefrorenen Boden fallen und betete, dass es nicht aufplatzen würde. Dann hangelte sie sich hinaus und sackte vor dem Fenster zu Boden. Keine Sekunde zu früh, denn im Keller ging das Licht an. Die Stimmen wurden deutlicher. Ida zitterte am ganzen Körper und war kreidebleich. Regungslos starrte sie William und Albin an. Kurz bevor die niedrige Tür aufging, zog William Ida auf die Füße und zerrte sie mit sich um die Hausecke.

»Mein Paket!«, wisperte Ida.

»Wir haben zwei, das reicht!« William zog sie weiter mit sich fort.

»Aber es verrät, dass jemand da war«, flüsterte Ida verzweifelt.

»Egal, wir müssen weg!«

Albin war bereits in der Dunkelheit verschwunden.

Es war nicht das erste Mal, dass sie sich auf einer Flucht aus den Augen verloren. Manches Mal trennten sie sich absichtlich, um bessere Chancen beim Entkommen zu haben. Gründe für ihr Weglaufen waren meist Klingelstreiche, der Besuch fremder Scheunen oder Jagdhütten oder das Stibitzen von Obst und Beeren in Bauer Eklunds Garten.

William dachte sich ständig irgendetwas Neues aus. Er sprudelte nur so vor Ideen und Unternehmungslust. Wurden seine Ideen zu abenteuerlich, dann fiel Albin eine praktische Lösung ein. Schreckte William vor seinem eigenen Mut zurück, dann preschte Ida voraus, ohne an Gefahren zu denken.

Sie brachen niemals irgendwo ein, um zu stehlen. Das war falsch, das wussten sie alle. Es ging ihnen um den Nervenkitzel, den Reiz des Verbotenen. Außerdem war ein Picknick in einer Jagdhütte bei Regen angenehmer als im Freien.

Ihre Schätze für ihr Baumhaus mitten im Wald suchten sie sich im Sperrmüll oder auf dem Flohmarkt. Das alte Haus des Larsson war eine willkommene Fundgrube. Da es sowieso abgerissen werden sollte, hätte es wohl niemandem geschadet, wenn sie sich an den alten Möbeln und Gegenständen bedient hätten. Es fehlte ihnen immer etwas, denn so ein Baumhaus war doch niemals vollständig eingerichtet. Man konnte ständig etwas verbessern.

Das Baumhaus war der Treffpunkt der drei Freunde. Wenn sie sich aus den Augen verloren, dann fanden sie sich dort wieder.

 

Ida rannte neben William den dunklen Weg entlang. Die beiden holten Albin bald ein, der durch die zwei Pakete Rauchpulver etwas behindert wurde. William nahm eins davon und bog in den Wald ab. Trotz der Dunkelheit kannten die Kinder hier jeden Baum. Das war ihr Revier, hier wussten sie um jeden Schlupfwinkel und um jede Stolperfalle.

 

Als sie weit genug von dem alten Haus entfernt waren, hielten sie an und rangen nach Luft. Erleichtert darüber, wieder einmal entkommen zu sein, brachen sie in Gekicher aus. Übermütig stießen sie sich gegenseitig an und warfen sich ihre Beute zu.

Rauchpulver, was das wohl war?

»Sollen wir es noch zum Baumhaus bringen?« Ida schielte auf ihre Armbanduhr. Wie zur Bestätigung klingelte ihr Handy.

»Mama«, sagte sie nach einem Blick auf das Display und nahm das Gespräch an. Ihr Blick wurde schlagartig genervt. »Ja, ich komme ja gleich … Ja, ich bin schon fast da … Okay, bis gleich.« Sie drückte ihre Mutter weg.

»Ich muss los. Wir wollen zum Geburtstag meiner Tante. Wir sind eh schon spät, weil Papa so lange gearbeitet hat, und jetzt ist Mama sauer.« Ida wandte sich um und lief los. »Macht nichts ohne mich! Ich will auf jeden Fall dabei sein!«

Dann wurde Idas Gestalt auch schon von der Dunkelheit verschluckt.

»Und jetzt?«, fragte William.

Albin zuckte mit den Schultern. Beide wussten, was Ida mit »Macht nichts ohne mich« meinte. Sie wollte dabei sein, wenn sie ihren Fund näher unter die Lupe nahmen.

»Ich weiß nicht …«, antwortete Albin, »… ich glaube, ich gehe auch nach Hause. Ich bin am Verhungern. Das Schulessen war heute …« Albin machte ein angeekeltes Gesicht.

William nickte nur. Er hatte auch kaum etwas gegessen. Sein Magen knurrte zur Bestätigung.

»Also gut«, sagte er. »Es ist sowieso tierisch kalt.« Er zog die Jacke zu, die er nach dem raschen Spurt ein wenig geöffnet hatte. Es war tatsächlich richtig kalt. Der nahende Winter drängte den Herbst energisch beiseite. Der erste Frost hatte den zuvor durchgeweichten Boden zu einem holprigen Untergrund gefroren und ließ den Atem der Kinder als weiße Wolken vor ihren Mündern schweben.

»Wir können die Pakete im Versteck am Wichtelpfad lassen«, schlug Albin vor. »Wer als Erster zum Baumhaus geht, nimmt sie mit. Ich kann erst morgen Nachmittag. Ich soll vormittags mit zum Einkaufen. Mama meint, ich bräuchte neue Hosen. Keine Ahnung, warum.« Albin seufzte und zuckte mit den Schultern.

William grinste breit und leuchte auf Albins aufgeschlagene Knie.

»Nee, ich auch nicht«, meinte er. »Deine Mutter übertreibt maßlos!«

Sie brauchten eine Viertelstunde bis zum Versteck am Wichtelpfad und noch einmal zehn Minuten bis nach Hause. Albin und William waren Nachbarn. Ida wohnte zwei Straßen weiter am Ortsrand auf einem Bauernhof. Ihre Eltern waren alle befreundet, und William und Albin hatten unzählige Stunden bei Ida verbracht. Der Hof von Idas Eltern war ein Paradies für die Kinder: Landmaschinen, Traktoren, Scheunen, Kühe, Hühner, Hunde, Katzen und sogar vier Ponys. William und Albin konnten zwar reiten, aber so fanatisch wie Ida waren sie dabei nicht. Meist ritt Ida mit ihrer Schwester oder mit ihren Freundinnen aus. Die waren auch für anderen Mädchenkram, wie shoppen gehen, zuständig. Denn da streikten William und Albin ganz und gar.

Der Wald, in dem sie ihr Baumhaus hatten, gehörte Idas Eltern. Die wussten vom Baumhaus. Aber die kleine Höhle, nur hundert Meter weiter, kannten nur die drei Freunde. Sie hatten sie auf einem ihrer Streifzüge durch den Wald entdeckt. Und ihr Baumhaus daraufhin in der Nähe gebaut, damit es nicht auffiel, dass sie sich so oft in dieser Gegend aufhielten. Die Höhle war ihr Geheimnis, und dort bewahrten sie ihre Schätze auf. Das kleine Versteck am Wichtelpfad war nur eine Zwischenstation, die nun einmal wieder ihren Dienst erfüllen würde.

Dort angekommen, entfernte Albin die Zweige, die über einem flachen Stein lagen. William schob den Stein beiseite. Darunter kam eine Plastikkiste zum Vorschein, die ihre Schätze vor Nässe und Schmutz schützte. Albin hob den Deckel ab und platzierte sein Paket Rauchpulver darin.

»Gib her«, sagte er. William reichte ihm das zweite Paket, und Albin verstaute es sicher in der Kiste. Nachdem sie alles wieder abgedeckt hatten, liefen sie nach Hause. Hunger und Kälte trieben sie voran.

2. Rotes Wasser

 

Samstagmorgen. Keine Schule. Es war erst sechs Uhr, als William wach wurde. Er rekelte sich wohlig im gemütlich warmen Bett und überlegte, ob er weiterschlafen oder schon aufstehen sollte. Da fiel ihm das Rauchpulver ein. Seine Gedanken begannen zu kreisen, und an Schlafen war nicht mehr zu denken.

Wofür war es gut? Weshalb gab es in dem alten Haus vom Larsson Dutzende davon? Wie sah es wohl aus?

Zumindest diese letzte Frage könnte er sich beantworten, wenn er die Pakete jetzt gleich zur Höhle am Baumhaus bringen würde. William schwang die Beine aus dem Bett, schnappte sich seine Kleidung und verschwand im Bad.

 

Ein recht verschlafen aussehender Junge guckte ihm aus dem Badezimmerspiegel entgegen. Er hatte blonde, kurze Haare, die zu allen Seiten abstanden, und jede Menge Sommersprossen. William zog seinem Spiegelbild eine Grimasse und beeilte sich mit der Morgentoilette. Im Nu war er angezogen.

In der Küche schnappte er sich zwei Bananen und zwei Äpfel, bestrich vier Scheiben Brot mit Erdnussbutter und verstaute alles zusammen mit einer Flasche Saft in einem Rucksack, den er für seine ständigen Streifzüge durch die Wälder von seiner Oma bekommen hatte. Dann kritzelte er rasch eine Nachricht und legte den Zettel auf den Küchentisch. Seine Mutter würde nicht begeistert sein, doch sie war gewohnt, dass William mit seinen Freunden umherstreifte. Seine Eltern kannten das Baumhaus in Idas Wald und wussten, dass die drei Freunde dort sehr viel Zeit verbrachten.

»Das ist besser, als ständig Fernsehen zu gucken oder am Computer zu sitzen«, pflegte seine Mutter zu sagen. William war die Einstellung seiner Mutter ganz recht, er war ohnehin lieber draußen im Wald als zu Hause vor dem Fernseher.

 

Der Tag würde bald anbrechen. William konnte sehen, wie sich die Sonne langsam hinter Albins Zuhause hervorkämpfte.

Schade, dass Albin erst nachmittags Zeit hat. Obwohl er jetzt wahrscheinlich ohnehin noch schläft.

William überlegte, ob er an Albins Zimmerfenster klopfen sollte. Es war noch sehr früh. Wenn sie sich beeilten, würde Albin sicher rechtzeitig zum Einkaufen zurück sein. William konnte es nicht lassen. Allein machte ein Abenteuer nicht halb so viel Spaß.

Also lief er zu dem Haus, in dem sein Freund wohnte, umrundete es und stand wenig später vor Albins Zimmerfenster.

William klopfte. Nichts. Er klopfte stärker. Kurz darauf erschien Albins verschlafenes Gesicht am Fenster. Seine braunen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, und er sah leicht mürrisch aus. Er öffnete das Fenster.

»Es ist noch mitten in der Nacht«, knurrte er und rieb sich die Augen.

»Die Sonne kommt schon raus«, verteidigte sich William. »Ich geh zum Baumhaus. Kommst du mit?«

Albin brummte etwas Unverständliches, doch er nickte. Er schloss das Fenster, und William sah im hell erleuchteten Zimmer, wie Albin in Hose, Hemd und Pullover schlüpfte. Dann erlosch das Licht und sein Freund verschwand in den Flur.

William ging zurück und wartete ungeduldig am Gartenzaun. Es dauerte nicht lange, bis Albin die Haustür öffnete und gut eingepackt in den kalten Morgen trat.

Trotzdem sagte William: »Endlich! Ich dachte schon, ich friere hier fest!«

Albin warf ihm einen giftigen Blick zu, dann fanden seine Augen den Rucksack. »Hast du genug dabei?«

»Klar doch. Es reicht für uns beide.« William lachte Albin an. »Wann müssen wir spätestens zurück sein?«

»Keine Ahnung.« Albin zuckte mit den Schultern. »Vor neun steht Mama eh nicht auf. Zehn vielleicht?«

»Super!«, sagte William zufrieden. »Da haben wir massig ja Zeit.«

Sie stiefelten los. Die Straße war leer. Es war eisig, und ihr Atem bildete weiße Wolken. Es fühlte sich an, als frören beim Einatmen die Härchen in ihren Nasenlöchern zusammen.

Die ersten Sonnenstrahlen ließen die mit Reif überzogenen Vorgärten und Zäune glitzern, als ob sie mit Milliarden kleiner Diamanten besetzt wären. William und Albin gingen schnell, damit ihnen warm blieb.

Bis sie den Wichtelpfad erreichten, der von einer Straße am Ortsrand in den Wald führte, war ihnen nicht ein einziges Auto begegnet, geschweige denn eine Menschenseele. Auch hier glitzerte alles.

Ob es bald Schnee gibt?

William liebte Schnee. Es gab in der Nähe des Friedhofes einen Schlittenberg, und Bauer Lundquist hatte am anderen Ende des Ortes einen flachen Teich angelegt, extra zum Schlittschuhlaufen. Es gab viele Seen hier in Schweden, im Landstrich Småland, doch sie waren tief, und es war gefährlich, das Eis zu betreten. Erst, nachdem es viele Wochen sehr kalt gewesen war, erlaubten die Eltern den Kindern dort das Schlittschuhlaufen, aber nur unter Aufsicht der Erwachsenen.

Bauer Lundquists Schlittschuhbahn war ungefährlich, dort konnte keiner ertrinken. Lundquist liebte es, wenn die Kinder ihre Freude hatten. Bald würden sie wieder johlen und lachen und von ihm heißen Kakao bekommen.

William hoffte, dass es sehr bald soweit war. Dafür durfte sogar der Schnee noch etwas auf sich warten lassen.

Die beiden Jungen bogen in den Wichtelpfad ein und machten sich daran, ihre neueste Beute aus dem Übergangsversteck zu holen.

»Hast du es?«, fragte Albin.

»Gleich! Der Stein ist angefroren.« William trat mit aller Kraft gegen den flachen Stein, der ihr Versteck abdeckte. Er löste sich. William schob ihn beiseite und öffnete die Plastikkiste.

Da waren sie – die Päckchen mit dem Rauchpulver. Wie es wohl aussah?

William blickte sich nach allen Seiten um. Ihr Versteck war weder von der Straße noch vom Wichtelpfad aus zu sehen. Sonnenstrahlen fielen nur spärlich durch den dichten Wald. William kniete sich hin und überlegte.

Nur mal schauen? Da kann Ida wohl nichts dagegen haben.

»Riskieren wir einen Blick, bevor wir es zur Höhle bringen?«

»Na klar!« Albin war genauso neugierig wie William. »Das merkt Ida gar nicht!«

Die Pakete waren hart gefroren. War das am Vortag auch schon so gewesen?

William konnte sich nicht erinnern. Die Öffnung war verklebt und genau wie bei Mehl- oder Zuckerpaketen eingefaltet. Als William endlich hineinschauen konnte, sah er eine feste rotbraune Masse. Er kratzte mit dem Finger daran, und das Pulver blieb unter seinen Fingernägeln hängen. Es war eiskalt und schmolz an seiner warmen Hand.

»Es ist nass geworden. Deshalb ist es gefroren und in einem Klumpen«, stellte William fest. »Ob es überhaupt noch zu gebrauchen ist?«

»Zeig mal her«, bat Albin.

William reichte ihm das offene Paket.

»Hm, keine Ahnung«, bemerkte Albin dann. »Es ist jedenfalls gefroren.«

William nahm das Paket zurück und faltete die Öffnung wieder zu. Er verstaute beide Pakete zu seinem Frühstück in den Rucksack.

Wahrscheinlich muss das Pulver erst trocknen, bevor man es verwenden kann. Aber wofür wird es gebraucht? Rauchpulver. Rauch. Irgendwas mit Rauch …

William überlegte weiter, während sie aufbrachen und dem Wichtelpfad in den Wald folgten. Dort, wo die Sonne den Stieg traf, fühlte es sich etwas wärmer an. Es war nicht mehr weit bis zum Baumhaus. Bald kam eine Quelle. Dann mussten sie dem Weg noch etwa hundert Meter folgen, und danach ging es links auf einem Wildpfad noch ein ganzes Stück in den Wald hinein.

Die Quelle war die einzige Sehenswürdigkeit im Ort. Am Anfang des Wichtelpfades gab es sogar ein Hinweisschild – so ein schnörkeliges Zeichen, das eben Sehenswürdigkeit bedeutete. Neben der Quelle stand ein bemooster Runenstein. Die in ihn hineingeritzten Runen waren Schriftzeichen aus der Wikingerzeit. Das wusste William aus der Schule.

Der Runenstein war wohl der eigentliche Grund, warum die Quelle ein schnörkeliges Sehenswürdigkeitsschild bekommen hatte. Und es gab da irgendeine Geschichte mit Blut oder so. William konnte sich nicht erinnern.

William hörte das Wasser der Quelle bereits plätschern. Er kannte sie gut. Für ihn war die Quelle ein Anhaltspunkt im Wald, und außerdem gab es dort frisches Wasser, was sich schon des Öfteren als vorteilhaft erwiesen hatte. Man wurde sehr durstig vom Spielen im Wald, das wusste William aus Erfahrung.

 

Sie war nicht groß. Aus einem zerfurchten Felsen mit vielen Spalten floss das Wasser wie aus dem Nichts heraus. Als ob der Stein einen ganzen Bach weinen würde. Das Quellwasser lief den blanken Fels hinab in einen kleinen Teich, ähnlich einem enormen Waschbecken. Dieses war mit Moos und Wassergewächsen ausgepolstert. Drumherum wuchs im Sommer saftiges Gras. Und das Becken hatte einen Ablauf, denn das klare Quellwasser lief nicht in einem Bach weiter oder aus dem Becken hinaus, sondern verschwand einfach im Boden.

Ob das Wasser schon angefroren ist?

Wenn es richtig kalt wurde, dann bildete sich eine dicke Schicht fallendes Eis. Darunter konnte man es gluckern hören, denn das Quellwasser lief trotz gefrorenen Beckens und eisiger Felswand irgendwie weiter hinein.

Als William und Albin die Quelle erblickten, blieben sie wie angewurzelt stehen.

Das Wasser der Quelle plätscherte wie immer. Es war nicht gefroren – nur ein kleiner Eisrand hatte sich an der Kante des Beckens gebildet. Eine rote Kante? … Blutrotes Wasser lief den Felsen hinab!

Williams Herz schlug schneller, Albin neben ihm begann zu zittern.

»Das Blut vom Heiligen Olaf?«, wisperte er entgeistert.

William konnte ihm nicht antworten, ihm schnürte sich die Kehle zu.

Richtig. Jetzt fiel ihm die Geschichte wieder ein. Das musste es sein. Es war das Blut vom Heiligen Olaf!

Wie gelähmt starrten die beiden auf die rote Quelle – es war, als blute der Fels.

William schluckte, Albin machte einen Schritt rückwärts. Dann wandte er sich mit einem panischen Gesichtsausdruck zu William um und rannte, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, davon.

William überlegte nicht lange. Mit rasendem Herzen preschte er Albin hinterher. Sein Rucksack prallte ihm bei jedem Schritt in den Rücken. William konnte seinem Freund nicht so schnell folgen, da er schwer daran zu tragen hatte. Immerhin waren darin sein Frühstück, eine Flasche Saft und zwei große Pakete gefrorenes Rauchpulver.

»Warte!«, brüllte er. »Albin, warte auf mich!«

Albin sah sich hastig um und verringerte sein Tempo leicht. Jetzt flüchteten sie Seite an Seite. Der Wichtelpfad sauste unter ihnen dahin, sie keuchten um die Wette. Die Puste ging ihnen aus, bevor sie die Straße erreicht hatten. Ängstlich sahen sie sich an. Sie rangen nach Luft.