Leseprobe zu "Wie angelt man sich einen Piraten?"

Magisches Geflüster

 

 

Wie angelt man sich einen Piraten?

Roman

 

 


Kapitel 1

 

 

Verächtlich blickte Jack McLean auf den alten Mann hinab, der händeringend vor ihm stand. Die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben holte Ethan Wallace zitternd Luft, um ein weiteres Mal um Mietaufschub zu bitten. Jack schnaubte und hob die Hand, sodass dem Alten das Wort im Munde stecken blieb.

»Verschone mich mit deinen Mitleidstiraden. Zweimal habe ich den Zahlungstermin bereits aufgeschoben. Mehr als gütig, nicht wahr?« Jacks eisblaue Augen blickten spöttisch auf das Häufchen Elend hinab, das er um zwei Köpfe überragte. Er streckte sich zur vollen Größe und genoss es, den Alten noch weiter schrumpfen zu sehen.

Ethan zog den Kopf ein und knetete seine faltigen Hände. Sein Blick flackerte, er schluckte. »Meine Frau … Bitte, Jack …« Es glitzerte verdächtig feucht in seinen Augen.

Jacks spöttischer Ausdruck verschwand und wurde durch Kälte und Verachtung ersetzt. »Erzähl mir nicht wieder, sie wäre krank. Das Gezeter musste ich mir schon zweimal anhören!«

»Aber sie ist krank, Jack, bitte …«

Jack kniff die Lippen zusammen. Der Alte sollte froh sein, dass er so geduldig war und nicht explodierte. Er spürte den Jähzorn unter der Oberfläche brodeln. Er fuhr sich durch seine schwarzen Haare, spannte seinen durchtrainierten Körper und atmete tief durch. Jack hatte keine Ahnung, ob Ethans Frau tatsächlich krank war oder nicht. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu erkundigen. Es war ihm auch egal. Ethan hatte seit drei Monaten keine Miete gezahlt und Jack hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als sich mit solchen Ärgernissen zu befassen. Was ging ihn das Leben dieses alten Mannes und seiner Frau an? Wie hieß sie überhaupt noch mal? Jack hatte es vergessen. Stattdessen tauchte das Bild von Olivia Lamont in seinem Hirn auf. Pralle Brüste, ein verführerisches Lächeln und ganz nebenbei eine reiche Erbin. Dass sie eine Raubkatze im Bett war, sah Jack als willkommenen Bonus an. Dumm, aber gewitzt genug, um nicht nervig zu werden, und auch noch sexy wie Marylin Monroe. Jack liebte weibliche Rundungen. Olivia wusste, wie sie Männer anstachelte und Jack wusste ihren Sexappeal für sich zu nutzen – im Bett wie auch geschäftlich. Eine Verschmelzung der Familien McLean und Lamont, das wäre ganz nach seinem anspruchsvollen Geschmack. Geld kam zu Geld, zumindest würde Olivias Vater das glauben. Geld und Adel als Paket im Austausch für seine Tochter. Dass Jack kurz vor dem Bankrott stand, weil er lieber um Geld spielte, als sich um die alteingesessene Whiskybrennerei der McLeans zu kümmern, das erfuhr Mason Lamont hoffentlich nie. Jack machte sich nicht wirklich Sorgen. Geld hatte er bisher im Überfluss gehabt und das würde sich auch nicht so bald ändern. Bereits heute Abend auf dem Ball auf McLean Castle würde er Olivia einen Antrag machen. Er musste den Ring noch abholen und so einiges vorbereiten lassen. Für Ethans Gejammer hatte Jack nun wirklich weder Zeit noch Muße.

»Jack, bitte«, flehte der Alte noch einmal. Doch Jacks Geduldfaden war gerissen.

»In zwei Wochen hast du das Cottage geräumt. Ich habe bereits neue Mieter«, verkündete er herzlos. »Und für dich heiße ich McLean, Laird McLean«, fügte er arrogant hinzu. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ den verzweifelten Mann hinter sich, der kreidebleich in sich zusammensackte. Tränen liefen ihm die faltigen Wangen hinab, während sein Leben über ihm zusammenbrach. Raus aus ihrem geliebten Häuschen? Das Stück Land verlassen, dass seit mehr als dreißig Jahren ihr Heim gewesen war? Ethan brach das Herz, als er daran dachte, wie er das seiner krebskranken Sophie erzählen sollte …

 

Von alldem bekam Jack nichts mehr mit. In Gedanken bereits unter Olivias Röcken ließ er sich in den Schalensitz seines knallroten Sportwagens fallen und brauste reifenquietschend davon. Nur weg von diesem jammernden Alten, der Armut und Verfall ausstrahlte. Beides Dinge, mit denen Jack nichts zu tun haben wollte. Niemals. Warum mussten einfache Menschen so anstrengend sein? Konnten sie ihr Leiden nicht für sich behalten, anstatt andere damit zu belästigen? Jack gab Gas und schnaubte verächtlich. Zum Glück war das Problem jetzt erledigt. Die neuen Pächter des Hauses waren finanziell abgesichert, darauf hatte er geachtet.

Fünf Cottages gehörten zu McLean Castle. Sie waren zu hohen Preisen verpachtet, jeweils mit einem guten Hektar Land dazu. Bald würde auch dieses Häuschen ordentlich Geld einbringen. Ein Segen, dass der Alte nicht bezahlen konnte. Jack hätte ihn sonst niemals da raus bekommen. Er hatte die lausige Miete erhöhen wollen, doch es gab einen bindenden Vertrag. Jack frohlockte. Nun war der Weg frei. Sogar für das Cottage direkt an der Steilküste mit Blick in die Bucht hatte er eine Lösung gefunden. Es war das älteste Gebäude im Besitz der McLeans, idyllisch und urgemütlich – das sagten jedenfalls alle. Jack würde nie verstehen, warum Menschen in einem Cottage leben wollten. Es war klein, beengt, und ohne Luxus. Er würde die Bequemlichkeit seines Schlosses niemals gegen so etwas eintauschen. Jack konnte sich ein Leben ohne Bedienstete und jegliche Annehmlichkeiten nicht vorstellen. Doch obwohl das Cottage an der Küste das schönste des Landsitzes war, ließ es sich nicht vermieten. Ein alter Fluch lag darauf. Kapitän Jack McLean, sein Namensvetter und Vorfahr, sollte dort spuken. Lächerlich, doch die Menschen hier glaubten an solches Zeug. Aberglaube ließ sich nicht so leicht überwinden. Wie dem auch sei, Jack hatte das Problem gelöst. Er vermietete das traumhaft gelegene Idyll an ahnungslose Touristen. Der Preis stimmte, der Andrang war hoch, das Cottage bereits für diese und nächste Saison ausgebucht. Zwei Feriengäste hatte sein Verwalter Finley bereits empfangen und wieder verabschiedet. Letzterer war früher abgereist, ohne Grund. Finley behauptete, der Gast wäre von Kapitän Jack verscheucht worden. Er wäre kreidebleich abgereist, hätte Finley lediglich die Schlüssel vor die Füße geworfen, und wäre Hals über Kopf geflohen. Unsinn, dachte Jack. Er selbst hatte dort niemals einen Geist gesehen, schon gar nicht den von Kapitän Jack McLean.

Doch Jacks Nackenhaare sträubten sich, als er an ein Ereignis aus seiner Jugend erinnert wurde. Er und ein paar Jungs aus dem Dorf hatten spät abends am Cottage gespielt. Als eine Art Mutprobe sollte jeder von ihnen fünfzehn Minuten allein im Haus verbringen. Der kleine Jamie war als Erster dran gewesen. Es dauerte nicht lange, da kam er schreiend herausgerannt, die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf, er war blass wie ein Gespenst gewesen. Er hatte sie alle mit seiner panischen Angst angesteckt, sie rannten als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her, bis Jack anfing zu lachen – Jamie auszulachen – und die anderen mit einstimmten. Jamie versuchte, sich zu verteidigen, erzählte wirres Zeug von einem nackten Mann mit einem riesigen Messer und blutroten Augen. Sie hatten nur noch lauter gelacht. Jack grinste bei der Erinnerung an Jamies Gesichtsausdruck. Die Jungs und er waren drum herum gekommen, die Mutprobe auszuführen. Obwohl sie alle Jamie aufzogen, waren sie doch froh darüber gewesen, nicht selbst beweisen zu müssen, dass alles nur übermäßige Einbildungskraft eines verängstigten Kindes gewesen war.

Ob es dort nun tatsächlich spukte, war Jack im Grunde egal. Hauptsache das Geld stimmte. Sollten die Gäste von ihm aus doch alle vorzeitig abreisen, bezahlt wurde im Voraus.

 

Jack raste mit überhöhter Geschwindigkeit die kurvigen Straßen der Northern Highlands von Schottland entlang. Sein schnittiger Sportwagen nahm die Kurven wie ein roter Blitz. Schnell zu fahren war neben dem Spielen und heißen Frauen eine weitere seiner Leidenschaften. Harter Sex und ein durchgetretenes Gaspedal waren willkommene Gelegenheiten, seine aufgestauten Aggressionen zu kanalisieren. Gerade dann, wenn er einmal wieder am Spieltisch verloren hatte.

Seine Gedanken wanderten zu Olivia und ihrer üppigen Oberweite. Oh ja, er würde sie heiraten und ihre Vorzüge genießen, solange bis sein Appetit etwas Abwechslung verlangte. Wer aß schon gerne jeden Tag das Gleiche, auch wenn es sein Lieblingsgericht war? Jack war nun einmal kein Kostverächter. Er kannte seinen zügellosen Appetit auf wechselnde Frauen. Doch gerade jetzt gelüstete es ihn nach Olivias Rundungen. Voller Vorfreude auf den kommenden Abend trat er das Gaspedal durch und schnitt die nächste Kurve, um nicht von der Fliehkraft über die Böschung getragen zu werden.

Etwas Gelbes blitzte in der Sonne auf, dann blickte Jack in das entsetzte Gesicht einer jungen Frau, die direkt auf ihn zuraste. Schock, dann rauschte Adrenalin gefolgt von unbändigem Zorn durch Jacks Adern. Was zum Teufel! Warum machte die dumme Ziege nicht Platz? Jack riss in letzter Sekunde das Steuer herum, Reifen quietschten, der Wagen geriet ins Schleudern, der Abhang kam rasend schnell näher.

Diese Schlampe! Das wird sie bereuen!, dachte Jack noch, dann durchstieß sein Sportwagen die Leitplanke. Jack wurde von der Wucht des Aufpralls seitlich an die Scheibe geschleudert, ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Kopf. Es wurde schwarz um ihn herum.

 


Kapitel 2

 

Entsetzt umklammerte ich das Lenkrad, als der rote Sportwagen um die Kurve bog und die Hälfte meiner Fahrbahn blockierte. Wohin sollte ich? Rechts? Links? Die Zeit schien still zu stehen. Verfluchter Linksverkehr! Ich hatte mich in den kurzen drei Stunden, in denen ich den quietschgelben Mietwagen fuhr, nicht einmal annähernd damit anfreunden können. Meine Gedanken überschlugen sich. Bin ich auf der richtigen Straßenseite? Ist der rote Blitz auf meiner oder auf seiner Fahrbahn? Ich überblickte das so schnell nicht. Anstatt überhaupt irgendetwas zu tun, starrte ich dem Mann hinter dem Lenkrad wie gelähmt in die Augen. Jetzt sterbe ich, dachte ich noch, dann sah ich den wutentbrannten Ausdruck, der mich zur erdolchen drohte. Der Mann riss das Lenkrad herum und Reifen quietschten. Waren es meine oder seine? Ich registrierte vage, dass ich doch irgendetwas tat. Genau genommen stand ich mit beiden Füßen gleichzeitig auf der Bremse, während ich das Lenkrad mit aller Kraft in meiner Spur hielt. Zumindest hoffte ich, es wäre meine. Obwohl ich mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam, der mich noch einmal kurz nach hinten schleuderte, und ich den Motor dabei abwürgte, hörte das Quietschen der Reifen nicht auf. Immer noch mit beiden Füßen auf der Bremse warf ich einen Blick seitwärts und sah gerade noch, wie der rote Wagen gegen die Leitplanke schleuderte, diese durchbrach und dann mit viel Getöse außer Sicht verschwand.

»Oh Gott!«, entfuhr es mir, als die Wahrheit in mein Gehirn drang. Der Mann war samt Auto den Abhang hinuntergestürzt!

»Oh nein, oh nein, oh nein«, quiekte ich, war mit einem Satz aus dem Auto und wäre fast gestürzt. Meine Beine gehorchten mir nicht. Zitternd hielt ich mich an der quietschgelben Reling fest und suchte nach meinen Muskeln, doch da war nur Pudding. Mein Atem ging stoßweise und ich zitterte am ganzen Körper. Mir wurde schwindlig. Verzweifelt versuchte ich, mich zusammenzureißen. Der Mann brauchte Hilfe!

»Lady? Geht es Ihnen gut, Lady?« Eine tiefe Männerstimme drang zu mir durch. War der Mann aus dem Auto gesprungen? Ich blinzelte und sah mich um. Erst da entdeckte ich den Wagen, der direkt hinter mir parkte. Also wirklich direkt hinter mir, um genau zu sein in meiner Stoßstange. Daher also der extreme Ruck beim Anhalten, schlussfolgerte irgendetwas in meinem Kopf.

»Ich … Das Auto«, hauchte ich lahm und zeigte mit einem Puddingarm Richtung Abhang.

Der Mann, ein älterer Herr, packte mich am Ellenbogen und stützte mich. »Sind Sie verletzt?«, fragte er eindringlich.

Ich schüttelte den Kopf. Ich lebte, mir war nichts passiert. »Aber der Mann …« Ich schüttelte mich und erlangte langsam die Kontrolle über meinen Körper zurück.

»Gut, sehr gut«, murmelte der Herr erleichtert. Dann zückte er sein Handy und rief einen Rettungswagen, während er über die Straße zur durchtrennten Leitplanke lief.

Ich folgte ihm auf zitternden Beinen, blieb an der zerfetzten Leitplanke stehen und starrte in die Tiefe. Ein roter Haufen Schrott leuchtete mir zwischen Felsen und Sträuchern entgegen.

Oh mein Gott, das konnte niemand überlebt haben!

 

Die nächste halbe Stunde verging wie in Trance. Mein Gehirn war in Watte gepackt, alles schien so unwirklich. Ich merkte erst, dass ich schluchzte, als der ältere Herr mir eine Hand auf die Schulter legte und mich ansprach.

»Atmen Sie tief durch, Lady. Der Krankenwagen ist gleich da.«

»Ich … Ich …« Irgendetwas schnürte mir die Kehle zu. Meine Stimmbänder schienen eingequetscht zu sein. »Wegen mir … Oh mein Gott, ich bin schuld!«, brachte ich schließlich irgendwie hervor. Meine Stimme war kaum hörbar, doch der Mann reagierte sofort.

»So ein Unsinn!«, sagte er barsch und packte mich mit beiden Händen an den Schultern. »Das würde diesem Hallodri so passen«, knurrte er. Ich starrte ihn verwirrt an. »Ich habe alles gesehen, Lady! Sie tragen bei Weitem keine Schuld. Jack war auf unserer Fahrbahn, er ist gerast wie ein Irrer. So furchtbar der Unfall auch ist, er allein trägt die Verantwortung.«

Jack? Ein saugendes Gefühl von Panik in der Magengegend ließ mich fast zusammenklappen. »Sie kannten den Mann?«, quiekte ich hysterisch. Er kannte ihn und nahm mich in Schutz? Das konnte nicht sein. »Ich hätte ausweichen müssen«, presste ich hervor und dachte an das Entsetzen zurück, nicht zu wissen, ob ich überhaupt auf der richtigen Straßenseite fuhr. Rechts hinter dem Steuer zu sitzen und links zu fahren, das verknotete mein Gehirn. Wäre ich zu Hause in Hamburg gewesen, hätte ich instinktiv reagiert und der Mann wäre … Eine neue Welle von Übelkeit verursachenden Gefühlen durchzuckte meinen Magen. Ich stöhnte.

Der Mann schüttelte verärgert den Kopf. Nun kam es, auch er hatte meine Schuld erkannt. Jetzt würde er mich anschnauzen.

»Ausweichen? Wohin denn? Direkt in die Felswand? Nein, Lady, Sie haben genau das Richtige getan. Ein Wunder, dass Sie es geschafft haben, das Steuer ruhig zu halten, sonst müsste der Bergungswagen nun sicherlich zwei Wracks aus den Felsen fischen!«

Ich blinzelte und starrte den Herrn einfach nur an. Nein, er wollte nur nett sein, mir die Schuld nehmen …

Er schien meine Ungläubigkeit zu erfassen. Energisch drehte er mich in Richtung Kurve. »Da, sehen Sie die Bremsspuren? Das sind Ihre«, er zeigte auf vier schnurgerade schwarze Striche, die direkt im Scheitelpunkt der Kurve begannen und zu meinem und seinem Wagen führten, die nun auf der Fahrbahn quer standen und zusammen die ganze Straße blockierten. »Und das sind seine«, sagte er, doch ich war daran hängen geblieben, dass wir die Straße blockierten.

»Wir müssen Warndreiecke aufstellen!«, rief ich verzweifelt. Ich versuchte, mich aus dem Griff des Mannes zu befreien. Es durften nicht noch mehr Menschen zu Schaden kommen!

»Das habe ich bereits gemacht«, sagte er zu meiner Verblüffung. Wann hatte er das getan? Was war nur mit meiner üblich souveränen Art geschehen?

»Sie stehen unter Schock, Lady. Glauben Sie mir, es ist nicht Ihre Schuld. Wenn Sie wieder klar denken können, werden Sie es verstehen.«

Was sollte ich verstehen? Ich war schuld, ich hatte diesen verdammten Linksverkehr nicht auf die Reihe bekommen!

 

»Ihr Name?«

»Neele Petersen«, antwortete ich automatisch und knetete nervös meine Hände. Mir gegenüber saß ein Polizist und machte sich Notizen.

»Neele?« Er runzelte die Stirn. »Was für ein … ungewöhnlicher Name.«

Ich hörte fast, wie er in Gedanken das Wort seltsam übersprang.

»Woher kommen Sie?«

»Aus Deutschland. Hamburg«, sagte ich tonlos.

Der Polizist legte seinen Stift beiseite und lächelte mich freundlich an. »Nicht gerade ein Traumurlaub, was?« Ich schwieg. Er nickte verstehend. »Miss Petersen, können Sie mir in Ihren Worten erzählen, was passiert ist? Ich weiß, dass es schwierig ist, doch ich möchte, dass Sie sich so genau wie möglich erinnern.« Ich nickte und schluckte trocken. Der Polizist lächelte wieder. »Ein Glas Wasser oder lieber einen Kaffee?«, fragte er dann.

Wieso waren alle so nett zu mir? Wegen mir lag ein Mann im Krankenhaus – mehr tot als lebendig … Das beengte Gefühl im Hals kehrte schlagartig zurück. »Kaffee, bitte«, sagte ich gepresst. Der Polizist stand auf und ging zu einem Tisch in der Ecke des Raumes hinüber, wo eine Kaffeemaschine neben einem kleinen Kühlschrank stand. Ich beobachtete, wie er zwei Tassen füllte und Milch aus dem Kühlschrank holte. Meine Gedanken waren allerdings bei dem Unfall. Krankenwagen, Polizei und Bergungsfahrzeug hatten nicht lange auf sich warten lassen. Der ältere Herr, er hieß offenbar Duncan irgendwas, hatte der Polizei genau geschildert, was geschehen war, während fähige Männer den Verletzten aus dem Haufen Schrott befreit hatten. Ich hatte nicht viel von dem Mann gesehen, als er auf eine Trage geschnallt in den Krankenwagen geschoben worden war. Doch ein kurzer Blick auf seinen blutüberströmten Kopf hatte gereicht, um mir den Magen endgültig umzudrehen. Eine klaffende Wunde, wie ein schwarzes Loch … Ein Rettungssanitäter hielt mich fest, während ich mich mitten auf der Straße übergab. Es hieß, ich hätte einen Schock, daher ließ die Polizei mich in Ruhe, bis ich mich so weit zusammengerauft hatte und wieder geistig anwesend war. Laut denen war das jetzt der Fall, obwohl ich mir immer noch völlig fremd in der Situation vorkam und mein Magen seine Kapriolen noch nicht aufgegeben hatte. Zumindest konnte ich wieder zusammenhängende Gedanken fassen, und das zählte wohl bei einem Verhör. Ein Zittern fuhr durch meinen Körper.

Der Polizist kam stirnrunzelnd mit zwei Kaffeetassen zurück. »Frieren Sie, Miss?« Die Besorgnis in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich schüttelte stumm den Kopf. Er setzte eine Tasse vor mir ab und musterte mich eindringlich. »Vielleicht wäre ein Beruhigungstee besser?« Es klang, als würde er sich selbst fragen und nicht mich. Bevor er für mich entscheiden konnte, zog ich die dampfende Tasse Kaffee heran und wärmte mir die Finger. Irgendwie steckte mir der Frost in den Knochen, obwohl es wirklich nicht kalt war. Ich zog das wunderbar vertraute Aroma tief in die Lungen.

Der Polizist – ich hatte seinen Namen gleich wieder vergessen – setzte sich mir gegenüber und nippte an seinem Kaffee und wartete, bis ich bereit war. Ich schielte auf das kleine Messingschild auf seinem Schreibtisch. John Miller. Ich schätzte den Mann auf Mitte dreißig – beginnende Geheimratsecken, erste graue Haare, aber sportliche Figur und ein vertrauenserweckendes Gesicht. Nach einem warmen Schluck atmete ich zitternd ein und sammelte meine Gedanken. Trotzdem fing ich an zu stottern, als vor meinem geistigen Auge der rote Sportwagen zum gefühlt millionsten Mal auf mich zugerast kam.

Der Polizist versuchte, mich zu beruhigen. »Duncan, ich meine Mr. Munro, hat uns bereits den Unfallhergang geschildert, Miss Petersen. Ich möchte alles nur gerne noch einmal aus Ihrer Perspektive hören. Erzählen Sie der Reihe nach, wie Sie es erlebt haben. Sie fuhren um die Kurve und dann?«, half er mir auf die Sprünge.

Stotternd und anfangs etwas unzusammenhängend erzählte ich ihm alles – von dem Schrecken, dass ein Auto auf meiner Fahrbahn auf mich zukam, über meine lähmende Angst, nicht zu wissen, ob ich mich auf der richtigen Straßenseite befand, bis zur Erkenntnis, dass ich schuld war, dass ich nicht rechtzeitig reagiert hatte, weil der Linksverkehr mich überfordert hatte. Ich knetete meine Hände und versuchte krampfhaft, die brennenden Tränen zu unterdrücken. »Wenn er stirbt …« Ich verzog schmerzhaft das Gesicht. »Das würde ich mir niemals verzeihen«, flüsterte ich letztendlich.

Der Polizist hatte mir geduldig zugehört und mich nicht einmal unterbrochen. Nun räusperte er sich und lehnte sich im Stuhl vor, die Ellenbogen auf den Tisch platziert. »Jetzt hören Sie mir sehr gut zu, Miss Petersen«, sagte er eindringlich. Ich schluckte nervös. »Wir wissen nicht, ob Jack McLean überlebt, das liegt weder in unserer noch in Ihrer Hand.« Ich umklammerte meine Tasse, als wäre sie meine einzige Rettung und unterdrückte mühsam ein Schluchzen.

»Aber eines wissen wir ganz genau. Was auch immer mit Jack geschieht, hat er ganz allein zu verantworten.«

»Aber ich«, begann ich. Der Polizist hob die Hand.

»Sie sollen zuhören, habe ich gesagt.« Ich klappte den Mund zu und versank eingeschüchtert in meinen Stuhl. Meine Nerven lagen so blank, dass mich ein Staubkorn aus der Bahn hätte werfen können.

»Ihre Beschreibung des Unfallhergangs deckt sich gänzlich mit der von Duncan. Bis hin zu Ihrer beharrlichen Ansicht, dass Sie die Schuld tragen. Ich werde Ihnen jetzt die Fotos vom Unfallort zeigen. Ich weiß, dass es hart für Sie sein wird, alles noch einmal zu sehen, doch ich weiß nicht, wie ich Sie sonst überzeugen könnte.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und wappnete mich. Fotos? Reichte es nicht, dass sich alles wie in einer Endlosschleife in meinem Kopf wiederholte? Der Polizist, John Miller, öffnete einen Ordner in seinem Computer und klickte durch das Material.

»Hier«, sagte er dann und drehte den Schirm, sodass ich ein volles Bild hatte. »Sehen Sie Ihre Bremsspuren?« Er fuhr die Spuren mit seinem Kugelschreiber nach. Ich nickte und unterdrückte ein weiteres Aber. Auch dieser Duncan hatte was von den Bremsspuren erzählt. Wie sollten sie beweisen, dass ich keine Schuld trug? Für mich zeigten sie nur, dass ich nicht ausgewichen war. Schnurgerade schwarze Streifen …

»Und hier sehen Sie die von Jack.« John Miller tippte auf die Bremsspur, die nach einigen Schleuderbewegungen ins Nichts fuhr. Mein Magen verknotete sich, ich zog hörbar die Luft ein und wiegte mich vor und zurück. John Miller warf mir einen abschätzenden Blick zu und fuhr fort. »Zum einen war Jack viel zu schnell. Es ist fraglich, ob er die Kurve überhaupt geschafft hätte, auch wenn er keinen Gegenverkehr gehabt hätte. Und dann sehen Sie genau hin.« Er tippte auf den Anfang meiner Bremsspur. »Sie beginnt hier genau im Scheitelpunkt der Kurve und so dicht an der Felswand, dass Ihre inneren Reifen bereits neben der Fahrbahn sind. Sehen Sie das?« Er wartete, bis ich nickte. »Und nun schauen Sie, wo Jacks Bremsspuren beginnen.« Er tippte erneut mit dem Kuli auf den Bildschirm. »Wie hätte Ihr Auto dort hindurchpassen sollen? Sie waren bereits so dicht an der Felswand, dass ein Verreißen des Lenkrades Sie dagegen geschleudert hätte. Ausweichen wäre also absolut unmöglich gewesen. Da Jack von vornherein die Hälfte ihrer Fahrbahn blockierte, hatten Sie nur eine Möglichkeit, und das war zu bremsen und zu hoffen, dass er ausweicht. Was er zu Ihrem Glück getan hat, sonst säßen Sie jetzt hier nicht vor mir.« John lehnte sich im Stuhl zurück und musterte mich. »Verstehen Sie, was ich sage, Miss Petersen?«

Ich starrte auf den Schirm, verfolgte die schwarzen Streifen und suchte nach einer Lücke in seiner Erklärung. Es gab keine. Ich sah ihn unter Tränen an und nickte zaghaft.

John beugte sich wieder vor. »Sie trifft nicht die geringste Schuld, Miss«, sagte er ernst. »Sie machen sich Sorgen, dass der ungewohnte Linksverkehr Sie nicht handeln ließ? Nun«, sagte er, »ich sehe das so: Genau das hat Ihnen das Leben gerettet. Jack hätte so oder so ausweichen müssen, sein Schicksal hat er selbst besiegelt. Doch für Sie hätte jede andere Entscheidung zu einer Katastrophe führen können.«

Ich atmete schaudernd ein und kämpfte gegen das Zittern im ganzen Körper, das mich befiel, als mir bewusst wurde, wie knapp ich selbst einem schweren Unfall entgangen war.

John Miller sah mich lange ruhig an, dann schien er zu entscheiden, dass ich verstanden hatte. Mich traf keine Schuld. Der Unfall war grausam, doch ich hätte nichts dagegen tun können. Ganz im Gegenteil, es hätte noch viel schlimmer kommen können.

»Trinken Sie in Ruhe Ihren Kaffee aus«, sagte John freundlich. »Ich werde Ihnen ein Taxi rufen. Um Ihren Mietwagen werde ich mich persönlich kümmern, Sie haben bereits genug Scherereien und brauchen Ruhe und keinen verwirrenden Papierkram.«

»D… Danke«, wisperte ich. Er nickte und verschwand.

Als er wiederkam, hatte ich mich etwas beruhigt. Der warme Kaffee tat meiner aufgewühlten Seele gut. Ich war nicht schuld, doch Jack McLean kämpfte ums Überleben. Sein blutüberströmter Kopf tauchte vor mir auf. Das schwarze Loch … Ich schluckte und atmete erneut tief durch. Ich betete inständig, dass er es schaffen würde.

»Wo kann ich erfahren, wie es J… dem Mann geht?«, fragte ich.

John zog einen Zettel hervor und schrieb den Namen eines Krankenhauses und eine Telefonnummer darauf. Er reichte ihn mir. »Erkundigen Sie sich gerne nach seinem Zustand, doch erwarten Sie nicht zu viel, Miss.«

Ich nickte und schluckte trocken. »Wo kann ich Sie erreichen?«, fragte er dann.

»Ich habe ein Cottage gemietet. Etwa eine halbe Stunde von hier. Es heißt Loch Hourn Cottage

John Miller starrte mich an und blinzelte dann hastig. Er wollte etwas sagen, doch überlegte es sich wohl anders. Stattdessen zog er einen zweiten Zettel hervor und kritzelte noch eine Nummer darauf. »Meine Handynummer. Sollten Sie Hilfe brauchen oder noch Fragen haben, zögern Sie nicht, mich anzurufen.«

Verwirrt nahm ich den zweiten Zettel entgegen. Was war mir entgangen? Oder spielten mir meine überforderten Nerven nur einen Streich? Bevor ich mich entscheiden konnte, nachzufragen, hupte es zweimal. John ging ans Fenster und gab ein Zeichen. »Ihr Taxi, Miss Petersen. Folgen Sie mir bitte.«

 

Die Taxifahrt war eine Tortur. Jedes Mal, wenn uns ein Auto entgegenkam, packte mich die Angst erneut. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich begann wieder zu zittern. Meine Hände fest verknotet unterdrückte ich zum gefühlten tausendsten Mal den Impuls, mich an die Beifahrertür zu drängen – so weit weg wie möglich von den vorbeirauschenden Autos entfernt. Ich war wirklich nicht der überängstliche Typ, doch der Schrecken des Unfalls saß tief. So tief, dass ich mir wünschte, nie in das Taxi gestiegen zu sein. Zu Fuß kam man auch voran, oder? Ich sah mich samt Gepäck einsam die Straße entlanggehen. Es dämmerte bereits. Kein sehr verlockender Gedanke. Dennoch, sollte ich den Fahrer bitten, anzuhalten? Ich warf ihm einen verzweifelten Blick zu. Der Mann schien ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein. Er wirkte mürrisch, fast unhöflich. Er hatte die ganze Fahrt über kein Wort gesagt. Es hätte mich vielleicht gestört, wenn ich nicht so sehr um Fassung gekämpft hätte. So war es mir ganz recht. Der Mann wirkte irgendwie angespannt. Oder war ich das? Ich unterdrückte ein Seufzen und erwog erneut, auszusteigen, als sich das nächste Auto rechts an uns vorbeiquetschte. Es fühlte sich für mich zumindest so an. Doch als es zu regnen anfing und wir in einen steinigen Weg einbogen, verwarf ich mein Ansinnen sofort und atmete zitternd ein. Gleich da, das muss die Auffahrt zum Cottage sein. Nur noch ein paar Meter, dann konnte ich raus aus dem beengten Taxi. Ich fühlte mich eingesperrt und ausgeliefert, dabei fuhr ich sonst sehr gern Auto. Ich verzog das Gesicht. Jetzt stell dich nicht so an, Neele. Du bist gleich da, also hör mit der Panikmache auf!

Ich atmete nochmals zitternd durch und straffte den Rücken. Hier konnte mir wirklich nichts mehr passieren. Wir schneckten in Schrittgeschwindigkeit über den holprigen Weg, der sich unter uns entlangschlängelte. Eine lange Auffahrt. Ich runzelte die Stirn und wurde erneut nervös. Doch bevor ich den Fahrer fragen konnte, wo er mich hinfuhr, tauchte ein weiß getünchtes Cottage mit Erkern, zwei Schornsteinen und einem überdachten Vorbau auf. Obwohl es in der einsetzenden Dunkelheit Schatten warf und verlassen wirkte, verliebte ich mich sofort. Es war das gemütlichste Häuschen, das ich je gesehen hatte. Der leicht verwilderte Garten umrahmte das Cottage auf idyllische Weise – Efeu wuchs die Wände hinauf, Rosenbüsche drängten sich an Rhododendren und stritten sich mit Ginster und Farnen um den Platz. Hinter einem halbverfallenen Zaun fiel mein Blick direkt über steile Klippen hinab in den Loch Hourn in eine Bucht. Das Wasser, die umgebenden Hänge, der Himmel, die Wolken am Horizont, alles wurde von der Dämmerung in unzählige Grautöne gezeichnet. Nicht einmal der leichte Regen konnte den überwältigenden Anblick dämpfen.

»Loch Hourn Cottage«, sagte der Taxifahrer und hielt ein ganzes Stück vor dem Häuschen an. »Es ist alles dunkel. Sind Sie sicher, dass Sie erwartet werden?« Der Mann runzelte die Stirn und zögerte, auszusteigen.

»Meine Ankunft hat sich um einige Stunden verschoben«, sagte ich und öffnete die Tür, ohne den Blick von der atemberaubenden Aussicht zu lösen.

»Ich verstehe«, sagte der Mann. »Sie haben einen Schlüssel?«

Ich nickte geistesabwesend. »Stellen Sie mein Gepäck bitte vor der Tür ab«, murmelte ich, stieg aus und atmete die feuchtkalte Luft tief in meine Lungen. Es half, das beklemmende Gefühl loszuwerden, und auch der Druck auf der Brust ließ nach. Ich schloss die Augen und spürte den Nieselregen auf meiner Haut. Anstatt mich vor der Nässe zu schützen, streckte ich mein Gesicht gen Himmel und ließ die raue Schönheit der Natur meine Seele besänftigen. Erst als der Fahrer die Heckklappe mit einem Knall zuwarf, zuckte ich in die Wirklichkeit zurück.

»Ich fahre dann wieder, schönen Urlaub, Miss!«, rief der Taxifahrer. Ein Gedanke fuhr mir siedend heiß durch den Körper. Der Schlüssel! Was, wenn er nicht am vereinbarten Platz lag?

»Warten Sie, bitte!«, rief ich rasch, bevor er die Tür hinter sich zu schlagen konnte. »Ich schau nur schnell, ob ich auch wirklich ins Haus komme!«

Der Mann machte ein finsteres Gesicht, als würde ihm das ganz und gar nicht passen, nickte dann aber und zündete sich eine Zigarette an. Sein Blick huschte wachsam über das Grundstück zum Haus. War er etwa nervös?

So ein Quatsch. Nur weil du mit den Nerven am Ende bist, sind es andere noch lange nicht!

Ich ignorierte den Fahrer und konzentrierte mich stattdessen auf den Schlüssel. Was stand in der E-Mail? Schuppen, rechte Tür, erstes Fenster, alte Dose … Den Schuppen hatte ich schnell ausgemacht. Ich sprintete zur rechten Tür, sie war unverschlossen. Licht? Ich tastete die Wand entlang. Offenbar nicht vorhanden. Zum Glück war es noch nicht stockfinster. Erstes Fenster. Ja, da stand eine verrostete Dose und zu meiner Erleichterung fand ich darinnen auch den Schlüssel. Ich schloss gerade die Schuppentür hinter mir, als ich hörte, wie jemand Gas gab. Mein Herz sackte eine Etage tiefer. Der fährt doch nicht einfach weg? Wie festgewachsen stand ich da, umklammerte den Schlüssel und starrte den sich rasch entfernenden Rücklichtern nach. »Im Ernst?«, murmelte ich. War ich hier im falschen Film? Ich hatte doch nicht einmal gezahlt! Dann kam mir ein erschreckender Gedanke. Mein Gepäck! Ich flitzte um das Haus herum, auf das Schlimmste gefasst, doch dort stand es – mitten im Garten, direkt neben frischen Reifenspuren, die eindeutig zeigten, dass der Taxifahrer es sehr eilig gehabt hatte, davonzukommen. Ich stand da und schüttelte entgeistert den Kopf. Hatte der sie nicht mehr alle? Das war mir zu hoch. Wer brauste denn bitte ohne Bezahlung einfach so davon? Ärger stieg in mir auf. »Idiot!«, zischte ich. »Und das Gepäck hat er auch nicht zur Tür getragen.« Das waren bestimmt noch hundert Meter! Wieso hatte er überhaupt so weit weg geparkt? Ärgerlich stapfte ich durch den zunehmenden Regen zu meinem Gepäck, packte den Koffer mit einer und die Reisetasche mit der anderen Hand und zog alles derbe vor mich hin fluchend Richtung Tür. Etwas Gutes hatte meine Wut darüber, einfach so stehen gelassen zu werden, dann doch. Ich zitterte nicht mehr wie Espenlaub. Die Wut verdrängte die lähmende Angst und die Verletzlichkeit, die in den letzten Stunden so sehr damit gedroht hatten, sich für längere Zeit in mir einzunisten. Ich ließ meinem Ärger freien Lauf und schimpfte rüde vor mich hin, während ich mich abrackerte, das Gepäck und mich durch den aufgeweichten Boden des von Rosenbüschen gesäumten Pfades zur Haustür zu bugsieren. Im überdachten Eingangsbereich ließ ich alles stehen und schnappte nach Luft. Mit meiner Kondition war es auch nicht weit her. Etwas, an dem ich dringend etwas ändern musste. Weiter fluchend – jetzt über meine unzureichende Fitness und die nicht vorhandenen Muskeln – rammte ich den Schlüssel ins Schloss. »Und wenn du jetzt nicht aufgehst, dann schwör ich bei Gott, ich trete dich ein!« Nicht, dass ich eine Chance gehabt hätte. Die weiße Tür bestand aus Vollholz und war wirklich stabil. Hätte sie gekonnt, sie hätte mich vermutlich ausgelacht. Zum Glück musste ich meine Drohung nicht wahr machen. Eine Umdrehung des Schlüssels, ein Klicken und schon stand ich auf der Schwelle zu meinem Traumcottage. Nach kurzem Tasten fand ich den Lichtschalter. Ein warmer Schein erhellte den kleinen Flur und ein Stück des angrenzenden Wohnbereiches. Leider war das Licht das einzig warme. Nachdem ich mich samt Gepäck ins Innere befördert hatte, bemerkte ich den kühlen Untergrund. Ich seufzte. Abends müde und erschöpft im ersehnten Urlaubsdomizil anzukommen, war offenbar nicht zu empfehlen.

Noch in Jacke und Schuhen inspizierte ich die untere Etage und drehte jeden Heizkörper auf, den ich finden konnte. Die zu erwartende Stromrechnung war mir egal, ich fror, obwohl es laut Thermometer in der Küche nicht wirklich kalt war. Die Kälte saß mir tief in den Knochen – eine Nachwirkung des Schocks. Und dann entdeckte ich den Kamin. Jemand hatte Holz darin aufgeschichtet – zum Anzünden bereit. Auf dem Sims über der Brennkammer fand ich sogar Streichhölzer.

»Danke, Mister Rutherfort«, sagte ich, und das erste Lächeln seit vielen Stunden stahl sich auf mein Gesicht. Mr. Finley Rutherfort war der Verwalter des Cottages. Mit ihm hatte ich korrespondiert und die Formalitäten abgewickelt. Er hatte einen sympathischen Eindruck gemacht, zumindest soweit man das per E-Mail beurteilen konnte. Als ich ein Streichholz an das Zeitungspapier unter dem Holz hielt und kurz darauf ein gemütliches Feuer im Kamin prasselte, sammelte er weitere Pluspunkte bei mir. Ich hockte eine halbe Ewigkeit vor dem rasch heiß werdenden Kamin und sog die Wärme in mich auf wie ein ausgetrockneter Schwamm das Wasser. Bis auf das Knistern des Feuers war es ungewohnt still – kein Autolärm, keine schlagenden Türen, keine rufenden Menschen. Ich war das pulsierende Hamburg gewohnt, trotzdem störte mich die Stille nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, es war, als würde sich meine aufgewühlte Seele zur Ruhe legen. Ich war auf einmal so müde, dass mir die Augen im Sitzen zufielen. Kurz bevor ich riskierte, direkt auf dem Boden vor dem Kamin einzuschlafen, rappelte ich mich mit letzter Kraft auf, ließ Jacke und Schuhe einfach fallen und kroch auf dem Sofa unter eine Wolldecke. Ich war mit meinen Kräften am Ende. Es war noch nicht sehr spät. Doch die Ereignisse eines langen Tages holten mich ein und forderten ihren Tribut. Meine Gliedmaßen fühlten sich an, als würden sie Blei statt Blut transportieren. Mein Magen knurrte, doch ich konnte mich nicht überwinden, noch einmal aufzustehen. Es lohnte sich ohnehin nicht, sagte ich mir. Nicht für diesen einzigen Apfel, der noch irgendwo in meiner Reisetasche lag. Ich hatte vorgehabt, auf dem Weg hierher im Ort einzukaufen. Nun hatte ich weder Lebensmittel noch ein Auto. Stattdessen quälten mich die Bilder des Unfalls. Ich sah den roten Sportwagen immer und immer wieder den Abhang hinabstürzen, blickte immer wieder in das blutüberströmte Gesicht des Mannes. Wie es ihm wohl ging? Lebte er überhaupt noch? Mein knurrender Magen zog sich schmerzhaft zusammen, bei dem Gedanken, dass er womöglich bereits tot war. Wie hatte das nur passieren können? Ja gut, ich wusste wie. Dieser Jack, dessen wütendes Gesicht ich nur Sekundenbruchteile ohne Blut gesehen hatte, war viel zu schnell gefahren und hatte die Kurve geschnitten. Doch warum ich? Warum musste unbedingt gerade ich zu dem Zeitpunkt da entlang fahren? Ich war zum ersten Mal in Schottland. Die Wahrscheinlichkeit war doch wohl mehr als gering. Hatte ich nicht schon genug zu bewältigen? Ich war hierhergekommen, um abzuschalten, um aus der gewohnten Umgebung auszubrechen. Als ich das Cottage mietete, hatte ich mich bewusst auf die Suche nach absoluter Ruhe, Natur pur und so wenig Aufregung wie möglich begeben. Und jetzt das! Wieder verknotete sich mein Magen, als sich der Unfall zum x-ten Mal vor meinem geistigen Auge abspielte. Es war, als würde der Tod mich verfolgen …

Vor fünf Jahren starben mein Vater und meine Schwester bei einem Autounfall. Meine Mutter und ich waren am Boden zerstört gewesen. Wir konnten es nicht fassen. Fahrerflucht, doch die junge Frau hatte sich kurz darauf gestellt. Sie war in Panik geraten. Sie nahm die Strafe ohne zu zögern auf sich. Sie war schuld und sie machte sich die größten Vorwürfe. Offenbar war die Frau am Steuer eingenickt – eine Sekunde nur, doch es reichte, um auf die Gegenfahrbahn zu geraten. Sie war nicht zu schnell gewesen, nicht so wie Jack McLean … Trotzdem hatte ihr Fehler an diesem Tag zwei Leben ausgelöscht. Ein Fehler, den ich ihr nicht einmal voller Hass vorwerfen konnte. Nachtschichten waren zermürbend, das wusste ich nur zu gut aus eigener Erfahrung. Auch ich kannte den so gefährlichen Sekundenschlaf am Steuer, wenn man morgens nach der Arbeit völlig erschöpft nach Hause fuhr. Sie war Altenpflegerin gewesen, genau wie ich. Ihr Leben, wie sie es sich erträumt hatte, war zu Ende. Nicht so, wie das meines Vaters und meiner Schwester. Ein Baum nur, sie waren sofort tot gewesen. Die junge Frau würde mit ihrer Schuld leben müssen. Irgendwie. Eine Schuld, die ich heute für einige Stunden geteilt hatte. Stunden voller Selbstvorwürfe, Reue und Wünsche, die Zeit zurückdrehen zu können. Doch so etwas war nicht möglich. Nicht in unserer Welt.

Ich lag auf dem Sofa, knotete meine Hände voller Schmerz ineinander und starrte mit tränenden Augen in das Kaminfeuer. Wenn ich mir schon wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, um das Auto nicht noch einmal über die Böschung stürzen zu sehen, wie musste es dann der Frau gehen? Irene. So hieß sie. Damals gerade einmal neunzehn Jahre alt. Ich hatte nie mit ihr gesprochen. Auch wenn ich ihr rein objektiv gesehen keine Vorwürfe machte – nicht durfte, da ich den Sekundenschlaf am eigenen Leib erfahren hatte –, saß der Schmerz doch zu tief. Wegen ihr starben mein geliebter Vater und meine wundervolle Schwester. Aus dem Leben gerissen, von einer Sekunde auf die andere. Weil Irene gerade dann einschlief, als der Wagen meines Vaters ihren Weg kreuzte. Während ich mit der Zeit mit dem Verlust zu leben lernte, blieb meine Mutter voller Hass zurück. Anstatt loszulassen, klammerte sie sich an den Zorn auf diese Frau, schrieb ihr sogar Hassbriefe, bis ich durch Zufall einen abfing und alle weiteren Versuche unterband, die Frau zu drangsalieren. Ich schrieb Irene einen kurzen Brief und bat für meine Mutter um Entschuldigung. Sie hatte sich nicht einmal gewehrt, nicht die Polizei eingeschaltet. Sie meinte, sie hätte es nicht anders verdient.

Heute hatte ich für kurze Zeit ihren Schmerz geteilt. Und obwohl ich laut Polizei und Zeuge nicht schuldig war, konnte ich mich nicht ganz von der Vorstellung freimachen, dass ich – falls der Mann starb, oder anhaltende Schäden davontragen würde – das Schicksal eines Menschen besiegelt hatte.

Wieder jemanden, den ich nicht retten konnte. Es lag nicht in meiner Hand, trotzdem fühlte ich mich verantwortlich. Ich würde es versuchen, genau wie bei meiner Mutter. Ich würde den Mann besuchen, meine Hilfe anbieten. Ob sie überhaupt erwünscht war? Mein Exfreund Jan nannte mein Bedürfnis zu helfen und mich für alle und jeden verantwortlich zu fühlen abfällig Helfersyndrom. Ich seufzte. Vielleicht hatte er recht. »Nein Neele, bestimmt sogar!«, rief ich mich selbst zur Ordnung. Zumindest teilweise. »Jack ist nicht deine Verantwortung. Hör auf, dich einmischen zu wollen und kümmere dich um deinen eigenen Kram!« Mit mir selbst zu reden war eine schräge Angewohnheit. Auch zu dieser Macke hatte Jan seine ungefragte Meinung abgegeben – auf seine üblich herablassende Art. Aber egal für wie verrückt er mich hielt, Selbstgespräche sind reinigend und rücken die Perspektiven zurecht. Manche führen ihre Zwiegespräche im Stillen, ich bin nun mal der verbale Typ.

Ich war hier, um auszuspannen, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden und auch meine Lebensfreude. Mein Lachen, das früher von Herzen kam. Ich war so müde, nicht nur heute. Fünf Jahre voller Leid, voller energiezehrender Lebensumstände. Erst der Tod meines Vaters und meiner Schwester. Dann der unaufhaltsame Verfall meiner Mutter. Mit dem Tod ihres Mannes starb auch ihre Seele – ihr Körper folgte vor fünf Wochen. Ich pflegte sie bis zu ihrem letzten Atemzug. Jan belächelte mein Helfersyndrom – ich glaube fast alle Menschen in Pflegeberufen können sich nicht ganz davon freisprechen –, und in vielen Situationen hatte er recht. Doch ich bereute keine Sekunde, meine Mutter bis zum Ende begleitet zu haben. Jan hatte kein Verständnis dafür. Als meine Mutter bei uns einzog, zog er aus. Das war vor gut eineinhalb Jahren gewesen. Erst pendelte mein Leben zwischen der Arbeit im Altenheim und der Pflege meiner Mutter zu Hause. Bis ihr Zustand es nicht mehr zuließ, dass ich weiter arbeiten ging. Die Lebensversicherung meines Vaters deckte zum Glück die Kosten, wir waren dadurch soweit finanziell abgesichert. Doch der Berg schrumpfte schnell. Als meine Mutter vor fünf Wochen starb, war ich todunglücklich und erleichtert zugleich. Letzteres brachte natürlich noch mehr Schuldgefühle mit sich. Doch wenn man es knallhart betrachtete, war es so das Beste. Das Geld ging zu Ende, sie hätte in ein Pflegeheim gemusst. Im Grunde vegetierte sie nur noch dahin, ohne einen Funken Lebensenergie. Sie war lebensmüde gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich weiß nicht, wie lange ich die Situation noch ertragen hätte, bevor es mir ähnlich ergangen wäre. Ich war so unglaublich müde, doch ich würde neu anfangen. Ich war stark, ich würde es schaffen. Auch wenn es sich gerade jetzt nicht so anfühlte. Der Unfall war ein herber Schlag in die falsche Richtung. Er wühlte all die Gedanken, Sorgen, Schuldgefühle und die Trauer von Neuem auf, die in den vergangenen Wochen ganz sachte begonnen hatten zu versiegen. Neue Tränen quollen hervor. Ich starrte in das Feuer, das nunmehr fast nur aus Glut bestand. Ich biss die Zähne zusammen. »Nein, Neele, du wirst dich von diesem Unfall nicht unterkriegen lassen! Du wirst dich nach Jack erkundigen, das ist erlaubt. Und dann wirst du hier Urlaub machen, genau wie geplant! Urlaub, hörst du?« Meine gemurmelten Worte verklangen in der Stille des einsamen Cottages in der rauen Natur im Nordwesten Schottlands. Ich fühlte mich, als wäre ich der letzte Mensch auf Erden. Zumindest hört hier keiner deine Selbstgespräche, dachte ich noch, bevor ich letztendlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

Kapitän Jack McLean stand in der Tür zur Küche und beobachtete die Frau, die in sein Reich eingedrungen war. Neele. Das war ein seltsamer Name. Was für eine seltsame Frau. Seit sie das Haus betreten hatte, redete sie mit sich selbst. Nein, eigentlich hatte sie bereits geredet, bevor sie über die Schwelle in sein Cottage eingedrungen war. Obwohl Reden da wohl das falsche Wort war. Sie hatte geflucht wie ein Mann. Derbe Flüche, die Jack erst verblüfft und ihm dann ein Grinsen abgerungen hatten. Eine Frau in Männerhosen, wie es heutzutage offenbar Mode war. Doch derartige Worte aus dem Mund solch einer zarten Person zu hören, das war ungehörig und unpassend. Und dennoch amüsierte es Jack. Neele – zumindest nannte sie sich selbst so – hatte mehr als entgeistert geschaut, als dieser Feigling und Angsthase von Fahrer Hals über Kopf das Weite gesucht und die Frau einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Es hatte gereicht, sich mit einem finsteren Gesicht am Fenster blicken zu lassen, um den Mann in Angst und Schrecken zu versetzen. Jack lebte hier nicht erst seit gestern. Die Menschen in der Gegend mieden das Cottage, ganz zu seiner Zufriedenheit. Lebte. Auch das war wohl ein falsches Wort, in Anbetracht der Tatsache, dass Jack tot war und das schon seit über 270 Jahren. Seitdem saß er hier fest, hier in diesem Cottage auf den Klippen über dem Loch Hourn. Sein Cottage war zu seinem Gefängnis geworden. Jack seufzte. Er musste die Frau loswerden, so schnell wie möglich. Sie war bereits der dritte Besuch innerhalb kurzer Zeit. Erst diese Familie mit Kindern. Jack hatte es nicht übers Herz gebracht, sie zu vergraulen. Nicht Kinder, nicht nachdem, was mit dem kleinen Jamie geschehen war. Zum Glück waren sie nur eine Woche geblieben. Und nur ein einziges Mal fuhr die ganze Familie gemeinsam auf Sightseeing. Sonst blieb immer jemand am Haus. Jack hatte den Eltern ein unwohles Gefühl verpasst. Wiederkommen würden sie bestimmt nicht, zumindest dafür hatte er gesorgt. Dann der junge Mann, ein Ornithologe, im Grunde harmlos mit seinem Vogelfimmel. Doch für Jack bedeutete jeder Besuch Schmerz. Körperlicher Schmerz. So seltsam es klang, da er nunmehr aus Energie bestand. Oder so ähnlich. Jack verstand nicht ganz, wie seine Anwesenheit im körperlosen Zustand funktionierte. Seine Seele war hier gefangen, soweit erfasste er das Drama. Was er aber nach so langer Zeit ganz genau wusste, war, dass sein Geist in diesem Cottage erschien, sobald ein Sterblicher sich auf etwa hundert Meter näherte. Etwas, das nach all den Jahren eine lähmende Langeweile und Frustration mit sich brachte – besonders, da er selbst im Cottage festsaß, während andere kamen und gingen, wohin sie wollten. Jack war es leid, anderen beim Leben zuzusehen. Dies war sein Cottage, sein Zuhause, er hatte das Haus mit seinen eigenen Händen gebaut. Zu sehen, mitzuerleben, wie fremde Menschen in seinen vier Wänden hausten, sich über mangelnde Bequemlichkeiten beschwerten und die Ruhe der Natur störten, das ärgerte Jack maßlos. Wenn ihnen sein Heim nicht passte, sollten sie fortbleiben. Stattdessen hatten Arbeiter renoviert, die alte Küche fast gänzlich herausgerissen und moderne Geräte mit seltsamen Funktionen eingebaut, die Jack fast wie Magie vorkamen. Es gab jetzt sogar eine Toilette im Haus! Wie überaus geschmacklos. Wer um Himmels willen fand es hygienisch, seine eigene Hütte zu beschmutzen? Widerwärtig! All das hätte schon ausgereicht – nur die Langeweile nach 270 Jahren, nur die Frustration, nicht über sein Leben (Pardon, seinen Tod) bestimmen zu können. All das hätte ausgereicht, jeden Geist zu verärgern. Doch das war noch lange nicht alles. Wenn jemand im oder am Haus war, war auch Jack nicht dort. Wo genau er sich dann befand, konnte er nicht sagen, nur dass es sich anfühlte wie ein endlos langer Traum, als würde er schweben – abwartend, schwerelos. Die Zeit verging wie im Flug. Oder sie war eher gar nicht messbar, nicht greifbar. Noch weniger als in der Wirklichkeit. Es war wie ein langer Schlaf, aus dem er herausgerissen wurde, sobald jemand seine Ruhe störte. Zurückgezerrt, zurückgeschossen. Zurück in die reale Welt, im wahrsten Sinne des Wortes geschossen.

Die erste Kugel riss ein Loch in seine Schulter, zersplitterte das Schlüsselbein und warf ihn mit der Wucht eines Huftrittes rückwärts an die Wand. Der zweite Schuss zerfetzte seinen Magen. Die Schmerzen waren unerträglich, der Verrat brannte umso mehr. Wegen Habgier ermordet. Sowohl die Kugeln als auch diese bittere Erkenntnis trafen Jack jedes Mal aufs Neue, wenn er aus dem Niemandsland in sein Cottage zurückgerufen wurde, indem sein eigener Bruder, sein Fleisch und Blut, ihm vor 270 Jahren kaltblütig seine Zukunft nahm.

Jack schüttelte den immer wiederkehrenden Schmerz ab, runzelte die Stirn und schaute auf die schlafende Frau hinab, die dort vor seinem Kamin auf dem Sofa lag. Sie war ganz anders als all die Frauen, die Jack kennengelernt hatte. Und das waren so einige gewesen auf seinen Reisen als Kapitän der Claire. Sie war lang, fast so groß wie er, doch dabei zart gebaut, fast zerbrechlich. Doch in ihr steckte Kraft. Obwohl ein Schatten über ihr zu liegen schien, ein tief sitzender Kummer.

Jack dachte an ihre derben Flüche zurück und daran, wie sie kurzerhand beide Gepäckstücke hinter sich hergezogen hatte. Jack hatte sie erschrecken wollen, damit sie gleich wieder ging, damit sie gar nicht erst einzog. Er hatte am Fenster gestanden, mit irrem Blick und gezogenem Messer. Bei diesem Trottel von Fahrer hatte es funktioniert, umgehend, mit durchschlagender Wirkung. Er war in dieser lauten Kutsche ohne Pferd davongerauscht, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Jack grinste zufrieden in sich hinein. Was für ein Anblick. Ein wenig Spaß musste sein, ihm war ja sonst nicht viel geblieben. Doch diese Frau hatte wutentbrannt ihr Gepäck hinter sich hergezerrt, dabei den Weg vor sich fixiert und ihrem Zorn auf diesen Mann in einer Tirade freien Lauf gelassen, die sich gewaschen hatte. Seine blutrünstige Erscheinung im Fenster hatte sie einfach übersehen. Jack dagegen war sich ihrer mehr als bewusst geworden. Eine Frau zog in sein Haus. Allein. Eine Frau, die fluchte wie ein Mann. Sie war über das Verhalten dieses Schwächlings entrüstet gewesen, nicht hilflos oder schwach. Und doch hatte sie geweint, bevor sie einschlief. Weshalb? Als sie seinen Namen genannt hatte, war Jack zusammengezuckt. Kurz darauf war ihm natürlich klar geworden, dass sie von jemand anderem sprach. Jack war kein seltener Name, ganz im Gegenteil. Obwohl, wer sagte, dass das in der heutigen Zeit auch noch so war? Jack wusste es nicht, wie auch, er saß hier fest. Was hatte die Frau gesagt? Jack ist nicht deine Verantwortung … War er ihr Liebhaber oder ein Bekannter in Schwierigkeiten? Sie sagte etwas von einem Unfall. War jemand verletzt? Dieser Jack? Hatte sie deshalb geweint? Doch die Schatten über ihr schienen schwerer, tiefer … Jack wurde nicht schlau aus ihr. Er verstand nicht, was in ihr vorging.

»Zum Teufel noch mal! Du musst sie auch nicht verstehen!«, zischte Jack. »Du musst sie nur loswerden!« Nur wenn sie schnell wieder verschwand, für immer, würde er wieder schlafen können. Solange sie blieb – einkaufen ging und wiederkam, die Gegend erkundete und wiederkam –, solange würde Jack jedes Mal, wenn sie sich dem Haus näherte, voller Schmerz erwachen. Zwei Kugeln und die bittere Erkenntnis. Immer wieder, immer aufs Neue, als wäre es das erste Mal.

»Sie muss weg. Und zwar schnell!«, murmelte Jack. Nicht zu fassen, jetzt redete er auch schon mit sich selbst, genau wie diese Frau mit dem seltsamen Namen. Neele. Vermutlich war sie verrückt. Wie kam er überhaupt auf die Idee, dass sie anders wäre, als all die anderen Frauen? Er kannte sie doch gar nicht. Sie war gerade einmal ein paar Stunden hier. Woher kam der unnötige Drang, sie verstehen zu wollen? Hatte ihn einer der letzten Schüsse ins Gehirn getroffen? Verärgert ballte Jack die Fäuste und kniff die Augen unter seinen vollen Augenbrauen zusammen. Mürrisch starrte er sie an. Sie blinzelte im Schlaf und zuckte zusammen. Jack erstarrte. Hatte sie ihn gesehen? Ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Hatte er sie erschreckt? Dann erinnerte er sich, dass er doch genau das wollte – sie aus seinem Cottage vergraulen, damit sie abreiste und nie wiederkam. Genau wie der Mann mit dem Vogelfimmel. Trotzdem war Jack erleichtert, als sie ihre Augen schloss und scheinbar ruhig weiterschlief.

 

Ein blutverschmiertes Gesicht. Der rote Sportwagen. Quietschende Reifen. Duncan packte mich am Ellenbogen. Ich starrte die Böschung hinab – der rote Wagen, ein einziges Wrack. Es ist nicht Ihre Schuld … Duncans besorgtes Gesicht … Das zornige Gesicht des Fahrers – Jack – blutverschmiert. Was hast du getan? Er kam auf mich zu, sein Arm seltsam verrenkt, ein klaffendes Loch im Kopf, humpelnd, drohend, ein dämonisches Grinsen auf den aufgeplatzten Lippen, die rot unterlaufenen Augen stachen wie Dolche in mein Innerstes. Unmengen an dunklem Blut quollen aus dem Loch in seinem Schädel. Er kam näher … und näher … Wie gelähmt starrte ich dem Mann entgegen, der gekommen war, um sich zu rächen, um mich zu holen …

Es ist nicht Ihre Schuld! Das Gesicht von John Miller drängte sich dazwischen. Jack ballte die Fäuste, doch seine grauenhafte Fratze verblasste, wurde zu dem zornigen Gesicht ohne Blut – wütende Blicke hinter dem Steuer …

Ich blinzelte. War ich wach? Das Blut gefror mir in den Adern. Er stand im Türrahmen zur Küche – groß, muskulös, mit schwarzen Haaren, die ihm wirr ins Gesicht fielen. Ein Gesicht mit blitzenden Augen, die mich anstarrten … Doch dann änderte sich der Ausdruck, die ganze Atmosphäre. Besorgnis huschte über die markanten Züge, die bedrohlichen Energien lösten sich auf, als würde ein Wirbel von Licht sie vertreiben. Der Mann, Jack, stand an den Klippen und blickte über den Loch Hourn hinaus in die Ferne. Der Wind zerrte an seinen Haaren und seiner Kleidung, die seltsam altmodisch war. Er trug einen Belted Plaid! Ein Belted Plaid ist der Vorläufer des Kilts. In seiner gesamten Erscheinung wirkte der Mann, als wäre er einer Filmproduktion um achtzehnhundert irgendwas entsprungen. Mir kamen „Rob Roy“, „Highlander“ und „Braveheart“ in den Sinn. Jack stand in seinem grünkarierten Belted Plaid und halblangen schwarzen Haaren einfach nur da und starrte den Loch Hourn entlang Richtung Meer, als würde er auf etwas warten. Sehnsucht lag in seiner Haltung. Sehnsucht und Erwartung.

 

 


Kapitel 3

 

 

Als ich am Morgen erwachte, hing mir das Bild des Mannes an den Klippen in meinem Inneren nach, als hätte es mich durch den Rest der Nacht begleitet. Was für ein Albtraum – zumindest anfangs. Doch dann … Ja, was dann? Ich setzte mich im Sofa auf und stöhnte. Meine Muskeln fühlten sich an, als hätte ich mich die ganze Nacht nicht bewegt, keinen Millimeter. Mein linker Arm kribbelte und ich beugte ihn mehrmals in alle Richtungen, um ihn aufzuwecken. Das Gesicht von Jack ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte von ihm geträumt, die ganze Nacht. Albträume vom Unfall, das war wohl kaum ungewöhnlich nach solch einem traumatischen Erlebnis. Trotzdem, ich runzelte die Stirn, dieses letzte Bild an den Klippen … Es war anders gewesen. Ein anderes Gefühl. Wie aus einer anderen Zeit. Nicht bedrohlich, nicht schuldbeladen, eher sehnsüchtig und … Unerfüllte Erwartung? Wie passte das ins Bild? Ich rieb mir die Stirn und versuchte, meine Träume zu sortieren. Ein Wirrwarr von Schreckensbildern, rot unterlaufene Augen, die nach mir trachteten …

»Hör auf!« Meine eigene Stimme erschrak mich. Die Stille war ich nicht gewohnt. Ich schnaubte verärgert und sah mich im Raum um. Das Feuer war erloschen, alles lag ruhig da. Es war warm, fast stickig. Die Heizung funktionierte jedenfalls wunderbar. Ich stieß die Wolldecke weg und rieb mir die Augen. »Hör auf, daran zu denken, das ändert auch nichts«, murmelte ich leise. »Was gibt es an diesem Traum schon viel zu deuten? Es liegt ja wohl auf der Hand!« Ich machte mir Sorgen und Vorwürfe. Und mein Gehirn verarbeitete das Erlebte während des Schlafes. Ganz genauso wie es sein sollte. Dass es keine Bilder von rosaroten Wattewolken sein würden, das war ja wohl klar. Ich schüttelte die Nachwirkungen der Träume ab und machte mich daran, die Heizkörper zurückzuschrauben. Dann öffnete ich ein Fenster und ließ frische Luft herein. Ein diesiger Morgen begrüßte mich, Regen lag in der Luft. Ich atmete tief ein und schmeckte das Salz des nahen Meeres auf meiner Zunge. Mein Blick schweifte in die Ferne – über den Loch Hourn zum Horizont. Eine raue Schönheit, wenig Bäume, doch saftig grüne Flächen zwischen felsigen Auswüchsen. Mein Geist ging auf Reisen, so fühlte es sich zumindest an. Als ob die Zeit hier stillstand und meine Seele über das weite Land zog – Seite an Seite mit den zahlreichen Wildvögeln, deren Stimmen durch das Tal des Loch Hourn getragen wurden. Mein knurrender Magen holte mich zurück ins Cottage. Es war Zeit, sich den weltlichen Dingen zu widmen.

 

Nach einer ausgiebigen Dusche stand ich mit besagtem einzigen Apfel in der Hand in der Küche und machte eine Bestandsaufnahme. Die wichtigsten Küchengeräte waren vorhanden ebenso Geschirr und andere Notwendigkeiten. Leider keine Lebensmittel, nur eine Dose mit schwarzem Tee. Ich war eher der Kaffeetyp, doch in der Not … Also gut. Frühstück: ein Apfel und eine Tasse schwarzer Tee ohne alles. Hervorragend.

Während ich kaute, überlegte ich, wie ich an Nahrung kam. Ich hatte kein Auto, es waren mindestens fünf, wenn nicht gar zehn Kilometer bis in den nächstgelegenen Ort und ich hatte die Nummer des Taxifahrers nicht. Ich schnaubte. »Als ob ich bei dem Idioten noch mal einsteigen würde«, knurrte ich und biss reichlich aggressiv ein Riesenstück Apfel ab. Ich hatte die Nummer von John Miller. Doch ein Einkauf war nicht gerade ein Notfall. Obwohl ich nach dem Status meines Wagens fragen konnte und auch gleich nach der Adresse für einen neuen Mietwagen.

Ich entschied mich erst einmal dafür, mich im und am Cottage umzuschauen, vielleicht gab es ja ein Fahrrad?

Es gab. Im Schuppen direkt hinter der ersten Tür fand ich gleich vier davon, vermutlich extra für Radtouren der Mieter durch die atemberaubende schottische Landschaft bereitgestellt. Wie war das, ich brauchte dringend mehr Muskeln und Kondition? Hier war meine Chance gleich beides in Angriff zu nehmen. Selbst ist die Frau. Ich kramte Regenzeug – dem Wetter traute ich keinen Meter weit – und eine Karte der Umgebung aus meinem Gepäck, die ich extra vorher ausgedruckt hatte. Dann schloss ich hinter mir ab und schwang mich voller Elan auf den Drahtesel. Uff, wackelige Angelegenheit. Radfahren verlernt man nicht? Na, zumindest kam man aus der Übung. Ich hatte die Pedale nicht mal eine Umdrehung getreten, da lag ich schon im Dreck. Fluchend rappelte ich mich wieder auf und inspizierte den Schaden. Ich sah aus wie ein Ferkel, von oben bis unten mit Schlamm bedeckt. Zumindest war ich nicht nass, ein Hoch auf die Regenkleidung. Meine Flüche gingen in Gegluckse über, als ich mir vorstellte, mich würde jemand beobachten. Diese Einsamkeit hatte wirklich etwas für sich. Kichernd und glucksend ging ich zum Schuppen hinüber, wo ich einen Außenanschluss mit Gartenschlauch gesehen hatte. Ich spülte den gröbsten Matsch von meiner Regenkleidung und blickte an mir hinab. Das sah doch recht passabel aus. Dann wagte ich einen zweiten Versuch, dieses Mal mit weniger Elan, dafür erfolgreich. Nach einigen Metern radelte ich sehr konzentriert den steinigen Weg entlang, fast wie in Kindertagen.

 

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Jack konnte sein Lachen nicht unterdrücken. Nicht einmal die Tatsache, dass er gleich verschwinden würde, nur um in Kürze erneut erschossen zu werden, konnte sein Vergnügen dämpfen. Neele hatte in der seltsamsten Kleidung, die er je gesehen hatte, das Cottage verlassen, nur um mit dem Fahrrad gleich darauf im Matsch zu landen. Ihre derben Flüche drangen bis ins Cottage. Sie war wütend, verständlich. Doch dann überraschte sie Jack ein weiteres Mal. Anstatt hysterisch oder schmollend das Handtuch zu werfen, fing sie an zu lachen. Sie kicherte und gluckste wie ein kleines Kind, spülte den gröbsten Dreck kurzerhand weg und kletterte trotz immer noch schmutziger Kleidung erneut auf das Rad. Wenig ladylike. Vollkommen unpassend für eine Frau der gehobenen Gesellschaft. Oder war sie eine Bürgerliche, vielleicht eine Magd? Wie konnte sie es sich dann leisten, das Cottage zu mieten? Jack hatte durch den Aufenthalt der Familie erfahren, dass sein Cottage an Feriengäste vermietet wurde. Konnten sich heute alle Gesellschaftsschichten so etwas leisten, oder … Jack erstarrte. Jack! Hatte sie etwa von dem Jack gesprochen, diesem nutzlosen Abkömmling seines verräterischen Bruders? Seinem Namensvetter? War Neele Jacks Geliebte? Bevor Jack diesen Gedanken zu Ende verfolgen konnte, überquerte Neele die Hundert-Meter-Grenze um das Cottage, die über sein Schicksal entschied. Jack löste sich in Luft auf, als wäre er niemals da gewesen.

 

 

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Irgendwie hatte ich Radfahren wesentlich weniger anstrengend in Erinnerung. Als ich in den Ort radelte – es kam mir eindeutig eher wie zehn Kilometer als fünf Kilometer vor –, schnaufte ich wie eine Neunzigjährige, meine Muskeln brannten und mein Allerwertester schmerzte. Außerdem hatte ich Schürfwunden an einer Stelle, die ich hier nicht näher definieren möchte. Ich verfluchte den harten Sattel und mein verweichlichtes Fleisch. Als Kind hatte ich nie solche Probleme gehabt. Ich war ganz klar zivilisationsgeschädigt und völlig verwöhnt. Ich seufzte und biss die Zähne zusammen. »Komm schon, Neele, du kannst das. Du brauchst nur ein bisschen Training!« Egal, wie sehr ich mich selbst peppte, mir grauste bereits vor der Rückfahrt.

Im Krämerladen des Örtchens begann ich meine Einkäufe zusammenzusammeln, doch schon bald erkannte ich das nächste Problem. Worin oder womit sollte ich den Berg transportieren? Ich konnte wohl schlecht mit vier Tüten am Lenker zurückfahren.

»Guten Morgen!«, begrüßte ich die ältere Dame an der Kasse und bemühte mich, ihre Lockenwicklerfrisur nicht allzu lange anzustarren. War die rosa Farbe ein Färbeunfall? Für den Fall, dass das Resultat gewollt war, verkniff ich mir einen mitleidigen Kommentar. Stattdessen konzentrierte ich mich auf mein eigenes Problem.

»Sagen Sie, haben Sie vielleicht einen Korb oder Ähnliches im Angebot? Ich bin mit dem Fahrrad da und weiß ehrlich gesagt nicht genau, wie ich das hier alles heil mitnehmen soll …«

Die Frau folgte meinem ausgestreckten Finger zum Schaufenster, wo das Rad lehnte. Dann nahm sie an meinem Einkaufsberg Maß.

»Ach herrje, da haben Sie sich ja was vorgenommen! Sind sie im Urlaub hier?« Ich nickte und lächelte. Mein Englisch war nicht schlecht, doch den fürchterlichen deutschen Akzent konnte ich nicht leugnen.

Sie fuhr sich durch die rosa Locken und zog eine Schnute. Offenbar ihre Art zu überlegen, denn kurz darauf erhellte sich ihr rundliches Gesicht. »Warten Sie einen Moment, my dear. Ich wüsste da was.« Mit diesen Worten verschwand sie im hinteren Teil des Ladens. »James? James!« Ihre schrille Stimme passte zum rosa Lockenkopf. Ich grinste, riss mich aber zusammen, als es hinter mir polterte.

»Ja, Millie?«

Ich drehte mich um und sah mich einem freundlich dreinblickenden älteren Herrn gegenüber. James blinzelte mir spitzbübisch zu und rief: »Millie, Pumpkin! Ich bin hier!«

Eine errötete Millie kam herangerauscht. Die Farbe ihrer Wangen stach sich grauenvoll mit dem rosa Haar. »Du sollst mich in der Öffentlichkeit doch nicht so nennen«, zischte sie ihren Mann an, dann warf sie mir einen entschuldigenden Blick zu. James grinste über beide Ohren und ich hatte Mühe, nicht laut loszulachen.

»25 Jahre Ehe und immer noch keine Manieren«, knurrte Millie, doch ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Dass diese beiden sich nach so langer Zeit noch liebten, das war offensichtlich. Ein warmes Gefühl durchflutete mich.

»Oh ja, der alte Anhänger. Hm, ob der noch Luft hat?«, fragte James, nachdem Millie mein Problem geschildert hatte. »Ich werde gleich mal nachschauen gehen …« Und schon war er weg.

»Ein Fahrradanhänger?«, fragte ich überrascht.

Sie nickte enthusiastisch. »Alt und rostig, doch wenn er Luft hat, ist das Ihre beste Lösung, Lassie.«

Ich wusste, dass Lassie in Schottland die Verniedlichung von Lass war, die Bezeichnung für ein kleines Mädchen. Trotzdem sah ich vor meinem geistigen Auge einen hechelnden Collie mit Helfersyndrom. Hm, irgendwie passend.

»Sie würden ihn mir vermieten?« Das war doch mal eine handfeste Lösung, kein halber Kram.

Millie winkte ab. »Oh, don`t be silly, für so etwas nehmen wir doch kein Geld, Lassie. Sehen Sie es als persönlichen Service. Soll ich die Waren schon abrechnen, oder wollen Sie warten, bis … Oh, da ist er ja schon!«

»Rostig aber gebrauchstauglich«, verkündete James. »Soll ich den Anhänger an Ihrem Fahrrad befestigen?«

»Das wäre wirklich sehr nett! Vielen Dank, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!«, stieß ich hervor.

»Ein Lächeln ist mein bester Lohn«, zwinkerte James, und ich feuerte auf Kommando mein mitreißendstes Lächeln ab.

Millie schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Was für ein Casanova«, schmunzelte sie und begann, meine Waren einzutippen.

»Und wie gefällt es Ihnen bei uns?«, fragte sie.

»Schottland ist wunderschön«, sagte ich. Mein Lächeln erstarb, als ich an den Unfall dachte. Schottland war wunderschön. In den Stunden im Auto vom Flughafen in Glasgow bis hierher hatte ich jeden Meter in mich aufgesogen. Doch dann …

»Ich hoffe, Sie haben ein schönes Zimmer gemietet?« Millie sah kurz von meinen Lebensmitteln auf. Meine Miene erhellte sich, als das Cottage vor meinem geistigen Auge den roten Sportwagen verdrängte.

»Ich habe ein idyllisches Cottage gemietet, es liegt direkt über den Klippen mit Blick auf den Loch Hourn. Vielleicht kennen sie es ja, es heißt Loch Hourn Cottage

Millie hielt inne und wurde blass. Sie starrte mich einige Sekunden an, räusperte sich und zwang sich zu einem Lächeln. »Ein wunderbares Cottage. Und die Lage … einmalig.«

»Aber?«, fragte ich nach. Dieses Mal war ich sicher, dass ich mir den plötzlichen Gefühlswechsel bezüglich des Cottages nicht einbildete. Erst John Miller, dann der Taxifahrer und nun Millie. Was war da faul? Lag es am Cottage oder am Besitzer? Oder was steckte dahinter?

»Kein aber, Lassie. Es ist ein wunderbares Cottage.«

»Das sagten Sie bereits und ich bin ganz ihrer Meinung. Aber bitte Mrs. …«

»Peebles. Millie Peebles«, warf sie rasch ein und fasste sich mit der rechten ans Herz.

»Bitte Mrs. Peebles, Sie sind nicht die Erste, die …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Es scheint, dass der Name des Cottages Reaktionen hervorruft. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«

Millie ließ hörbar die Luft raus und zog ihre Schnute. »Also gut«, entschied sie dann. »Sie würden es früher oder später sowieso erfahren. Die Menschen können das Klatschen nicht lassen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und wenn man es mit heutigen Augen betrachtet, ist die Geschichte um Kapitän Jack McLean vermutlich eine spannende Geistergeschichte, die sogar gespensterverrückte Touristen herlocken könnte. Wäre da nicht die Tatsache, dass alles wahr ist … Lassie? My dear? Geht es Ihnen nicht gut?«

Ich spürte, dass mir sämtliches Blut entwichen war. Jack McLean. Ich saß wieder im Auto, sah das zornige Gesicht des Fahrers, trat auf die Bremse, Reifen quietschen. Dann durchbrach der rote Sportwagen die Leitplanke und verschwand … Eine klaffende Wunde, so viel Blut und er kam auf mich zu – voller Hass …

Jemand packte mich am Ellenbogen, ich zuckte erschrocken zusammen. »Lassie?« Millies besorgtes Gesicht blickte auf mich herab. Wieso saß ich? Wo saß ich? Ich blinzelte.

»Ich … ähm …« Ich schluckte.

»Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen, my dear.«

»Was? Nein … Ich … Jack McLean«, hauchte ich.

»Er war Kapitän und lebte dort vor etwa 270 Jahren. Ein Vorfahre der heutigen McLeans von McLean Castle

»Jack … Der Unfall … Jack McLean…«, stotterte ich. Mensch Neele, reiß dich zusammen! Doch ich war so verwirrt. Der Name hatte den Unfall zurückgeholt, als wäre er gerade erst passiert. Und dann sprach Millie von einem 270 Jahre alten Jack McLean? Ich war überfordert. Millie starrte mich an, dann schlug sie eine Hand vor den Mund. »Oh mein Gott, Kind. Sie sind die Frau, die in Jacks Unfall verwickelt war! Oh, es tut mir so leid. Und Sie wohnen in seinem Cottage …«

Ich zuckte erneut zusammen. Was?

»Kein Wunder, dass sie ganz durcheinander sind! Und dann erzähle ich auch noch von Kapitän McLean!«

»Millie? Was ist hier los?« James' tiefe Stimme dröhnte durch den Laden.

 

Ich umklammerte eine heiße Tasse Kräutertee mit Zucker und Zitrone. Das Aroma beruhigte meine Sinne, genau so, wie Millie es beteuert hatte.

»Wie schön, Sie haben wieder etwas Farbe im Gesicht«, sagte Millie zufrieden und setzte sich zu mir an den Küchentisch. Die Wohnung von Millie und James schloss sich direkt an den kleinen Laden an und war praktisch, aber heimelig eingerichtet. Keine rosa Plüschteppiche oder Spitzendeckchen, keine Porzellanfiguren, was mich fast davon überzeugte, dass Millies Haarfarbe doch ein Färbeunfall war. Bis ich ein Foto von ihr in jüngeren Jahren entdeckte. Die Haarpracht war giftgrün. Okay, offenbar ein Spleen der Lady. Jedem das Seine.

Ich hatte ihr und James von dem Unfall erzählt, die Albträume ließ ich außen vor. Wir waren inzwischen beim Vornamen. »Neele, was für ein … ungewöhnlicher Name.« Da war es wieder, das Wort seltsam hing unausgesprochen in der Luft.

»Ein schöner Name, mir gefällt er«, sagte James.

»Hab ich gesagt, dass er mir nicht gefallen würde?«, fragte Millie herausfordernd.

»Mit keinem Wort, Pumpkin«, grinste James.

Millie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du sollst mich doch nicht so nennen!« Doch es zuckte schon wieder in ihren Mundwinkeln. Ich versteckte mein Lächeln hinter meiner Tasse und nahm einen Schluck. Millie und James waren wirklich drollig. Die meisten Menschen hier waren unglaublich freundlich zu mir gewesen, vor allem in Anbetracht dessen, dass ich in einen Unfall mit einem der ihren verwickelt war. Während ich mit einem Schock davongekommen war, stand es sehr schlecht um Jack McLean. Laut Millie war er noch nicht außer Gefahr, mehr konnte sie mir aber leider auch nicht mitteilen. Ihre Art von Mr. McLean zu sprechen, glich der der anderen. Er wäre selbst schuld, er trüge die Verantwortung. Ich wurde das ganz bestimmte Gefühl nicht los, dass Jack nicht sehr beliebt war. Die Anteilnahme der Menschen hier hielt sich gelinde gesagt in Grenzen. Was hatte er den Leuten getan, um so gering geschätzt zu werden? Ich hielt es für unangebracht, direkt zu fragen, also wählte ich das andere Thema, das mich sehr beschäftigte: das Cottage und ein bestimmter Kapitän Jack McLean, der dort spuken sollte …

»Was hat es mit der Geschichte um diesen Kapitän auf sich?«, fragte ich über meine Tasse hinweg.

»Davon hast du gehört, was?«, brummte James.

Millie rutschte unbequem auf ihrem Stuhl herum. »Ähm … Ich habe es… öh … angedeutet«, rückte sie schließlich mit der Wahrheit heraus.

»Millie! Also wirklich! Musstest du dem Mädchen noch mehr Angst machen?«

Millie ging hochrot in Verteidigungshaltung. »Sie hat gefragt! Sollte sie die unqualifizierten Horrorgeschichten der Leute hier hören oder lieber die Wahrheit von mir?«

»Die Wahrheit«, knurrte James. »Jetzt geht das schon wieder los.« Er verdrehte die Augen und warf mir einen abschätzenden Blick zu. »Du musst verstehen, Lass, dass meine Millie ihn getroffen haben will, den Geist von Kapitän Jack McLean.«

Ich sah überrascht von James zu Millie. Ja gut, sie hatte eindeutig einen Spleen was ihre Haare anging, aber sonst war sie mir ganz vernünftig vorgekommen. Einen Geist gesehen? Hm …

»Ich will ihn nicht getroffen haben, ich habe ihn getroffen«, fuhr Millie ihren Mann verärgert an.

»Also gut, du hast ihn gesehen«, lenkte James ein.

Millie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dann sah sie mich an. »Ich rate dir, dir eine andere Bleibe zu suchen.«

»Millie!«, begann James.

»Wieso? Ist Jack gefährlich?«, hörte ich mich fragen. Im Ernst? Ich erkundigte mich nach dem Temperament eines Geistes? Oh je, jetzt war es so weit, offenbar hatte mein Gehirn doch nach dem Schock des Unfalls Schaden genommen.

»Nein, nicht direkt«, räumte Millie ein. »Doch es gab … Zwischenfälle … Und einer führte zum Tod eines Jugendlichen.«

James schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich glaube ich habe die Ladenglocke gehört«, log er und verkrümelte sich.

»Jemand wurde ermordet?« Ich dachte an das gemütliche Cottage und erschauderte.

»Es gab einen Mord, doch der geschah vor sehr, sehr vielen Jahren. Jamie wurde nicht ermordet, er nahm sich das Leben.« Millie seufzte und schüttelte bei der Erinnerung an zurückliegende Ereignisse traurig den Kopf. »Ich glaube, ich beginne von Anfang an.« Sie musterte mich abschätzend. »Bist du sicher, dass du das alles hören willst? Es ist vielleicht etwas früh, nachdem was gestern geschehen ist.« Sie zögerte.

Ich atmete tief durch und sog den Kräuterduft des Tees ein. Nein, es wurde Zeit, dass ich die Zusammenhänge verstand, die zu den Reaktionen der Menschen hier führten. Ich glaubte nicht an Geister, was auch immer Millie gesehen haben wollte. Doch eine Schilderung der Fakten, oder wie man so etwas auch nennen wollte, würde hoffentlich einiges erklären und die Ereignisse ins rechte Licht rücken, damit ich verstand, was die Menschen hier antrieb. Ob ich mich später im Cottage gruseln würde, damit würde ich mich dann auseinandersetzen, wenn es so weit war. Zur Not würde ich mir im Ort ein Zimmer nehmen. Ich hatte beim Vorbeiradeln gleich zwei Schilder gesehen. Ein Bett zu bekommen schien also mein geringstes Problem.

»Ja bitte, Millie, erzähle mir, was du weißt. Du hast mich vorhin nur kalt erwischt, das ist alles.« Ich lächelte zuversichtlich. Dann schmunzelte ich. »Ich sterbe vor Neugierde zu erfahren, mit wem ich gerade das Cottage teile!«

Millie verzog das Gesicht und schnaufte. »Du würdest dich wundern, Lassie. Mich so zu belächeln.« Sie fuchtelte liebevoll mit ihrem Zeigefinger vor meiner Nase. »Also gut.« Sie goss mir und sich selbst Tee nach, dann erzählte sie mir die Geschichte von Kapitän Jack McLean.

»Er lebte vor etwa 270 Jahren, geboren hier in Schottland in den Highlands. Als zweiter Sohn eines Lairds stand seinem Bruder James das Haupterbe zu – ein Gut von beachtlicher Größe mit gepflegten Ländereien und einem prunkvollen Haus«, begann Millie. »Jack hingegen machte sich auf, um sein eigenes Vermögen zu machen. Als Kapitän der Claire fuhr er zur See, trieb Handel und machte sich einen Namen, der in Übersee gefürchtet war.«

»Er war Pirat?«, fragte ich geradeheraus.

Millie runzelte die Stirn. »Wenn du so willst, ja. Kapitän Jacks Handel lief wohl nicht immer ganz vorschriftsmäßig ab.«

Ich grinste über Millies Unwillen in der Sache. Es war, als würde sie diesen Kerl in Schutz nehmen. Pirat. Wie spannend! Und unheimlich. Dieser Jack war sicher niemand gewesen, dem man in die Quere kommen wollte. Piratengeschichten wurden in Film- und Buchromanzen geradezu verklärt. Denn seien wir mal ehrlich, daran war nicht wirklich etwas romantisch. Diese Kerle waren knallharte Typen, die anderer Leute Schiffe überfielen und für Waren, Gold und was weiß ich nicht alles töteten. Sie nahmen, was ihnen nicht gehörte, und gingen über Leichen. Das war weder damals noch ist es heute romantisch oder ehrenhaft.

»Jack machte ein Vermögen, kaufte das Stück Land, auf dem heute McLean Castle steht, und begann, Loch Hourn Cottage zu bauen, und zwar mit seinen eigenen Händen.«

»Du meinst, dieser Kapitän Jack hat das Cottage tatsächlich selbst gebaut, obwohl er sich Arbeiter hätte leisten können?«, fragte ich ungläubig.

Millie nickte. »Er hatte einige Helfer, doch um das meiste kümmerte er sich selbst. Sein Traum war es, eine Whiskybrennerei zu gründen, um davon ehrenwert zu leben.«

Ein Pirat mit höheren Zielen. Aber dennoch ein Pirat. Millie nickte nachdenklich. Wieder hatte ich das Gefühl, sie würde diesen Vorfahren der McLeans in Schutz nehmen wollen.

»Er baute die Brennerei – sie steht noch heute – und brannte den besten Whisky, den die Gegend je geschmeckt hatte. Und er machte sich auch hier einen Namen.« Millie blickte mich über ihren Tee hinweg an. »Einen guten Namen.«

Ich nickte und schwieg. Wenn sie darüber hinwegsehen wollte, dass sein Geschäft mit Blutgeld erbaut worden war, von mir aus. Der Mann war längst tot und … Nein, nicht vergessen, aber zumindest Vergangenheit.

»Was Jack nicht wusste, war, dass das Gut seines mittlerweile verstorbenen Vaters kurz vor dem Ruin stand. James hatte einige Jahre zuvor geerbt und alles verspielt. Gerade als Jacks Brennerei anfing, richtig gut zu laufen, tauchte James bei ihm auf. Jack begrüßte seinen Bruder mit offenen Armen, er hatte ihn so viele Jahre nicht mehr gesehen. James blieb einige Zeit, schaute sich alles genau an, und entlockte Jack an einem gemeinsamen Saufabend sogar die Geheimrezeptur des außerordentlichen Whiskys. Zumindest dachte er, er hätte das gesamte Rezept. Es war nur so, dass Jack schon sehr betrunken gewesen war. So sehr, dass der wichtigste Herstellungsschritt, der für den ganz speziellen Geschmack verantwortlich war, einfach unter den Tisch fiel. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jack hatte sich selbst unter den Tisch gesoffen, bevor er auch das noch verraten konnte.« Millie schmunzelte in sich hinein. Dann wurde sie wieder ernst. »Am nächsten Tag kam James noch einmal zu Jack ins Cottage. Er zögerte nicht einmal, hob einfach die Waffe und schoss … Er traf Jack einmal in die Schulter und einmal in den Bauch. Während er zusah, wie sein einziger Bruder verblutete, erzählte er ihm seelenruhig, dass das Gut ihres Vaters nun seinen Gläubigern gehören würde. Er dankte Jack für das Whiskyrezept und für sein neues Zuhause. Da James Jacks einziger Verwandter war, erbte er Jacks gesamten Besitz. Jack verblutete grausam, James wurde zu einem reichen Mann. Allerdings nicht durch den Whisky, der schlagartig an Qualität verlor. Nein, er gewann im Spiel. Er gewann sogar das Gut in den Highlands zurück, verspielte es einige Jahre später allerdings wieder. Vorher ließ er aber McLean Castle erbauen. Zum Glück starb er, bevor alles den Bach runterging. Sein Sohn übernahm die Ländereien und baute das Unternehmen aus. Er war ein hervorragender Geschäftsmann. Kein sehr netter Mensch, aber goldene Finger. Etwas, das man von unserem heutigen Jack McLean leider nicht sagen kann. Er ist ein Spieler, genau wie sein Taugenichts von Vorfahr. Zumindest scheint er die Ländereien nicht aufs Spiel zu setzen.« Millie schnaubte. »Ich traue dem Kerl nicht. Er ist ein schlechter Mensch!«

Wow, was für eine heftige Aussage über jemanden, der gerade um sein Leben kämpfte. Ich biss mir auf die Zunge, um keinen wertenden Kommentar abzugeben. Ich hatte kein Recht, über Millie zu richten. Ich kannte die näheren Umstände nicht. Um die plötzliche Spannung im Raum zu überbrücken, fragte ich nach Kapitän Jack. Immerhin hatte Millie behauptet, er würde im Cottage spuken. Davon hatte sie bisher in ihrer Erzählung noch nichts erwähnt. Ich räusperte mich. »Und seit Kapitän Jacks Tod spukt es im Cottage? Wie äußert sich das? Kettenrasseln und Gepolter?« Ich grinste schief und hoffte sie sprang auf den lockeren Ton an.

Millie lachte auf. »Wenn Jack könnte, würde ihm das sicher Spaß machen! Nein, es ist nur sein Geist, der dort umgeht. Aber das reicht, das kann ich dir versichern.«

»Wie soll ich mir das vorstellen?«, fragte ich und runzelte die Stirn.

»Jacks Geist geht dort um und vergrault jeden, der es wagt, dort länger zu bleiben. Die Leute hier wissen davon und halten sich fern. Das Cottage zu verpachten ist unmöglich. Daher hatte Jack auch begonnen, es an ahnungslose Touristen zu vermieten.« Millie sah mich scharf an. »Dein Vormieter ist Hals über Kopf abgereist. Niemand weiß genau weshalb, doch alle reden darüber. Es war Kapitän Jack, der ihn verscheucht hat.«

Ich war nicht überzeugt. Es konnte unzählige Gründe für eine vorzeitige Abreise geben. Krankheit eines nahestehenden Verwandten oder geschäftliche Krisen beispielsweise. Aber ich ließ Millie ihren Glauben. »Und du hast Kapitän Jack tatsächlich gesehen?«, fragte ich stattdessen.

»Oh ja«, nickte Millie nachdrücklich. »Genau wie der kleine Jamie. Er war damals gerade einmal zehn Jahre alt. Er und ein paar Jungs im Dorf – darunter auch Jack – lungerten öfter am Cottage herum. Am besagten Abend sollte es eine Mutprobe geben. Jeder von ihnen sollte mindestens fünfzehn Minuten allein im Cottage ausharren. Jamie war als Erster dran. Da ich später die Einzige war, die ihm glaubte, hat er mir genau erzählt, was geschah.« Millie verzog das Gesicht – es schien fast, als würde es ihr Schmerzen bereiten, darüber zu reden.

»Jamie ging voller Angst in das Cottage. Er war nie ein besonders mutiger Junge gewesen und hoffte, nach dieser Aktion den Respekt der anderen Jungen zu erlangen. Leider kam es anders. Ganz anders.« Sie seufzte. »Jamie hatte gerade einmal die Tür hinter sich geschlossen, da sah er den Geist auch schon. Kapitän Jack saß … nackt im Wohnzimmer, hielt ein riesiges Piratenmesser in der Hand und säuberte sich damit die Fingernägel.

»Nackt?«, fragte ich verblüfft und stellte mir das bildlich vor. Weshalb sollte jemand nackt Leute erschrecken wollen, und dann auch noch Kinder?

Millie lief rot an und starrte auf ihre Hände. »Ja, nackt«, murmelte sie fast verschämt. Na, etwas prüde die Lady, was?

Sie fasste sich wieder. »Laut Jamie sollen seine Augen rot geleuchtet haben … Obwohl ich das bezweifle«, schob sie ein. »Jamie ist jedenfalls Hals über Kopf und hysterisch schreiend aus dem Cottage gestürmt. Seine panische Angst und seine wilde Geschichte lösten genau das Gegenteil von dem aus, was er sich erhofft hatte. Jack und die anderen Jungs lachten ihn aus. Allerdings erst, nachdem sie alle panisch davon gestürmt waren. Keiner der Jungs wagte sich danach zum Cottage, keiner überprüfte Jamies Behauptung. Sie zogen ihn einfach auf, lachten und machten ihre Witze. Jamie galt seitdem als Angsthase, als hysterisch und als Loser. Er litt sehr darunter und zog sich immer weiter zurück. Nur ich glaubte ihm, doch ich … Nun ja, mir glaubt nicht einmal mein eigener Mann.« Sie grinste schief. »Ich gelte als ein wenig …«

Durchgeknallt?, dachte ich.

»… exzentrisch«, vollendete Millie ihren Satz.

Okay, das passte auch. »Niemand glaubte ihm«, sagte ich leise. »Und im Gegensatz zu dir konnte er mit der Schmach nicht leben.«

Millie nickte traurig. Sie tyrannisierten ihn – Jack und seine Freunde. Sie ließen ihn einfach nicht in Ruhe. Mit fünfzehn Jahren erhängte Jamie sich auf dem Dachboden seiner Eltern.«

»Das ist ja furchtbar«, hauchte ich. Der arme Junge. Seine überschießende Fantasie hatte ihm vermutlich im Cottage einen Streich gespielt. Warum er allerdings gerade einen nackten Geist gesehen haben wollte, war mir schleierhaft. Wie auch immer, es war ein traumatisches Erlebnis gewesen. Und Jack und seine Freunde hatten dafür gesorgt, dass er es niemals vergaß. Ich wusste, dass Kinder grausam sein konnten. Es geschah immer wieder, jeden Tag – Mobbing und die verheerenden Folgen. Die Täter dachten meist nicht über die Tragweite ihrer Handlungen nach. Einsicht kam oft erst im Erwachsenenalter, wenn überhaupt. So wie Millie es ausdrückte, war Jack der Anführer der Jungs gewesen. Ein Junge, der sich emporschwang, indem er andere niedermachte. Kein angenehmer Zug, doch Jugendsünden machten jemanden noch lange nicht zu einem schlechten Menschen. Es sei denn, dieser Charakterzug folgte Jack ins Erwachsenenalter. Das Gesicht von Jack, kurz bevor er das Lenkrad herumriss, kam mir in den Sinn. Er war zornig gewesen. Ich fröstelte. Seine Augen hatten mich angeblickt, als wäre ich im Weg, nicht er. War es möglich, dass Jack McLean es gewohnt war, zu herrschen, dass sein Wort und seine Meinung galten? Würde er mich beschuldigen, wenn er überlebte? Ich schluckte. Und ich mietete auch noch sein Cottage. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Diese Vorstellung machte mir wesentlich mehr Angst, als der potenzielle Geist von Kapitän Jack. Vielleicht war es ohnehin besser, sich ein Zimmer zu nehmen?

»Du siehst, das Cottage hat so seine Geschichte«, sagte Millie. »Lass es dir gesagt sein, Kapitän Jacks Geist ist dort, ich habe ihn selbst gesehen. Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, das hat Jamies Schicksal gezeigt …« Sie musterte mich. »Es gibt hübsche Zimmer im Ort zu mieten. Ein Anruf genügt …«

»Millie! Jetzt reicht es aber!«

Ich wusste nicht, wann James zurückgekommen war, vielleicht gerade eben erst, doch er sah seine Frau warnend an. »Ich kann verstehen, wenn Neele nicht im Cottage von Jack wohnen möchte, nachdem was gestern geschehen ist, doch Jamie und sein Geist …« Er warf die Hände in die Höhe.

Millie verengte die Augen. »Red du nur, ich weiß, was ich gesehen habe. Aber es soll mir egal sein, weshalb sie auszieht, Hauptsache sie tut es!«

Ich hob erstaunt die Augenbrauen. Nanu, was ging denn nun ab? Hauptsache ich suchte mir etwas anderes? War sie wirklich nur besorgt um mein Wohlergehen, oder steckte da noch etwas anderes dahinter? Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Als ob sie etwas verschweigen würde …

James schüttelte nur den Kopf und wandte sich mir zu. »Ich habe deine Einkäufe in den Anhänger geladen. Falls du eine andere Bleibe suchst, sind wir für dich da. Ich traue Jack nicht über den Weg. Wer weiß, was er sich einfallen lässt, obwohl John sagte, dass der Unfall eindeutig sein eigener Fehler war. Aber lass dir das Cottage nicht aus den falschen Gründen madig machen.« Er warf Millie noch einen warnenden Blick zu. Sie verschränkte die Arme und kniff die Lippen zusammen. Herrje, jetzt hatte ich auch noch einen Ehestreit ausgelöst. Sollte ich hier etwa jedem Schaden zufügen, der mir über den Weg lief?

»Keine Sorge, James«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich komme schon klar. Vielen Dank für die Einkäufe und den Anhänger, das ist so lieb von euch.« Ich sah beide lächelnd an. »Und Millie, ich danke dir für deine Offenheit, ich weiß das zu schätzen. Ich werde mir überlegen, was ich mache und vorsichtig sein.«

Millies Gesichtsausdruck entspannte sich.

»Und ich darf euch wirklich nichts für den Anhänger bezahlen?«

James lachte los. »Für diesen rostigen Haufen? Nein, nein, wir sind froh, helfen zu können.«

»Der Kunde ist König, was?«, scherzte ich.

»Wenn nicht sogar Kaiser«, grinste James. Millie folgte James und mir zurück in den Laden und zur Tür. Ich drehte mich noch einmal zu ihr um. »Und danke für den leckeren Tee. Die Kräuter haben Wunder gewirkt.«

»Ein Beruhigungstee«, nickte sie. Dann drückte sie mir einen Zettel in die Hand. »Meine Telefonnummer. Ruf mich an, Lassie, wenn du etwas brauchst. Wir müssen doch zusammenhalten.«

»Das mach ich«, versprach ich und steckte den Zettel in die Hosentasche. Das war schon das zweite Mal seit gestern, dass mir jemand einen Zettel zusteckte. Wenn das so weiterging, hatte ich bald die Telefonnummern von jedem Einzelnen hier in der Gegend.

Als ich mich zurück in den Sattel schwang, protestierte mein Hintern ganz gewaltig. War das Polster etwa geschrumpft? Meine Sitzknochen schrien förmlich nach einem weichen Sofa. Ich trat in die Pedale und stöhnte. Morgen würde ich mich als Allererstes um einen neuen Mietwagen kümmern. Schlechte Kondition hin oder her, das hier war die reinste Tortur. Um in Form zu kommen, musste es auch einen sanfteren Weg geben. Trotzdem war ich James und Millie dankbar. Meine Einkäufe folgten mir ruckelnd und schaukelnd im Anhänger. Was für ein seltsames Gefühl, einen Anhänger am Rad zu haben. Seltsam, aber zweckdienlich.

Etwa ab der Hälfte der Strecke fing es an zu regnen. Na toll.

 

 

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Der Schuss traf Jack so unerwartet, dass er den Schmerz erst gar nicht bemerkte. Er wurde rückwärts gegen die Wand geschleudert und starrte ungläubig auf die Waffe in James' Hand. Der zweite Schuss zerfetzte seinen Magen. Unerträgliche Schmerzen brannten sich durch Jacks Eingeweide. Kalter Schweiß lief ihm in Strömen hinab, er keuchte und rang nach Luft. »Warum?«, brachte er unter heftigen Zuckungen hervor. Der nonchalante Blick seines Bruders stach tief in sein Herz.

»Ich brauche Geld. Viel Geld.« James zuckte mit den Schultern und senkte die Waffe. Er begann eine lange Erklärung über Spielschulden und Gläubiger. Er dankte Jack grinsend für das Geheimrezept seines hochgelobten Whiskys. Jack konnte es nicht fassen. Ungläubigkeit wechselte zu Bitterkeit. Der Schmerz des Verrats ließ die Schmerzen seiner Wunden kurz verblassen, bevor sie mit voller Wucht erneut zuschlugen. Jack wand sich am Boden, das Gesicht zu einer grotesken Maske verzerrt, während James ihm in aller Ruhe beim Sterben zusah. Ein seltsamer Gedanke formte sich in Jacks Kopf. Das hier kommt mir so bekannt vor … Was zum Teufel?

Als er seinen letzten röchelnden Atemzug tat und der Schmerz endlich Erbarmen hatte, wusste er es: Dies hier geschah nicht zum ersten Mal. Und ganz sicher auch nicht zum letzten Mal. Verflucht! Womit hatte er das verdient? Sollte das Elend bis in alle Ewigkeit fortdauern? Wieso er und nicht das habgierige Stück Dreck, das sich sein Bruder nannte? Fluchend durchquerte Jack das Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Wer zum Teufel hatte ihn dieses Mal durch die Hölle geschickt?

Als er die junge Frau sah, die hochrot im Gesicht und schnaufend wie ein Walross ein Fahrrad mit Anhänger den matschigen Weg zur Tür schob, erinnerte er sich wieder. Richtig, die Touristin mit dem derben Mundwerk. Moment mal! War sie nicht die Geliebte seines Namensvetters? Er starrte Neele skeptisch an – ihr seltsames Outfit immer noch schmutzig, das vor Anstrengung rote Gesicht, die braunen Haare, die ihr im Gesicht klebten. Sie passte nicht wirklich ins Bild. Über die Jahre hatte Jack so einiges zu hören bekommen. Mehr als ihm lieb war. Sämtliche Abkömmlinge seines Abschaums von Bruders hatten, was Frauen anging, denselben Geschmack – reich, sexy Rundungen, dümmlich und noch mal reich. Sein Namensvetter sollte, was das anging, seiner Ahnenlinie treu geblieben sein. Doch was wusste Jack schon. Vielleicht benahmen sich in Geld schwimmende adelige Frauen heute wie gewöhnliche Bäuerinnen? Sie trugen ja auch seit Jahren Männerhosen, da war der Schritt zum Gewöhnlichen nicht weit. Nicht, dass es Jack stören würde. Er hatte schon immer echte Ware vorgezogen. Eine Magd wärmte das Bett genauso gut wie eine Prinzessin. Hauptsache sie war ehrlich und hingebungsvoll. Es gab da einmal eine Kleine in Singapur. Jack lächelte bei der Erinnerung an das Mädchen. »Spiel mir nichts vor, dann spiel ich dir auch nichts vor«, hatte sie gesagt. Der Beginn einer wunderbaren Zeit, kurz aber intensiv, beide waren sich einig gewesen. Sie verstanden einander, waren aus demselben Holz geschnitzt. Jack hatte ihr sogar vorgeschlagen, mit auf sein Schiff zu kommen. Ja, er hätte sie mitgenommen, egal was seine Familie davon gehalten hätte. Doch die See war nichts für ihren Magen. Nicht einmal zehn Minuten und sie hing wie ein Leichentuch über der Reling. Als Jack das nächste Mal im Hafen anlegte, war sie verheiratet und glückliche Mutter eines kleinen Balgs gewesen. Er hatte sich für sie gefreut. Sie waren Seelenverwandte, doch die große Liebe war es für beide nie gewesen. Jack wusste nicht, ob es so etwas wie die wahre Liebe überhaupt gab. Freundschaft, Respekt, ja, das kannte er und hatte es mehrfach erlebt. Verlangen. Doch Liebe? Für jemanden sterben wollen?

Apropos Sterben. Jack runzelte die Stirn. Er hatte schon seit sehr langer Zeit genug vom Sterben. Im Klartext: Die Frau musste weg, am besten noch heute. Leider war das nicht machbar, denn obwohl Jack auch tagsüber anwesend war, konnte er nur nachts spuken. Nur ab Einbruch der Dämmerung bis zum Morgengrauen konnten die Sterblichen seinen Geist sehen. Er wusste nicht warum. Klischeehaft, aber wahr, geistern ging nur nachts. Also musste er bis heute Abend warten und hoffen, dass diese Neele heute nicht noch einmal vorhatte, irgendwohin zu radeln, um sie dann hoffentlich morgen zum letzten Mal gesehen zu haben – und zwar von hinten. Hm, hinten. Jack erwischte sich dabei, wie er ihr aufs Hinterteil starrte. Neele hatte es samt Einkäufe in den Flur geschafft und schälte sich gerade aus ihrer nassen, seltsamen Kleidung. Dabei reckte sie ihm unwissend keck ihren prallen Hintern entgegen, während sie vornübergebeugt balancierte, um sowohl Schuhe als auch Hose loszuwerden. Jack schluckte trocken und räusperte sich. Zum Glück trug sie unter der Hose noch eine. Jack dämmerte es, dass es sich um spezielles Regenzeug handeln musste. Seltsamer Stoff, so prasselnd.

Sie blieb am Saum des Hosenbeins hängen, begann wild umherzuhüpfen, im Versuch die Balance zurückzugewinnen, und landete schließlich vornüber mit dem Gesicht an der Wand. »Aua«, maulte sie, holte tief Luft und rieb sich die Nase. Jack konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Schon gar nicht, als sie wieder anfing, mit sich selbst zu reden. »Nicht zu fassen«, stöhnte sie und knetete weiter ihre Nase. »Arbeitet denn hier alles gegen mich? Erst lande ich draußen im Dreck, dann tut der Sattel so, als wäre er nicht gepolstert und jetzt das«, schimpfte sie, während sie sich zum zweiten Mal daran machte, sich der Hose zu entledigen. »Verflucht noch eins!«, stieß sie aus, als der Saum einfach nicht abgehen wollte und sie erneut durch den Flur hopste. Letztendlich ließ sie sich auf den Hintern fallen, schrie vor Schmerzen auf – »Verdammter Sattel!« – und strampelte und riss sich in einer Art Wutanfall die verflixten Hosenbeine vom Leib. Jack stand feixend da. »Sie sorgt zumindest für gute Unterhaltung«, lachte er und beschloss, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen, um auch ja nichts zu verpassen. Er hatte ja auch sonst nichts zu tun, als auf den Abend zu warten.

 

 

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Ich lag erschöpft auf dem Rücken und starrte an die Decke. Meine schnaufenden Atemzüge beruhigten sich langsam, während ich zwei Fliegen beobachtete, die über mir surrten. Ich war k.o. und das bereits vormittags. Nun gut, womöglich tat es so einiges dazu, dass ich seit gestern Mittag gerade einmal einen Apfel in den Magen bekommen hatte. Ich rappelte mich also mit wackeligen Beinen auf – die fühlten sich seit der Radtour an, als würden sie die Schwerkraft nicht mehr überwinden wollen – und schleppte mich in die Küche. Dort setzte ich Wasser auf und machte mich daran, die Einkäufe auszupacken. Während ich mir einen Schokoriegel in den Mund stopfte, bereitete ich Spaghetti mit Fertigsoße zu. Ich war noch nie besonders kreativ gewesen, zumindest nicht in der Küche. Hauptsache es ging einfach und schnell. Und ich liebte Nudeln aller Art, davon bekam ich nie genug.

 

Ich schlief mit dem leeren Teller in der Hand auf dem Sofa ein – im Sitzen. Als ich erwachte, fühlte ich mich steif wie ein Brett, meine Beine waren eingeschlafen und ich hatte mir meinen Nacken verrenkt. Wunderbar … Vorsichtig entknotete ich mich, streckte meine ungehorsamen Glieder und sehnte mir ein heißes Bad herbei. Leider gab es nur eine Dusche. Die warmen Strahlen prasselten auf mich ein, bis meine Muskeln sich endlich lockerten. In frischer Kleidung und vom Radlerschweiß befreit beschloss ich, vor dem Dunkelwerden noch die nähere Umgebung zu erkunden. Die Sonne schien, was laut Reiseführer hier in Schottland eine Seltenheit sein sollte – speziell in Küstennähe. Vorher kramte ich allerdings den Zettel mit der Telefonnummer von John Miller hervor. Ich brauchte ein neues Auto und die Telefonnummer eines Taxiunternehmens.

Er war erfreut, von mir zu hören. »Kein Problem, Miss Petersen. Kommen Sie morgen gegen Mittag einfach vorbei. Ich begleite Sie dann zu Fraser and Son. Damit sie einen vernünftigen Preis bekommen.«

Rabatt? Und eine Eskorte? Fühlte er sich irgendwie für mich verantwortlich? Die arme Touristin, die am ersten Tag ihres Urlaubs gleich in einen grausamen Unfall verwickelt wurde? Ich fühlte mich jedenfalls sofort überbehütet und unverdient verwöhnt, oder bevorzugt oder … Eigentlich konnte ich nicht einmal recht sagen, was mir unangenehm war.

»Machen Sie sich doch bitte wegen mir nicht solche Umstände, Mr. Miller. Ich erwarte nicht, dass Sie für mich gleich alles stehen und liegen lassen. Das kann ich Ihnen nicht zumuten.« Ich versuchte, ihm einen Ausweg zu geben, falls er sich nur fälschlich in irgendeiner Verantwortung sah, oder höflich sein wollte.«

»Das sind keine Umstände, Miss Petersen. Und wenn jemandem zu helfen eine Zumutung ist, dann hätte ich eindeutig den falschen Beruf! »

Ich auch, dachte ich. Noch einer mit Helfersyndrom. Laut sagte ich: »Vielen Dank, Mr. Miller. Ich weiß das zu schätzen.« Ich zögerte kurz, dann gab ich mir einen Schubs. »Wissen Sie bereits mehr über Jack McLeans Zustand?« Ich umklammerte mein Handy und betete, dass er noch lebte.

Ich hörte John am anderen Ende tief einatmen. »Jack liegt im Koma. Es sieht wohl nicht gut aus. Sein Kopf hat einiges zu viel abbekommen …«

»Ich verstehe«, brachte ich mit zugeschnürter Kehle hervor. »Danke für die Information. Wir sehen uns dann morgen.«

»Es ist nicht Ihre Schuld«, erinnerte er mich mit erstaunlich sanfter Stimme.

»Ich weiß«, hauchte ich. »Es ist trotzdem ein Menschenleben.« John schwieg.

»Bis morgen dann«, sagte ich.

»Ja, bis morgen«, antwortete er, dann legte ich auf und starrte an die Decke. Die Fliegen surrten immer noch dort herum. Hatten die nichts anderes zu tun? »Was für ein Schlamassel«, seufzte ich und rieb mir die Augen. »Okay, Neele, reiß dich zusammen. Es ist nicht deine Schuld und du kannst es nicht ändern. Tu irgendetwas, damit du auf andere Gedanken kommst!«