Leseprobe zu "Emilie - Traumbegegnungen"

Das Vermächtnis der Lil´Lu -3-

1. Albträume

 

 

 

Ich war eine Träumerin – Träumen gehörte zu meinem Leben, wie für jeden anderen die Luft zum Atmen. Träume können böse sein oder hilfreich. Sie können dich zermürben oder dir helfen, Ereignisse zu verarbeiten. Träume waren ein fundamentaler Teil meines Lebens – und um ehrlich zu sein, ist das auch heute noch so. Träume haben mich geformt, gequält und …

Aber beginnen wir ganz von vorne. Mein Name ist Emilie, ich wurde in drei Wochen achtzehn Jahre alt, war Schülerin am Gymnasium in Ljungby in Südschweden und war – wieder einmal – hundemüde. Ich schlief schlecht. Um genau zu sein, schlief ich miserabel und das schon seit meiner frühen Kindheit. Albträume plagten mich und Schatten verfolgten mich, sobald ich einschlief. Ein und derselbe Traum, seit vielen, vielen Jahren. Ich weiß nicht einmal mehr genau, wann das alles angefangen hat. Für mich war es so etwas wie ein Normalzustand, niemals ruhig durchschlafen zu können. Nacht für Nacht erwachte ich schweißgebadet, zitterte am ganzen Körper und lauschte meinem davonrasenden Herzen. Schatten in der Nacht, ein Windhauch, ein silberglänzendes Messer, der Schrei eines Kindes, eine schlaffe Hand und Blut … So viel Blut … Im Grunde war das alles, was ich sah. Ein Messer, das viele Blut, eine schlaffe Kinderhand und die Schatten – mehr nicht. Man sollte meinen, dass ich mich nach so vielen Jahren daran gewöhnt hätte, doch das Gefühl der Panik, die Kälte, die mich überfiel, raubte mir jedes Mal wieder von neuem die Luft zum Atmen. An mir hatten sich schon einige Psychologen die Zähne ausgebissen – weder Gesprächstherapie noch Hypnose haben irgendetwas bewirkt. Der Traum änderte sich nicht, genauso wenig wie meine Gefühle, die ihn begleiteten. Ich lernte, damit zu leben. Irgendwie. Die neueste Entwicklung war, dass sich mein Unterbewusstsein etwas wirklich Interessantes ausgedacht hatte: Danny – meine Traumfreundin.

Bereits als Kind hatte ich einen imaginären Freund. Meine Eltern empfanden meinen Freund als befremdlich. Gut, viele Kinder hatten imaginäre Freunde, doch ich ging ihnen in meiner Fantasie wohl doch ein wenig zu weit. Meine Urgroßmutter Thekla fand meinen Freund entzückend. Das Problem dabei war nur, dass Uroma Thekla ebenfalls nicht real war. Genau genommen war sie schon real. Uroma Thekla war die Großmutter meines Vaters. Mit dem kleinen aber feinen Haken, dass sie bereits seit vielen Jahren tot war. Und genau das machte meinen Eltern nun wirklich Sorgen. Ihre Tochter hatte nicht nur einen imaginären Freund, nein, sie behauptete auch noch steif und fest, dass Uroma Thekla ihr erlaubt hatte, mit dem Jungen zu spielen.

Ein leichtes Grinsen breitete sich bei der Erinnerung daran über mein Gesicht aus, während ich dem Strom von Schülern durch die Flure Richtung Klassenraum folgte. Meine Freundin Josefin deutete mein Lächeln falsch.

»Emilie!«, rief sie fröhlich und stürmte auf mich zu. Und dann plauderte sie munter drauflos, in der fälschlichen Annahme, ich wäre fit und aufnahmebereit. Immerhin hatte ich lächelnd den Tag begrüßt – ihre Interpretation der Situation. Nun lächelte ich noch breiter. Josefin schaffte es immer wieder, mich trotz zermürbtem Gehirn aus der Reserve zu locken. Ihre überschwängliche, immer fröhliche Art wirkte einfach ansteckend auf mich. Aber sinnerfassend zuzuhören, gelang mir dann doch nicht. Zum Glück war Josefin es gewohnt, von mir eher stumm begleitet zu werden. Hin und wieder ein Hm oder Tatsächlich? reichte ihr vollkommen als Erwiderung.

Ich schwamm im Schülerstrom in den Klassenraum und ließ mich auf meinen Platz fallen. Josefin redete ohne Punkt und Komma, während ich überlegte, wie ich es schaffen sollte, im Unterricht nicht einzuschlafen. Die albtraumfreien Schlafstunden der letzten Nächte konnte ich an einer Hand abzählen. So schlimm war es schon lange nicht mehr gewesen. Und auf Hilfe in Form meiner Traumfreundin hatte ich vergeblich gewartet. Wofür wollte mich mein Unterbewusstsein bestrafen? Weshalb hielt es mir die einzige Möglichkeit vor, ein paar Stunden erholsamen Schlaf zu bekommen?

Seufzend legte ich meinen Kopf auf dem Tisch ab, gähnte hinter vorgehaltener Hand und ließ mich weiter von Josefins guter Laune berieseln. Nach und nach trudelten unsere Mitschüler ein. Simon, ein netter Junge mit haselnussbraunen Augen, schmiss seine Tasche neben mir auf den Tisch.

»Hey, Emmy«, murmelte er und warf einen Blick auf Josefin, die einfach weiterredete. Irgendetwas von Haare färben und misslungenem Versuch. Ich betrachtete ihre Mähne, von der sie mir demonstrativ eine Strähne vor die Nase hielt. Ich wich von meinem üblichen Hm und Tatsächlich ab und sagte: »Wow! Das ist echt ...« Ich suchte nach den richtigen Worten.

»Ich weiß!«, rief Josefin, obwohl ich selbst kaum wusste, was ich hatte sagen wollen.

»Ich hab‘s schon dreimal übergefärbt und es ist immer noch …«

»Wie eine Karotte«, warf Simon hilfreich ein, grinste bis über beide Ohren und kassierte ein herzhaftes Lachen von Josefin. Jedes andere Mädchen hätte dafür nur einen giftigen Blick übrig gehabt.

»Genau!«, lachte Josefin stattdessen. »Ich sah aus wie eine Karotte!«

Schmunzelnd hörte ich ihrer Haarfärbe-Leidensgeschichte zu und schaffte es, zwischendurch ein »Aber jetzt sieht es doch ganz gut aus« anzubringen. Denn das tat es. Ich sah jedenfalls keinen Unterschied zu sonst. Bis auf diese eine Strähne, die immer noch einer Karotte glich. Während ich noch überlegte, ob ich meinen rattenfarbenen Haaren vielleicht auch mal ein wenig Pepp verpassen sollte, wechselte Josefin bereits nahtlos das Thema. Ich verpasste den Anschluss, was wohl nicht weiter wild war, denn der Lehrer betrat das Klassenzimmer, im Kielwasser weitere Mitschüler. Darunter Lovisa und Amanda, die genau wie Simon zu unserer Clique gehörten. Josefins Aufmerksamkeit richtete sich schlagartig auf ihre neuen Opfer.

Obwohl Simon es schaffte, sein übliches »Hey, Isa« vorher anzubringen – er war bis über beide Ohren in Lovisa verknallt, was sie zu seinem Leidwesen nicht gerade stürmisch erwiderte –, strahlte Josefin den beiden entgegen.

»Hallo, ihr zwei. Gerade noch rechtzeitig, was?«, lachte sie vergnügt. »Einen wunderschönen guten Morgen!«

Ich warf Lovisa einen verstehenden Blick zu und verdrehte die Augen. Auch wenn Josefins gute Laune mir ein wenig über meine Müdigkeit hinweg half, so wusste ich doch, dass es Lovisa und den meisten anderen in der Klasse mächtig auf die Nerven ging, so früh am Morgen bereits mit Fröhlichkeit überfallen zu werden. Es wunderte mich, dass Josefin die Klassenfahrt überlebt hatte. Von mindestens fünf Leuten wusste ich, dass sie grimmige Pläne geschmiedet hatten, Josefin klammheimlich um die Ecke zu bringen, um ihrer Guten-Morgen-Laune zu entkommen. Eine der fünf war übrigens Lovisa gewesen.

»Wo ist Filip?«, fragte sie gerade verwundert.

Gute Frage, dachte ich. Amanda ohne Filip? Wie äußerst ungewohnt. Seit die beiden ein Paar waren, waren sie wie siamesische Zwillinge – allerdings merkwürdigerweise an den Lippen zusammengewachsen.

»Er hat verschlafen«, hörte ich Amanda antworten. Der Rest ging in einem Rascheln neben mir unter. Simon hatte sich vorgebeugt, um auch ja kein Fitzelchen von Lovisas Anblick zu verpassen. Ich seufzte leise. Irgendwie tat er mir leid. Unglücklich verliebt zu sein, stellte ich mir richtig grausam vor. Selbst hatte ich das noch nie erlebt, zum Glück. Aber ich war emphatisch genug veranlagt, um mich in die meisten Situationen und Personen hineinversetzen zu können. Ein Segen oder ein Fluch – das kam ganz auf die Sichtweise an.

Ich registrierte, dass Lovisa sich trotz Filips Abwesenheit zu Josefin an den Tisch setzte – ihr Platz, seit Amanda und Filip unzertrennlich waren. Auch wenn Lovisa sehr aufbrausend, temperamentvoll und geradeheraus sein konnte, so besaß sie doch ein gutes Herz, das sie meistens richtig leitete. Sie ließ Josefin nicht links liegen, nur weil Amanda gerade einmal verfügbar war. Als Josefin allerdings, übers ganze Gesicht strahlend, Luft holte, um ihr irgendetwas Wichtiges mitzuteilen, konnte ich förmlich riechen, wie Lovisa es sich fast anders überlegte. Sie war ein absoluter Morgenmuffel, den man gut daran tat, vor der zweiten Stunde nicht anzusprechen. Etwas, das Josefin wohl nie lernen würde, dafür fehlte ihr das Feingefühl. Zum Glück war sie dieser Kumpeltyp, der für jeden Spaß zu haben war und einen niemals im Stich ließ. Das muss auch der Grund gewesen sein, weshalb sie die Klassenfahrt trotz aller Racheschmiedereien heil überlebt hatte.

»Ich bin todmüde«, schnitt Lovisa Josefin die Luft ab, bevor diese überhaupt etwas sagen konnte. Josefin verstand zu meinem Erstaunen und schaute etwas enttäuscht drein. Ich grinste Lovisa belustigt an und gähnte solidarisch. Trotz ihrer offensichtlichen Müdigkeit schmunzelte sie.

Das nächste Opfer kam zur Tür herein und schob dabei einen Berg Bücher vor sich her. Noch einer aus unserer Clique.

»Victor!«, rief Josefin gut gelaunt. So schnell ließ sie sich nicht den Morgen verderben. »Was bringst du uns Schönes?«

»Das, ihr Lieben, ist die neue Lektüre«, informierte uns der Lehrer. »Victor? Verteile du die Bücher! Anna, hilf ihm dabei. Also gut, dann hört einmal gut zu …«

Keine Ahnung, ob die anderen das taten. Meine Gedanken schweiften jedenfalls ab. Die machten keinen großen Unterschied zwischen Josefins Geplapper und dem monotonen Gerede des Lehrers. Ich war einfach zu müde, um dem Unterricht geistig zu folgen. Zumindest schlief ich nicht ein, so wie Lovisa es tat. Dafür war ich dann doch zu pflichtbewusst. Zumindest soweit, dass ich so tat, als wäre ich ganz Ohr. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich das den Lehrern schuldig wäre. Amanda sagte einmal, dass ich zu gut für diese Welt sei. Das sah ich anders. Wäre ich solch eine engelsgleiche Person, würde ich nicht nur so tun, als wäre ich interessiert, sondern wäre es tatsächlich. Soweit reichte mein schlechtes Gewissen den Lehrern gegenüber dann aber doch nicht. Ich fand nur, dass sie mein Desinteresse ja nicht spüren mussten. Lehrer zu sein, stellte ich mir auch nicht ganz einfach vor. Da stand man vorne an der Tafel und gab sein Bestes – oder auch nicht –, um einem Haufen genervter Halbwüchsiger, die gar nicht anwesend sein wollten, etwas beizubringen. Die reinste Sisyphusarbeit!

Ich gähnte hinter vorgehaltener Hand – zum gefühlt millionsten Mal. Was würde ich für ein paar Stunden traumlosen Schlaf geben …

Nur einmal hatte ich seit meiner Kindheit für zehn Tage albtraumlos durchgeschlafen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dabei war es erst diesen Frühling gewesen. Urlaub. Das Wort allein reicht den meisten. Doch ich spreche von einem Urlaub auf den Azoren. Mit meinen Eltern war ich zum Whale-Watching dort gewesen. Es war einfach fantastisch. Ein Erlebnis, das ich niemals vergessen würde. Die Natur, der Ozean, die Wale und Delphine – einfach unbeschreiblich. Doch das Beste an der Zeit auf Pico war, dass ich schlafen konnte. Ich hatte in der ganzen Zeit dort nicht einen Albtraum. Stressfrei, ohne Druck, hatte meine derzeitige Psychologin das Phänomen erklärt und meinen Eltern nahegelegt, mich mindestens einmal im Jahr in den Urlaub zu schicken. Seltsame Theorie, da ich nun wirklich nicht das erste Mal meine Ferien außerhalb von Ljungby verbracht hatte. Mein Vater liebte das Reisen, daher war ich schon auf jedem Kontinent gewesen, bis auf die Antarktis, das soll mein Vater mal ohne uns machen, da waren meine Mutter und ich uns zum ersten Mal in meinem Leben einig gewesen. Und nach dem Spruch der Psychologin waren wir es noch einmal. Das wurde noch zur Gewohnheit.

»Was für ein riesiger Schmarrn«, hatte meine Mutter geknurrt, als ich ihr davon erzählte. Das war zwar nicht exakt der Wortlaut meiner Diagnose »Die versteht von Menschen so viel, wie ein Rhinozeros vom Fliegen«, aber immerhin, der Tenor war der gleiche.

Was nun genau dazu geführt hatte, dass ich mich auf den Azoren tatsächlich erholt hatte, würde ich wohl nie erfahren. Doch es war einfach märchenhaft dort gewesen. Ich konnte die Seele baumeln lassen. Ein Gefühl der Heimat, als wäre ich angekommen, umgab mich dort von der ersten Minute an. Es war merkwürdig, aber dennoch, als wäre es logisch. Als würde ich dorthin gehören.

»Wenn es hilft, dann fliegst du im Herbst einfach wieder hin«, hatte mein Vater gesagt. »Bis dahin hast du den Führerschein, kannst dir einen Leihwagen nehmen und bist unabhängig.«

Keine schlechte Idee. An Geld haperte es uns nicht. Mein Vater war Geschäftsführer einer renommierten Firma. Wir hatten Geld wie Heu. Geld, das meine Mutter freudig mit beiden Händen ausgab. Ich kam da eher nach meinem Vater: bodenständig, genügsam, praktisch veranlagt und vernünftig. Meine Mutter beschrieb man am besten mit einem Wort: exzentrisch. Keine Ahnung, was mein Vater damals an ihr fand. Irgendetwas muss sie haben, das mir entgeht, denn ihre Ehe ist auch heute noch das, was man als intakt bezeichnet. Sie lieben sich immer noch, obwohl es mir schleierhaft ist, wie zwei so unterschiedliche Menschen zueinander finden konnten.

Die Azoren … Meine Gedanken schweifen ab, verloren sich im saftigen Grün der Insel Pico, ich hörte fast das Meer rauschen und fühlte die ständig feuchte Luft in meinen Haaren, meinen Klamotten, auf meiner Haut. In drei Wochen wurde ich achtzehn. Ich sehnte den Tag herbei, wie die Wüste den Regen. Schlafen können!

Als die Albträume gleich am ersten Tag unserer Rückkehr wieder einsetzten, hatte mein Unterbewusstsein aus lauter Verzweiflung Danny erschaffen. So meine Theorie. Ich erzählte niemandem von meiner neuen Traumfreundin. Für die Psychologin wäre es ein gefundenes Fressen, für meine Mutter wäre sie ein Grund zum Seufzen und für meinen Vater ein Grund, sich zu sorgen. Mir half Danny, also wollte ich sie behalten. Deshalb verschwieg ich meine Traumbegegnungen. Dass Danny sich nun schon zwei Nächte hintereinander nicht hatte blicken lassen, beunruhigte mich mehr, als ich wahrhaben wollte. Was, wenn sie nie wiederkam? Was, wenn mein schlechtes Gewissen, sie behalten zu wollen, obwohl ich wusste, dass sie ein Hirngespinst war, dazu geführt hatte, dass ich sie verdrängte? Ich brauchte sie doch. Nur ihr Auftauchen in meinen Träumen stellte die Albträume ab. Danny schob die Schatten einfach beiseite. Nach ihrem Besuch konnte ich traumlos durchschlafen. Ich hatte keine Ahnung, wie und warum es funktionierte, aber das tat es. Wie sagt man so schön? Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Es war mir egal, wie es funktionierte und warum. Ich wollte sie einfach wiederhaben. Ich vermisste sie so sehr, dass …

Simon stieß mich mit dem Fuß an.

»Hey, Träumerin«, flüsterte er. »Du bist gleich dran. Seite sieben.«

Ich sah ihn erschrocken an und blätterte hastig in der neuen Lektüre.

»Hier.« Simon beugte sich vor und tippte mit dem Finger auf die aktuelle Zeile.

»Danke«, wisperte ich. Er nickte nur und betrachtete dann Lovisa. Sie schlief, das Kinn auf den Unterarm gelegt. Ein Schnipsel sauste an mir vorbei und traf sie am Kopf. Keine Reaktion. Simon runzelte die Stirn und warf eine zweite Papierkugel. Immer noch keine Reaktion. Dafür hatte der Lehrer nun aber die schlafende Lovisa entdeckt.

»Lovisa!«, donnerte er reichlich genervt.

Mit einem Ruck fuhr ihr Kopf in die Höhe. Simon seufzte hörbar. Lovisa sah sich verwirrt um. Ich versuchte ihr, mit entsprechenden Gesten mitzuteilen, was Sache war, doch sie war noch nicht wieder ganz in der Realität, das konnte ich an ihrem hektischen Blick erkennen.

»Lovisa. Aha. Sie beehrt uns also doch noch mit ihrer geistigen Anwesenheit«, meinte der Lehrer reichlich angesäuert. »Wenn es dir nicht zu viele Umstände bereitet, dann lies uns doch bitte weiter vor.«

Zum Glück zeigte Josefin ihr, wo es lang ging, und sie las fehlerfrei aus der Lektüre vor. Ich hätte vermutlich reichlich herumgestottert und keinen zusammenhängenden Gedanken fassen können. Ich war da nicht so cool wie Lovisa. Mir wäre das unendlich peinlich gewesen. Froh, nicht beim Träumen erwischt worden zu sein, konzentrierte ich mich den Rest der Stunde auf den Unterricht.

 

Als ich zur nächsten Stunde den Klassenraum betrat, erwartete mich ein Geschenk.

»Englisch fällt aus«, klärte mich Josefin fröhlich auf.

»Dem Himmel sei Dank«, murmelte ich und machte es mir an meinem Platz bequem. Während um mich herum die Mitschüler quasselten, bettete ich meinen Kopf auf meine Unterarme und schloss erleichtert die Augen. Was für ein Segen, sich einfach nur ausruhen zu können. Das Geplapper um mich herum wurde langsam zu einem Einheitsbrei, schien in Watte gepackt zu werden und rückte in weite Ferne. Mein Körper fühlte sich unnatürlich schwer an, und obwohl ich es versuchte, konnte ich meine Augen nicht öffnen.

Ich darf nicht einschlafen, schoss es mir durch den Kopf. Nicht hier, nicht im Klassenraum. Was, wenn ich schreiend aufwachte, wie ich es letzte Nacht getan hatte? Ich hatte den Satz gerade zu Ende gedacht, da zogen die Schatten bereits auf mich zu. Finster wie die Nacht kamen sie näher … und näher. Mit schwarzen Fingern griffen sie nach mir. Ich wollte weglaufen, doch meine Füße schienen am Boden festgewachsen. Ein grausames Zischen – eine Art Geflüster – drang in mein vor Angst gelähmtes Gehirn. Eine silberne Klinge glänzte plötzlich hell auf. Die Panik überrollte mich, ich spürte, wie ich schneller atmete, um Luft rang und meine blankliegenden Nerven bis zum Zerreißen gespannt wurden. Der Atem stockte mir, als sich die Schatten um meinen Hals legten und zudrücken.

Ich wartete – wusste was kommen würde, hatte es seit meiner Kindheit unzählige Male erlebt. Ich zitterte vor Angst, doch ich konnte mich nicht abwenden. Blut! Gleich … Gleich würde es sich vor mir ausbreiten, sich unaufhaltsam auf mich zu bewegen, mich nahezu ertränken … Gleich …

 

»Emilie? Emilie wo bist du?«

Auf einen Schlag änderte sich das Bild und meine Gefühle, die Atmosphäre, einfach alles. Ich badete in einem bräunlichen Licht, mir gegenüber schimmerte es freundlich gelb. Ein leichter Geruch nach Himbeeren lag in der Luft. Die Schatten waren wie weggeblasen. Sie hatte sie vertrieben: Danny – meine Traumfreundin, meine Retterin. Dort, von dem gelben Licht umgeben, stand sie und lächelte mich mit leicht schief gelegtem Kopf an. Ihre hellblonden Haare fielen ihr seitlich über die Schultern, gelbgrüne Augen – einer Katze nicht unähnlich – musterten mich eingehend.

»Du siehst blass aus«, stellte Danny nüchtern fest, während ich versuchte, mein Herz zu beruhigen, das mir immer noch fast aus der Brust zu springen drohte. Mit weit aufgesperrten Augen starrte ich sie an.

»Wieder ein Albtraum, nehme ich an?«

»Wo warst du so lange?«, stieß ich leicht angefressen aus. Hey, immerhin war sie mein Hirngespinst und hatte aufzutauchen, wenn ich sie brauchte. Ich bekam allerdings sofort ein schlechtes Gewissen. Ich wollte sie nicht verärgern oder vergraulen, ich brauchte sie doch. Ja, ich weiß, das klingt sehr schizophren. Vielleicht war ich das auch. Immerhin redete ich mit einer von mir selbst erschaffenen Person, als wäre sie tatsächlich real. Und genauso real schaute Danny mich nun missbilligend an.

»Ich hatte auch so meine Probleme. Die letzten zwei Tage waren nicht gerade ein Zuckerschlecken, kann ich dir sagen. Ich bin auf der Flucht. Die Brüter haben mich gefunden.«

»Oh, nein!«, rief ich erschrocken. Was soll ich sagen? Auch wenn ich im Grunde genommen wusste, dass Danny nicht real war, so ließ mich ihr Schicksal dennoch nicht kalt. Seltsamerweise. Oder auch nicht, denn, um von ihr beschützt zu werden, musste mein Unterbewusstsein sie so real wie möglich gestalten, und dazu gehörte nun einmal eine in sich logische Lebensgeschichte, wenn sie auch noch so fantastisch war. Kurzum: Danny war in ihrem Volk eine der wenigen, die für Nachwuchs sorgen konnten. Oder so ähnlich. Ganz hatte ich das nicht verstanden. Denn andere konnten ebenfalls Kinder bekommen. Jedenfalls hatte ihre spezielle Situation zur Folge, dass sie an ihrem zwanzigsten Geburtstag mit mindestens sechs Männern schlafen musste, um eine genetische Vielfalt zu gewährleisten. Ob sich da wohl meine innerste Neugierde manifestierte, endlich einen Mann so ganz genau kennen zu lernen? Zum Glück hatte ich beschlossen, meine Traumfreundin geheim zu halten. Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, was diverse Psychologen dazu sagen würden …

Nun ja. Danny hielt jedenfalls nichts davon, zu einem Leben als Brutkasten verdonnert zu werden – mein Sinn für Tugend ließ grüßen –, stattdessen war sie untergetaucht und lebte ein Leben außerhalb ihrer Zivilisation.

»Wie haben sie dich gefunden?«, fragte ich besorgt. Mein schrecklicher Albtraum war nur noch ein Schatten seiner selbst, dafür wurde mein Gehirn nun mit den Sorgen und Nöten meiner erfundenen Freundin beschäftigt. Mir war es nur recht, Hauptsache die Schatten waren effektiv vertrieben. Mein Herz raste nicht mehr, und ich spürte, wie langsam Farbe in mein Gesicht zurückkehrte.

Danny ließ sich in ihrem gelben Licht vor mir auf den Boden sinken und schlang ihre langen Beine in den Schneidersitz.

»Ich weiß es nicht. Das ist das Schlimmste daran«, seufzte sie ehrlich bedrückt. Mich erstaunte meine Fantasie immer wieder. Ihre gelbgrünen Katzenaugen schienen in die Ferne zu sehen, als ob sie dort die Lösung entdecken könnten. Womöglich eine Vision in meinem Traum. Ich verdrehte innerlich die Augen über meine seltsamen Anwandlungen und konzentrierte mich auf Danny.

»Sie müssen durch Zufall über meinen Duft gestolpert sein«, vermutete sie.

Ich zog den Himbeergeruch in die Nase. Dannys Duft. Ihr Volk war anders als wir Menschen, in vielerlei Hinsicht. Ich wusste mit Sicherheit noch nicht alles, doch neben der Sache mit den Brütern und dem Sonderstatus einiger Frauen – Aufgabe: viele Kinder gebären –, besaßen sie alle einen individuellen Duft. Den hatten wir Menschen natürlich auch, doch der Unterschied lag darin, dass Dannys Volk, ihren Duft bewusst einsetzen konnte – je nach Bedarf als Paarungsruf, als Jagdwaffe, als Kampfaufforderung oder zur Reviermarkierung. Ich fragte mich, wofür sie ihn eingesetzt hatte, da sie doch genau wusste, dass dieser Duft sie verraten konnte.

»Ich muss nun einmal jagen«, beantwortete Danny meine Überlegung. »Ich komme ganz ohne Fleisch nicht aus. Doch ich hätte nicht gedacht, dass hier oben jemand nach mir suchen, geschweige denn mich erkennen würde.« Sie schüttelte verdrießlich den Kopf. Dann sah sie mich prüfend an.

»Ich werde weiterhin nachts unterwegs sein müssen, um an Nahrung zu kommen, wie in den letzten zwei Nächten. Tagsüber ist es einfach viel zu gefährlich. Jetzt, wo sie eine Spur haben, darf ich nicht riskieren, womöglich gesehen zu werden. Ich habe sie erst einmal abgeschüttelt … Glaube ich …«

Ich hörte nur noch mit halbem Ohr hin. Alles woran ich denken konnte war, dass Danny in nächster Zukunft nachts nicht mehr meine Albträume vertreiben würde. Verdammt! Da hatte ich mir eine Traumfreundin zugelegt, damit sie mich schützte und nun das. Ich verfluchte mein dämliches schlechtes Gewissen, das offenbar nichts davon hielt, sich imaginäre Freunde zu beschaffen. Und weshalb? Doch nur, weil die Gesellschaft so etwas für Erwachsene nicht zuließ. Kinder durften solche Freunde noch haben, doch für mich entsprach das nicht mehr der Norm. Also war es unnormal, ein zu beseitigendes Problem – Zuständigkeit: Psychologen. Verflucht sei die Normalität! Ich brauchte Danny, also würde ich versuchen, tagsüber zu schlafen. Ich würde mein ungutes Gefühl ignorieren und machen, was für mich gut war und nicht, was der Norm entsprach. Jawohl!

Ich sah Danny an, die gerade berichtete, dass sie drei Kaninchen erlegt hatte, was bedeutete, dass sie genug Fleisch für drei Tage hatte und damit ihren Duft erst danach wieder einsetzen musste.

»Das verschafft mir hoffentlich den nötigen Vorsprung, um die Brüter endgültig abzuhängen. Hier oben ist viel Platz.«

Mit hier oben meinte Danny die Hochebene Norwegens.

»Du schaffst das bestimmt. Das ist ein guter Plan«, bestärkte ich Danny in ihrem Vorhaben. Ich versuchte, genervt von mir selbst, das schlechte Gewissen abzuschütteln, das mir jetzt wieder vorhielt, dass ich meiner Freundin nur mit halbem Ohr zugehört hatte, und das mir mitteilte, ich wäre eine schlechte Freundin, da ich mehr an mich dachte, als an sie. Wenn ich nicht schon eine Psychologin hätte, würde ich echt sagen, ich bräuchte eine. Diese Traumfreundinnen-Geschichte half mir zwar, ein wenig Schlaf zu bekommen, doch mein Gehirn hatte definitiv Schwierigkeiten, das Phänomen zu klassifizieren. Obwohl ich eigentlich wusste, dass Danny nur eine Erfindung meiner Fantasie war, so kam mir alles doch so echt vor. Es war seltsam. Fast als wäre Danny greifbar. Als könnte sie jeden Augenblick in Fleisch und Blut vor mir stehen. Und genau dadurch geriet mein emphatisches Radar ins Wanken.

Irgendetwas knackte. Dannys Kopf flog in die Höhe, kurz darauf war sie auch schon auf den Füßen und horchte angespannt. Mein Blut gefror zu Eis, als wäre ich es, die auf der Flucht war.

»Da ist etwas«, wisperte sie. »Ich muss weg!«

»Pass auf dich auf!«, rief ich ihr voller Sorge hinterher. Dann war sie verschwunden. Und mit ihr das friedliche gelbe Licht, dass sie stets umgab.

Ich stand noch eine Weile da und starrte durch meinen bräunlichen Schimmer in die Dunkelheit. Wie es ihr wohl erging, meiner Traumfreundin? Hatten die Brüter sie gefunden? Was würden sie ihr antun? Dann rief ich mich selbst zur Ordnung.

Sie ist ein Hirngespinst! Hör auf, dir ihretwegen Sorgen zu machen und schlaf endlich. Sie existiert, um die Schatten zu vertreiben. Das hat sie getan. Also ist ihre Aufgabe beendet, daher ist sie nun fort.

Beruhigt glitt ich in einen traumlosen Schlaf.

 

 

2. Danny

 

 

 

Ich hatte natürlich nicht sehr lange geschlafen, denn so eine Schulstunde betrug nun einmal nur fünfundvierzig Minuten. Aber immerhin besser als gar nicht. Ich war für jede Minute dankbar.

Nach der Schule trafen Josefin und ich uns mit Amanda in der Stadt, um für eine Fete einzukaufen, die die Clique während meiner mentalen Abwesenheit geplant hatte. Amandas Eltern waren weg, und sie hatte somit sturmfreie Bude. Da Freitag war, musste das natürlich ausgenutzt werden. Also kauften wir jede Menge unnützes Zeug zum Futtern. Für den Alkohol wollten die Jungs sorgen. Ich bestand darauf, neben Cola für Mischungen auch noch Saft zu besorgen. Diese ganzen Blubberbläschen-Getränke waren nichts für meinen Magen, und Alkohol genoss ich nur in ganz geringen Mengen. Betrunken zu sein, wurde meiner Meinung nach arg überbewertet. Ich konnte auch ohne einen Schwips ausgelassen feiern. Meine Müdigkeit machte mir da viel mehr Sorgen. Meinen Vorsatz, tagsüber – also nach der Schule – zu schlafen, verschob ich kurzerhand auf morgen. Eine Fete mit Freunden ließ ich mir dann doch nicht entgehen. Wenn ich lang genug durchhielt, dann konnte ich mich zum frühen Morgen hinlegen. Das passte doch.

Offenbar hatte Lovisa den Nachmittag für ein Schläfchen genutzt. Sie schien kein Problem damit zu haben, einfach uns anderen den Aufwand zu überlassen. Ich musste dringend egoistischer werden. Hätte ich mich nicht verpflichtet gefühlt, bei den Einkäufen zu helfen, hätte ich auch die Gelegenheit nutzen können. Helfen und für andere da zu sein, gehörte aber einfach zu meiner Natur, da konnte ich nicht aus meiner Haut. Vielleicht war ich doch zu gut für diese Welt, zumindest manchmal.

Als wir bepackt wie die Esel bei Amanda ankamen, hörten wir bereits die Stimmen der guten Laune hinter der Haustür lauern.

»Und wo ist Amanda?«, fragte Filip. Der hielt es keine Minute ohne sie aus.

»Hier Liebling!«, zwitscherte seine Angebetete direkt vor mir und stieß mit dem Knie die Tür auf, um seinem Wunsch nach Unzertrennlichkeit nachzukommen. Sie küsste ihn stürmisch, ohne sich darum zu kümmern, dass sie die Tür blockierte. Die Einkaufstüten wurden schwerer und schwerer.

»Mir werden die Arme lahm«, sagte ich genervt und quetschte mich resolut an den siamesischen Lippenzwillingen vorbei.

»Hört das auch mal auf?«, fragte ich, erwartete aber eigentlich keine Antwort. Solange die zwei ein Paar waren, würden wir uns damit abfinden müssen. Ich stellte die Tüten auf den Tisch und streckte erleichtert meine Arme.

»Nee, ich glaube nicht«, grinste Lovisa. Sie musste ihr Schläfchen beendet haben. »Nicht solange niemand Filip erklärt, dass man Lippen nicht aussaugen kann. Da ist nun mal kein Schnaps drin, egal, wie sehr er nuckelt.«

Ich grinste breit. Amanda und Filip ließen sich nicht stören. Simon – der wieder einmal um Lovisa herumschwänzelte – flüsterte ihr irgendetwas zu, woraufhin sie ihn vom Sofa schubste und Reißaus nahm. Sie machte sich über unsere Leckereien her, um sie in Schüsseln zu verteilen. Sie glaubte sicher tatsächlich, dass wir nicht merkten, dass sie mehr am heimlich Futtern, als am Helfen interessiert war. Vergnügt schnappte ich mir die Getränke, um sie kalt zu stellen.

In der Küche fand ich Victor, Johann und Marcus, die dabei waren, selbstgebrannten Schnaps auszupacken.

»Hey, Emmy! Hast du die Cola dabei?«, fragte Victor.

»Japp«, bestätigte ich und reichte ihm gleich eine Flasche. »Die anderen lege ich ins Eisfach.«

Er nickte nur und widmete sich wieder dem Wichtigsten des Abends: Alkohol.

»Saft?«, fragte Marcus und lächelte mich schief an. Mein Herz fing an, schneller zu schlagen. Marcus war erst seit Kurzem auf unserer Schule, unglaublich süß, total mein Typ, mit einem charmanten Lächeln und leider bereits zweiundzwanzig Jahre. Okay, so alt war das nun auch wieder nicht. Ich wurde ja bald achtzehn. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, er spielte in einer anderen Liga als ich. Vermutlich schien er mir deshalb so unerreichbar. Und erwachsen. Aber er war ein netter Kerl. Das auch noch. Ich seufzte innerlich. So einer würde sich nie für ein Küken wie mich interessieren.

»Hm«, antwortete ich ausweichend. »Ich stehe nicht so auf Alkohol.«

»Das weiß ich doch. Die liebenswerte, korrekte Emilie. So reif für ihr Alter.« Er zwinkerte mir belustigt zu. Ich knirschte mit den Zähnen. Ich brauchte dringend ein anderes Image, wenn ich bei Jungs wie ihm eine Chance haben wollte. Doch da machte ich mir keine Hoffnungen. Ich war nun einmal wie ich war und musste damit klarkommen.

»Schenkst du mir einen Tanz?« Marcus` Augen glitzerten vor Vergnügen, als er sah, wie mir die Gesichtszüge entgleisten. Einen Tanz schenken? Wo war der denn, auf einem Ball?

Er senkte die Stimme, sodass sie ernst und tief klang. »Du kannst so wunderbar deine Hüften schwingen, da würde ich dir gerne einmal nahe sein.«

Ich starrte ihn sprachlos an und wurde feuerrot. Ja, das war ich. Peinlich. Damit bestätigte ich nur meine unschuldige Ader. Marcus lachte und kam näher. Meine Beine weigerten sich, ihren Dienst zu erfüllen. Wie festgewachsen stand ich da, mein Herz schlug Purzelbäume. Marcus beugte sich zu mir herab – er war mindestens zehn Zentimeter größer als ich – und flüsterte nah an mein Ohr: »Ich zähle auf dich … Und du bist hinreißend, wenn du rot wirst …«

Schlagartig wurde ich noch roter, wenn das überhaupt noch ging, und schnappte nach Luft. Ein leises Lachen, dann hauchte er mir einen Kuss auf die Wange. Mein Herz blieb stehen.

Marcus verschwand aus der Küche, ohne mich noch einmal anzusehen. Wie versteinert sah ich ihm nach – die Saftflasche hielt ich vergessen in meiner Hand.

»Er steht auf dich, das musst du doch bemerkt haben«, meinte Victor, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt.

»Auf mich?«, fiepte ich. Wo war meine Stimme geblieben?

Victor verdrehte die Augen. »Nun mal nicht so überrascht, Emmy. Du hast dich richtig rausgemacht. Makellose Haut, fast schneeweiß und eine gute Figur.« Beim letzten Wort formte er mit seinen Händen Brüste. Johann, der seinen Selbstgebrannten nicht aus den Augen ließ, grinste vielsagend.

»Was?«, quiekte ich und schaute überfordert an mir herab.

»Gewöhn dich daran, Emmy. Du bist zwar keine Modelschönheit, aber du hast das gewisse Etwas.«

»Genau wie du«, raunte Johann Victor zu und kniff ihm in den Allerwertesten. Victor quiekte mir nicht unähnlich und warf mir dann einen seltsamen Blick zu. Er verspannte sich bis in die Haarspitzen.

»Ich …«

Nun war es an mir, die Augen zu verdrehen. »Keine Panik, Victor. Entspann dich wieder. Das weiß ich nicht erst seit heute.« Ich lächelte Johann an, der mich überrascht ansah und dann lachte.

»Ihr seid ein schönes Paar«, sagte ich. »Und lass dir von niemandem etwas anderes einreden, wenn du dich endlich outen willst.« Ich ging zu Victor und drückte dem völlig sprachlosen Kerl einen Kuss auf die Wange. Seine Farbe wechselte von Weiß auf Rot und wieder zurück.

»Wer weiß es noch ...«, stotterte er.

»Niemand, das ist doch klar«, meinte Johann.

Ich nickte nachdrücklich. Da war ich mir sicher. Außer mir ahnte keiner aus der Clique etwas. Ich war so …

»Niemand ist so aufmerksam und einfühlsam wie Emilie. Nicht einmal du«, neckte Johann Victor, der immer noch die Farbe wechselte wie ein Chamäleon.

»Falls es Empathen geben würde, dann käme Emilie dieser Bezeichnung näher als der Rest der Welt, also entspann dich, Victor und bring den Leuten den Schnaps, bevor sie uns noch überfallen.«

Victor sah mich verstört an. Ich sah Johann verstört an. War meine einfühlsame Art schon so ausgeprägt, dass ich meinen Mitmenschen damit auf den Geist ging? Ich sollte wirklich lernen, mehr auf mich zu achten, anstatt ständig den anderen alles recht machen zu wollen …

 

Die Party nahm ihren Lauf. Bekannte und nicht bekannte Gäste tauchten auf, der Alkohol floss in Strömen, alle hatten ihren Spaß und waren schon nach kurzer Zeit so angetrunken, dass die Hemmungen fielen. Auch bei Josefin. Sie goss sich die vierte Mischung hinter die Kiemen und brüllte durch den Raum. »Isa! Prost! Wie geht‘s denn nun mit deiner Geschichte weiter?«

»Oh ja!«, rief ich begeistert. Ich liebte Lovisas Geschichten. Sie war wirklich talentiert, anders konnte man es nicht ausdrücken. Lovisa hatte uns schon mehrfach mit ihrer Fantasie überrascht, und im Gegensatz zu mir, brachte sie ihre Einfälle zu Papier. Etwas, das ich nie könnte. Dafür war ich zu schüchtern oder eher zu sorgenvoll. Denn meine Fantasie war viel zu eng mit meiner Seele verbunden. Es ging ja auch niemanden etwas an, wie verkorkst ich hinter der liebevollen Fassade war. Das war mein Geheimnis. Lovisa dagegen machte sich selten Gedanken darüber, was andere über sie dachten. Sie war spontan und feurig. Genau wie ihre Geschichten. Da ging es sehr spannend zu, oft horrormäßig. Doch dieses Mal schrieb sie an einer mystischen Liebesgeschichte. Etwas an dieser Erzählung fesselte mich derart, dass ich es kaum erwarten konnte, die Fortsetzung zu hören.

»Lies es vor! Ich bin soooo gespannt!«, rief ich daher voller Enthusiasmus. Ich sah gerade noch, wie Josefin etwas aus einer Tasche fischte, die ich sofort als Lovisas identifizierte. Bevor ich sie daran hindern konnte, hüpfte Josefin samt Geschichte und alkoholischem Getränk auf Lovisa zu, der bei dem Anblick ihres Schreibblocks in Josefins Händen der Spaß verging. Verständlich. Niemand durfte sich ungefragt einfach über eine fremde Tasche hermachen – ob nun Freundin oder nicht.

Nach einigem Gedrängel – ich befürchtete schon das Schlimmste –, mischte sich Marcus ein.

Er zwinkerte mir zu und rief: »Alle mal herhören! Isa hat ihre Geschichte weitergeschrieben, und hier gibt‘s ein paar ausgeflippte Fans, die keine Ruhe geben, bis unsere Thriller-Queen ihre neuesten Ergüsse preisgibt!«

Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Würde Lovisa jetzt erst recht explodieren? Zum Glück kapitulierte sie, schnappte sich den Block und begann zu lesen.

 

Svea schwebte zwischen Ohnmacht und Bewusstsein. Sie spürte die kalte Liege unter ihrem Rücken. Ihre Arme und Beine waren mit Riemen festgebunden, sie war so gut wie nackt. Ihre Hose war ihr vom Leib gerissen worden, ihre Bluse hing in Fetzen um ihre Brüste. Sie zitterte am ganzen Körper – vor Kälte, vor Angst und vor Schmerzen. Ihr Arm war gebrochen. Es war passiert, als sie sich wie eine Raubkatze zur Wehr gesetzt hatte – vergebens. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Die Fesseln hielten den geschundenen Arm in einer unvorteilhaften Stellung.

Ein Wimmern kam über ihre Lippen. Dann ein Stöhnen. Svea versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, der Situation Herr zu werden.

Was machte sie hier? Was wollte dieser Kerl von ihr? Es war so still … War sie allein? Svea drehte vorsichtig den Kopf. Ein dumpfes Hämmern an der rechten Schläfe erinnerte sie an den Schlag, der sie in die Ohnmacht geschickt hatte. Sie blinzelte tapfer in die Dunkelheit. Ihre tränenden Augen erfassten eine Gestalt – sie war nicht allein!

Plötzlich erstrahlte der Raum in einem grellen Licht. Die Gestalt nahm Form an. Es war ein Mann. Er trug einen weißen Kittel und wusch sich gerade die Hände. Dann kam er auf Svea zu – das Gesicht hinter einem Mundschutz verborgen, die Augen blitzten sie hart an. Erbarmungslos.

»Wir dulden solch Frevel nicht!«, zischte er unbarmherzig. »Dieser Bastard wird sterben – und Ihr …«, er verzog das Gesicht, sodass Svea trotz Maske sah, dass er hämisch grinste.

»… Eure Hoheit«, sagte er sarkastisch. »Ihr werdet Eure Pflicht erfüllen! Nichts wird unserem Plan in die Quere kommen. Schon gar nicht solch ein dreckiger Nichtsnutz von einem Mann! Sein Samen hat Euch vergiftet. Ich werde den Dorn in Eurem Leib herausreißen und zermalmen, genau, wie ich das Leben dieses Nichtsnutzes zwischen meinen Fingern zerquetscht habe! Wollt Ihr ihn sehen?«

Ein irrer, fast fanatischer Ausdruck loderte in den Augen des Mannes auf.

Sveas Magen knotete sich zusammen. Tomas! Er war hier? Und was meinte der Kerl mit ‚das Leben zerquetschen‘?

Der Mann umrundete ihre Liege und war mit zwei Schritten bei einem Vorhang angekommen, den er in einer herrischen Bewegung zur Seite zerrte. Seine Augen beobachteten Svea lüstern, als sie zu verstehen versuchte – als ihr Blick endlich das Grauen erfasste!

In einer Lache aus Blut lag ein Körper, der bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Fleisch und Haut hingen in Fetzen von den Knochen, nur das Gesicht war unberührt: Leere Augen blickten ihr im Entsetzen erstarrt entgegen – Tomas!

Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie bekam keine Luft, ihr ganzer Körper verkrampfte sich, sodass ihr gebrochener Arm brutal gedehnt wurde. Sveas Augen verdrehten sich in den Höhlen.

Die Stimme des Mannes drang durch das Grauen zu ihr hindurch: »Keine Angst, Prinzessin. Ihr werdet leben. Doch zuerst muss ich die Saat entfernen, die Euch besudelt hat …«

Es pochte in Sveas Schläfen, in ihrem Kopf, in ihrem ganzen Körper. Ihre Sinne drohten unter der Flut von Reizen zu ersticken – Tomas tot! Zerfetzt! Das Fleisch von den Knochen gerissen! Ihr Kind, ihr gemeinsames Kind … Sie musste es schützen! Um jeden Preis!

Dieser Gedanke krallte sich in ihr fest, grub sich mit scharfen Krallen in ihr Gehirn, schien ihre Gehirnmasse zu zerfressen, genau so, wie ihr Geliebter in Fetzen lag. Sveas Augen schnellten zurück, starrten in den Raum hinein, starrten durch den grotesk grinsenden Mann – war er ein Arzt? – hindurch, der mit seinem Chirurgenbesteck hantierte. Ihr Blick weitete sich, der Raum begann, sich zu dehnen, Farben wirbelten umher, jedes Detail, jedes Molekül rauschte in rasender Geschwindigkeit auf sie zu, ein greller Blitz betäubte ihr überlastetes Gehirn. Ein Luftzug – dann wurde es dunkel um sie herum.

Als Svea erwachte, lag sie einsam in einem Waldstück. Der Boden unter ihr war weich und feucht. Ein leichter Wind spielte mit ihren verklebten Haaren, eine Gänsehaut überzog ihren halb nackten Körper. Svea hatte keine Ahnung, wo sie war. Doch eines wusste sie mit seltsamer Gewissheit: Ihr Kind lebte! Tomas würde in dem Baby weiterleben …

 

Lovisas Stimme stockte. Eine Gänsehaut überzog mich. Ihre Geschichten waren so ... echt. Es kam mir so real vor … Aber ich hatte ja auch schon Schwierigkeiten, meine eigene Traumfreundin dort zu halten, wo sie hingehörte, nämlich ins Reich der Fantasie.

»Wann geht‘s weiter?«, fragte Marcus ehrlich interessiert.

Ach so? Aus seinem anfänglichen leicht spöttischen Kommentar war also Respekt geworden? Ungewohnt missmutig beobachtete ich, wie Marcus zu Lovisa ging und mit ihr redete. Da das Fest wieder Fahrt aufgenommen hatte, konnte ich nur ahnen, dass er ihr Komplimente machte. Und womöglich schöne Augen. Ob er jetzt ihr dieses umwerfende Lächeln schenkte? Obwohl Eifersucht noch nie zu meinem Leben gehört hatte, spürte ich einen Stich ins Herz. Alle Männer waren von Lovisa fasziniert. Warum also nicht auch Marcus? Sie war feurig. Mit ihr wurde eine Beziehung bestimmt nie langweilig. Marcus passte zu ihr, das musste ich neidlos zugeben. Trotzdem schmeckte es leicht bitter, ihn so interessiert zu sehen. Nun gut, ich würde mich trotzdem amüsieren. Wer brauchte schon einen Mann dazu? Ich jedenfalls nicht.

 

Kurz darauf tanzte ich ausgelassen mit Josefin. Als Lovisa sich zu uns gesellte, hatte ich das ungute Gefühl bereits abgeschüttelt und ließ mich einfach von der Musik mitreißen. Beim Tanzen war ich das einzige Mal in meinem Leben völlig frei. Frei von Albträumen und quälenden Gedanken, frei von empathischen Eindrücken und frei von Normen. Ich tanzte exzessiv neben Lovisa, die wie immer alles gab und sich in Trance tanzte – genauso wie ich es auch immer tat. Ich entledigte mich auf der Tanzfläche aller Fesseln. Hier war es erlaubt. Ein legaler Rausch – ungefährlich, reinigend, energiebringend.

Josefin heizte die Jungs an. Sie hüpfte um mich herum und präsentierte ihre Brüste, indem sie diese kräftig schüttelte. Das würde ich sicher nie tun. Aber bei ihr störte es mich nicht. Solche Attacken passten zu ihrer fröhlichen, lockeren Art. Niemand nahm es ihr übel oder stempelte sie als Schlampe ab. Alle lachten ausgelassen. Josefin hakte mich ein und begann, mich herum zu schleudern. Dann grölten wir den Refrain mit, rissen Lovisa zu uns und genossen das Leben.

Auf einmal spürte ich Blicke auf mir. Ich wirbelte herum und sah genau in Marcus` Augen, der mich unverhohlen beobachtete. Mich! Wieder lief ich rot an und senkte den Blick. Als Lovisa und Josefin mich freigaben, um sich etwas zu trinken zu besorgen, stieß er sich von der Wand ab und kam auf mich zu. Mir wurde fast übel vor lauter Unsicherheit. Bevor ich fliehen konnte, stand er auch schon vor mir und grinste unverschämt. Er legte den Kopf schief, streckte die Hand aus und fragte doch tatsächlich: »Darf ich bitten?« Nur auf meine Antwort wartete er nicht. Die setzte er aufgrund meines schüchternen Lächelns und noch tieferer Röte wohl einfach voraus. Er schlang seine Arme um meine Taille, zog mich an sich und begann einfach zu tanzen.

Und was machte ich? Mein Gehirn ging in Urlaub. Mein Körper folgte ihm einfach, als wäre es das natürlichste der Welt, mit dem süßesten Kerl der Fete zu tanzen. Ich dankte wem auch immer dafür, dass Marcus nicht mit mir Radfahren, Eislaufen oder einfach nur Spazierengehen wollte, da wäre ich garantiert über das kleinste Staubkorn gestolpert. Tanzen gehörte einfach in eine andere Kategorie. Das war für mich wie träumen, das konnte ich im Schlaf.

Während mein Körper also geschmeidig jeder Bewegung folgte, erwachte mein Gehirn so langsam und nahm ihn war – warm, gut riechend, vor Charme sprühend. Und Marcus sah mich tatsächlich an, als wäre ich begehrenswert. Mein Herz hüpfte vor lauter Aufregung wie verrückt herum, alles kribbelte. Was für ein umwerfendes Gefühl.

»Auf geht‘s! Oder wollt ihr hierbleiben?«, rief jemand. Die Musik verstummte. Marcus hielt mich fest und sah mich an, ich blinzelte. Dann bemerkte ich, dass wir fast alleine waren.

»Wir ziehen durch die Straßen«, informierte uns Johann. »Mal sehen, was im Zentrum so los ist.«

»Na, dann los«, meinte Marcus und zog mich kurzerhand mit sich zur Tür. Ich hatte gerade noch Zeit, mir meine Jacke zu schnappen, dann folgten wir der munteren Gesellschaft auch schon gen Ljungby Zentrum.

Wir Nachzügler schlossen zur Gruppe auf, als diese bereits beschlossen hatte zu versuchen bei Harry´s reinzukommen. Ein Pub. Leider war der Zutritt erst ab achtzehn Jahren.

Ich seufzte. Das war doch typisch. Immer wieder mussten meine alkoholgesteuerten Freunde irgendetwas anstellen.

Marcus schien mein Zögern zu bemerken. »Keine Angst«, sagte er. »Wenn sie dich erwischen, dann bleib ich mit dir draußen. Ich lass dich schon nicht allein.«

Hm. Was sollte ich nun davon halten? Marcus wollte sich wegen mir einen Pub-Abend mit Freunden entgehen lassen? Denn, dass er ins Harry`s kam, daran bestand kein Zweifel. Er war ja nicht minderjährig.

 

Mir wurde es immer mulmiger zu Mute. Der Türsteher – ein Schrank von Mann – kontrollierte stichprobenmäßig die Ausweise. Und dann geschah das Wunder: Ich glitt – innerlich furchtbar nervös – hinter Marcus und Victor ins Innere des Pubs, ganz selbstverständlich, als wäre ich glasklar volljährig. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als Marcus meine Hand nahm und mich zielstrebig weiterzog, damit es sich ja keiner anders überlegen konnte.

»Siehst du? Alles halb so wild«, grinste Marcus mich an und schob mich an den Tresen.

»Jetzt trinkst du aber zur Feier des Tages einen mit mir. Oder lässt sich die korrekte Emilie nicht überreden?«

Ich verzog das Gesicht und nickte widerstrebend. Ich mochte den Alkoholgeschmack einfach nicht. Aber ein Alkopop würde mich schon nicht umbringen.

»Du darfst mir einen Birnen-Cider ausgeben«, sagte ich gönnerhaft und äußerst keck für meine Verhältnisse. Innerlich hoffte ich, dass er Spaß verstand. Tat er.

»So, so«, grinste er. »Sie kann also auch anders.« Dann beugte er sich vor und raunte mir ins Ohr: »Stille Wasser sind tief. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann.«

Eine Gänsehaut überlief mich. Um nicht schon wieder in Verlegenheit zu geraten, deutete ich auf einen freien Tisch.

»Du findest mich dort drüben.« Und schon war ich weg. Ich hörte ihn leise hinter mir lachen. Wohin das wohl führte?

 

Es führte dazu, dass er mich spät in der Nacht nach Hause brachte. Zumindest bis vor meine Haustür. Marcus hatte sich richtig nett um mich bemüht. Es war ein schöner Abend geworden, doch meine ständige Schlaflosigkeit forderte ihren Tribut. Gegen halb zwei Uhr nachts gab ich auf und Marcus bestand darauf, mich nach Hause zu begleiten, da er es nach eigener Ansicht nicht verantworten konnte, dass ich mitten vor einem fahrenden Auto einschlief. Sehr witzig.

Wie dem auch sei, nun standen wir uns fröstelnd gegenüber, denn die Herbstnacht war unangenehm kühl geworden.

»Ja, ich geh dann mal«, murmelte ich und zeigte auf meine Haustür.

Marcus legte den Kopf schief – das tat er oft, und ich fand es richtig süß – und schmunzelte.

»Du willst mich also einfach hier stehen lassen?«, fragte er gespielt enttäuscht. Dann rückte er näher. Da ich schon mit dem Rücken an der Tür stand, konnte ich nicht unauffällig ausweichen. Ein Schauer lief mir über den Körper, der eindeutig nicht mit der kalten Herbstluft zusammenhing. Ich schluckte. Der wollte doch nicht etwa…?

Da fühlte ich seine Lippen auch schon auf meinen. Weich, warm, zärtlich. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Er küsste mich sanft und ich … Nun ja, ich küsste ihn zurück. Es fühlte sich gut an. Ja, ich würde eindeutig sagen, dass es da knisterte. Ich hatte bisher erst zwei Jungs geküsst. Für beide hatte ich geschwärmt, doch so richtig erwischt hatte es mich noch nie. Und jetzt?

Wir atmeten schneller, als wir uns nach einer gefühlten Ewigkeit voneinander lösten. Marcus hielt mich noch in seinen Armen und hauchte mir einen weiteren kurzen Kuss auf den Mund.

»Das war noch besser, als ich es mir vorgestellt hatte«, murmelte er an meine Lippen.

Es zog zuckersüß in meiner Bauchgegend. Davon durfte er mir ruhig noch mehr erzählen. Obwohl ich schon wieder rot anlief, war ich doch nur ein Mädchen, dem ein wenig Bestätigung ganz gut tat, und das sowas gern hörte. Ich war keine Ausnahme.

»Ich will dich treffen und mit dir ausgehen, Emilie.«

Ich lächelte schüchtern. Hatte er das echt gerade gesagt? Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer.

»Dann solltest du mich wohl einladen«, erwiderte ich leise.

Er lachte. »Ich bin diese Woche mit ein paar Kumpels unterwegs. Angelurlaub. Das ist schon lange geplant. Aber danach ...« Er küsste mich kurz.

»Danach habe ich Zeit für dich. Dann will ich dich richtig kennen lernen.«

»Okay«, hauchte ich einfach nur. Was sollte ich sonst sagen? Ich würde es mir nie nehmen lassen, den süßesten Typen der Gegend näher kennen zu lernen. Marcus wollte mich. Mich, die korrekte, liebenswerte Emilie. Hm, was er wohl sagen würde, wenn er meine Geheimnisse kennen würde? Vermutlich würde er mich für verrückt erklären. Von wegen stille Wasser sind tief. Mit schizophrenen Anwandlungen rechnete er bestimmt nicht. Und ich bildete mir auch nicht eine Sekunde ein, dass ihm diese spezielle Seite an mir gefallen würde.

 

Obwohl ich mich mit YouTube-Videos krampfhaft versuchte wachzuhalten, schlief ich irgendwann völlig erschöpft am Computer ein. Die linke Wange auf der Tastatur sabberte ich die Buchstaben H, J und M voll. Das bemerkte ich natürlich erst, als ich schreiend wieder aufwachte.

Schweißgebadet, am ganzen Körper zitternd, versuchte ich, das Bild von Unmengen an Blut und einer kleinen, schlaffen, natürlich blutverschmierten Hand aus meinem Gehirn zu verbannen. Das gelang mir wie immer mehr schlecht als recht. Ich verfluchte Danny. Das war doch wirklich zum Verzweifeln. Wozu ließ ich meine schizophrene Seite zu, wenn sie dann doch nicht zufriedenstellend funktionierte?

Ein Sturm war aufgezogen und rüttelte an meinen Jalousien vor den Fenstern. Es knackte und knarrte im Gebälk unseres Hauses. Der Wind heulte um die Ecke – so richtig geisterstundenmäßig. Ich seufzte und wälzte mich im Bett umher. An Schlafen war nicht mehr zu denken, obwohl mir speiübel war vor Müdigkeit. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich nach dem lähmenden Schrecken des Albtraums soweit beruhigt hatte, dass ich nicht mehr bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Um mein immer noch aufgewühltes Herz zu beruhigen, begann ich tagzuträumen – oder hieß das nachts anders? Ich lenkte mich jedenfalls mit freundlichen Gedanken ab, die sich allesamt um Marcus drehten. Ich stellte mir vor, wie eine Beziehung mit ihm wohl aussehen würde, und fragte mich, ob er wohl derjenige war, der meine Neugierde befriedigen würde. Für heutige Verhältnisse war ich mit meinen fast achtzehn Jahren spät dran – sexuell gesehen. Es hatte aber auch noch nie einen Kerl gegeben, mit dem ich mir das vorstellen konnte.

Ich schaffte es, den Rest der Nacht mit Traumspinnereien zu füllen. Ich schlief, wie üblich nach meinen Albträumen, nicht wieder ein, sondern döste die Stunden vor mich hin. Ruhen war besser als gar nichts.

 

Völlig gerädert und mit dunklen Augenringen kletterte ich am frühen Morgen aus meinem Bett, um den Tag irgendwie zu bewältigen.

Nach einer Schüssel Müsli mit Joghurt beschloss ich, einen langen Spaziergang zu machen, damit ich mit frischer Luft in Lunge und Adern wieder ins Bett kriechen konnte, um hoffentlich Danny zu begegnen, die mir danach albtraumfreie Schlafstunden schenken würde.

Der Sturm hatte nachgelassen, nur ein leichter Wind verwehte mir die Haare. Mir war immer noch grauenhaft übel, das war bei Schlafmangel bei mir normal. Daran änderte auch die frische Luft nichts. Aber nach zwei Stunden Spaziergang im Wald waren nicht nur mein Geist und Körper müde, sondern auch meine Muskeln. Sollte Danny auftauchen, würde es mir helfen, danach erholsam zu schlafen.

Wieder schwappte die Übelkeit durch meinen Körper. Ich atmete die kühle Luft tief ein. Ich brauchte diesen Schlaf so dringend …

 

»Du siehst … grauenhaft aus«, begrüßte mich meine Mutter, als ich frisch durchgepustet zurück ins Haus kam. Ich verdrehte die Augen. Ach nee, dachte ich.

»Ich leg mich gleich noch einmal hin«, murmelte ich und wollte sofort in mein Zimmer verschwinden.

»Hast du schon was gegessen?«, fragte meine Mutter.

Das war ihre Art, mir zu zeigen, dass sie sich kümmerte. Denn natürlich wusste sie, dass ich gefrühstückt hatte. Das tat ich immer, egal wie schlecht mir war. Ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen, war für mich, wie ohne Schuhe loszulaufen – irgendetwas fehlte eindeutig.

»Ja, habe ich«, antwortete ich trotzdem brav. Ihr erleichtertes Nicken verfolgte mich, bis ich um die Ecke verschwand.

Irgendwie war es seltsam, so früh nach dem Aufstehen schon wieder ins Bett zu klettern. Ich verdunkelte das Zimmer so gut es ging und kroch zurück unter die Decke.

Danny. War sie die ganze Nacht durch Norwegens Berge gestreift, dann müsste sie jetzt todmüde sein – ähnlich wie ich. Hoffentlich hatte sie bereits einen Unterschlupf für den Tag gefunden. In der bangen Erwartung eines weiteren Albtraums fiel es mir schwer, mich zu entspannen. Ich wälzte mich ruhelos umher, glitt mehrmals in diesen Wach-Schlaf-Zustand, der dem Einschlafen vorausging, und schreckte dann hoch, als würde mich dort der Teufel erwarten. Als ich ein weiteres Mal davonglitt, hörte ich Danny rufen.

»Emilie? Emilie! Ich kann dich sehen, warum kommst du nicht?«

Dannys Stimme klang ungeduldig. Schlagartig befand ich mich auf der Traumebene – mein braunes Licht strömte in alle Richtungen und leuchtete mir den Weg. Dort stand sie – hochgewachsen, die blonden Haare zu einem seitlichen Zopf geflochten – und schüttelte verständnislos den Kopf.

»Was soll das?«, fragte sie ungehalten.

Was sollte was? Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Viel zu froh, sie zu sehen, eilte ich auf sie zu und grinste sie freudig an.

Sie runzelte die Stirn. »Willst du mich zum Narren halten?«

»Wieso?«, fragte ich verwundert.

»Vielleicht, weil du dich hinter deinem braunen Schatten versteckt und mich heimlich beobachtet hast?«

Ich hatte was? Verwirrt sah ich meine Traumfreundin an.

»Wie kommst du denn darauf? Ich habe mich nicht versteckt. Warum sollte ich das tun? Ich bin doch heilfroh, dich zu treffen.«

Danny hob die Augenbrauen und musterte mich kritisch.

»Ich habe dich erst gesehen, nachdem du mich gerufen hast. Ehrlich«, fügte ich noch hinzu, da Dannys zweifelnder Blick mich durchbohrte.

»Hm«, machte sie nachdenklich. »Du warst aber da, ganz sicher«, beharrte sie.

»Ich war wo?«

»Na, in dem bräunlichen Schatten, so als hättest du auf dieser Traumebene bereits auf mich gewartet.«

»Hm«, sagte ich nun meinerseits. Traumebene. Wir hatten uns über unsere seltsamen Traumbegegnungen zu Anfang unterhalten. Danny vertrat die Theorie, dass ich mich auf eine andere Ebene transferieren konnte, um mit ihr zu kommunizieren. Eine Reise der Sinne in eine transzendente Raumzeit, in die ich sie irgendwie hineinzog. Denn laut Danny hatte sie gar keine Wahl. Sie selbst wurde einfach zu mir geführt, als folgte sie einem Ruf. Gehen konnte sie allerdings wieder, wann sie es wollte.

»Du meinst, ich kann diese … hm … Ebene auch ohne dich betreten?«, fragte ich zweifelnd. Wenn ich das könnte, weshalb tat mein Unterbewusstsein das dann nicht einfach? Immerhin war ich hier – wo auch immer das war – vor meinem Albtraum sicher.

»Da bin ich mir sogar sicher«, sagte Danny in meine Überlegungen hinein. »Du erschaffst diesen Zugang, es ist dein Werk, Emilie, nicht meines. Also solltest du die vorhandene Traumebene auch ohne mich nutzen können. Ich gehe davon aus, dass diese Raumzeit auch dann existiert, wenn du sie nicht nutzt.«

Ich stutzte. Eine neue Idee meines gequälten Unterbewusstseins? Erweiterte ich einfach die Traumebene und umging dadurch das Hindernis, dass Danny nicht immer auftauchen konnte? Schlau von mir, dachte ich in einer Mischung aus Verwirrung und Belustigung. Das wurde ja immer besser.

»Das wäre praktisch«, meinte ich nach einer Weile, während ich bereits überlegte, was mir mein Normalität anstrebendes Unterbewusstsein wohl als nächstes für Steine in den Weg legen würde … Und ob ich diese dann auch wieder mit neuen Ideen aus dem Weg räumen würde. Wenn das so weiterging, würde ich garantiert verrückt werden – ich meine so richtig Klapsmühlen verrückt.

Danny musste mir meine innere Unsicherheit angesehen haben.

»Probier es einfach aus«, sagte sie schulterzuckend. »Was hast du zu verlieren?«

Meinen Verstand? Ich seufzte und nickte ergeben. Selbstverständlich würde ich das testen. Mir war schmerzlich bewusst, dass ich für albtraumfreien Schlaf so einiges opfern würde.

»Aber vergiss mich dann nicht«, knurrte Danny. Und ich meinte damit ein echtes Knurren.

Bei unserer ersten Traumbegegnung hatte es uns beide unerwartet erwischt. Ich hatte völlig perplex vor einer wild aussehenden Frau in eindeutiger Angriffshaltung gestanden. Im Gegensatz zu Danny war ich wie gelähmt gewesen. Ich hatte diese Frau, die eher einem wilden Tier glich, einfach nur angestarrt – unfähig mich zu rühren oder einen Ton zu sagen. Sie dagegen hatte, ähnlich einem Panther zum Sprung bereit, gefährlich und sehr laut gefaucht. Das tiefe Knurren, das darauf gefolgt war, verpasste mir noch heute eine Gänsehaut, wenn ich daran dachte. Doch heute war sie meine Freundin – irgendwie. Das Knurren gehörte zu ihr, wie das Seufzen zu einem Menschen. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass Danny speziell war. Ein Wesen aus einer anderen Welt. Und abgesehen davon nur ein Hirngespinst meinerseits.

Ich lächelte Danny ehrlich an. »Niemals, versprochen. Wie sollte ich jemanden wie dich einfach vergessen? Keiner knurrt so schön wie du.«

Danny knurrte noch einmal – dieses Mal eindeutig als abfälliges Schnaufen gemeint –, dann nickte sie nur. Irgendwie wirkte sie bedrückt. Mir fiel ein, dass sie außer mir niemanden hatte. Sie war auf der Flucht vor ihresgleichen, die sie zu etwas zwingen wollten, das sie nicht wollte. Danny war einsam, das verstand ich auf einmal. Ich war die einzige Person, die ihr Gesellschaft leistete – wenn auch nur sporadisch in unseren Träumen.

»Nein, im Ernst Danny«, sagte ich nun aufrichtig. »Du bist meine Freundin. Ich freue mich, dich zu sehen. Unsere Gespräche bedeuten mir sehr viel. Ich mag dich.«

Das stimmte sogar. Sicher, ich hatte sie erfunden, um meine Albträume in den Griff zu bekommen. Aber eines war klar: Wäre sie real, wäre sie garantiert ebenfalls meine Freundin. So grundverschieden wir auch waren, so verband uns etwas, das stärker war, als einfache Bekanntschaft. Irgendwie fühlte es sich sogar stärker an als Freundschaft. Es war mehr wie ...

»Du könntest meine Schwester sein.« Da Danny mich überrumpelt ansah, begann ich zu stottern. »Ich … ähm … Ich meine, irgendetwas gibt es da zwischen uns. Ein unsichtbares Band … Irgendwie …«

Sie hob die Augenbrauen.

Ich schlug mit den Armen aus. »Ich weiß auch nicht. Es ist, als ob wir zusammengehören.«

Eine ironische Stimme meldete sich: Ja, genau, immerhin ist sie ein unterbewusster Teil von dir.

Ich ignorierte das. »Es ist ...«

»Als ob es eine uralte Verbindung gäbe«, beendete Danny meinen Satz. Ihre Katzenaugen ruhten lächelnd auf mir.

Ich hielt inne. Eine uralte Verbindung …

Irgendetwas rührte sich in meinem Inneren. Etwas, das tief verborgen schien. Eine Flut von Gefühlen strömte durch mich hindurch: Macht, Liebe, Verlust und eine uralte Kraft, die mich zu erfüllen schien. Mir wurde schwindlig. Ich zog hörbar die Luft ein und schwankte. Dann war es genauso schnell vorbei, wie es gekommen war.

»Ich spüre es auch«, wisperte Danny. »Diese unendliche Kraft.«

Ich starrte sie einfach nur an.

»Eine Macht, die durch meine Adern pulsiert, als wäre da etwas … Fast greifbar … Etwas, das uns einst gehörte und verband …« Ihre Augen schweiften in die Ferne. »Als würde es mich rufen …«

Eine Gänsehaut überzog mich. Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Ja ...«, hauchte ich erstickt. Genau das hatte ich gerade gespürt. Genau darauf basierte unsere Freundschaft. Ich hatte es gefühlt – unterbewusst –, Danny war mehr als nur eine Traumfreundin. Doch ich hatte es darauf geschoben, dass sie meine Erfindung war, ein Teil von mir.

Moment! Sie ist meine Erfindung. Sie ist ein Teil von mir.

Ich durfte Realität und Traum nicht verbinden. Grundlegend musste mir immer bewusst bleiben, dass ich nur träumte.

Trotzdem konnte ich dem Zusammengehörigkeitsgefühl nicht widerstehen, das auf einmal zwischen uns herrschte. Ich lächelte Danny zaghaft an. Sie lächelte zurück. Zumindest hatte ich ihre Zweifel beseitigt. Sie war nicht allein, sie hatte mich. Auch dann, wenn ich meinen Albträumen vielleicht auch ohne sie entfliehen konnte. Innerlich seufzte ich. Wo sollte das nur hinführen?

 

Nach unserer Traumbegegnung – Danny hatte mir noch von ihrer Nacht auf der Flucht berichtet – schlief ich bis zum späten Abend durch. Und zwar traumlos. Die Uhr zeigte bereits halb neun, als ich reichlich zerknautscht aus den Federn kroch. Mein Magen knurrte äußerst fordernd. Das Frühstück war zu lange her. Im Jogginganzug schlurfte ich in die Küche, immer dem Duft nach, denn irgendetwas war dort gebraten worden.

»Im Kühlschrank ist ein halbes Hähnchen!«, rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer. Der Fernseher lief leise im Hintergrund. Vermutlich hatte sie es sich mit einem Buch bequem gemacht. Mein Vater war einmal wieder auf Geschäftsreise, die Haushälterin hatte um achtzehn Uhr Schluss. Ja, wir hatten eine Haushälterin. Ich sagte ja schon, wir hatten Geld wie Heu. Ich hätte – zumindest als Kind – nur zu gern weniger Geld, aber dafür mehr von meinem Vater gehabt. Nun war ich selbst fast erwachsen und würde nächstes Jahr vermutlich ausziehen, um ein Studium zu beginnen. Medizin. Das war zumindest mein Plan. Mal sehen, ob ich einen Platz bekam.

Im Kühlschrank fand ich einen fertigen Teller mit Hühnchen, Kartoffelecken und Salat. Nicht von meiner Mutter, sondern von unserer Haushälterin für mich zusammengestellt, das wusste ich genau.

Nachdem ich etwas im Magen hatte, kehrten meine Lebensgeister zurück. Ich schnappte mir meine Jacke, suchte eine Stirnlampe heraus und rief meiner Mutter nur ein »Ich geh eine Runde spazieren!« zu, dann war ich schon an der Haustür. Nochmals an diesem Tag ging ich, bis ich meine Muskeln spürte. Ich hätte auch laufen können, um das zu erreichen, aber sowas war einfach nicht mein Ding. Ich liebte die Natur, sah mich viel zu gern um und genoss jeden Baum und Strauch, als dass ich einfach vorbeirennen wollte. Ich mochte den Klang meiner Schritte auf dem sandigen Weg und liebte die Geräusche und Gerüche des Waldes. Ich konnte die Natur fast schmecken. Ich war das, was man allgemein als erdgebunden bezeichnete. Ich hatte keine, oder wenig, Flausen im Kopf, stand mit beiden Beinen im Leben – manchmal auch mit schizophrenen vier –, war genügsam, sparsam, korrekt und eben liebenswert. Wie ich dieses Wort hasste. Aber ich schweife ab. Zurück zum Spaziergang. Ich wollte so viel der Nacht wie möglich herumbringen. Also war es bereits kurz nach zwölf, als ich mich zurück ins Haus schlich.

Meine Mutter war vor dem Fernseher eingeschlafen. Auch gut. Obwohl ich einen winzigen Stich ins Herz spürte, weil sie sich keine Sorgen um mich gemacht hatte. Immerhin war ich nachts allein im Wald gewesen. In meinem Zimmer holte ich meine Schulsachen hervor und setzte mich an die Hausaufgaben. Da ich auch noch einen Aufsatz zu schreiben hatte, vergingen geschlagene drei Stunden. Leider war die Nacht dadurch noch lange nicht herum. Ich warf den PC an, beschäftigte mich fast zwanghaft, nur, um nicht ins Bett zu müssen. Letztendlich landete ich mit einem Buch in meinem Lesesessel. Obwohl ich den ganzen Tag geschlafen hatte, war ich trotzdem richtig müde. Ein paar Stunden Schlaf zauberten viele Jahre von Schlafstörungen nun einmal nicht weg. Leider.

Irgendwie schaffte ich die Nacht, ohne einzuschlafen. Ja, ich weiß, ich hätte Dannys Theorie testen können, doch ich war einfach nicht bereit dafür. Ich wollte es lieber probieren, wenn Danny in der Nähe war. Also wiederholte ich am Sonntagmorgen den Samstagmorgen nahezu identisch. Nach Frühstück und Spaziergang – diesmal sammelte ich dazu Pilze – verkroch ich mich ins Bett, um Danny zu treffen. Und, um zu schlafen. Dann vibrierte mein Telefon. Eine SMS. Weil ich sowieso keine Ruhe finden würde, bevor ich wusste, wer da etwas wollte – Neugierde lässt grüßen –, streckte ich mich nach meinem Handy und staunte nicht schlecht.

Marcus!

Hey Emilie :) ich habe schon einen riesigen Fisch gefangen, dabei würde ich lieber nach dir angeln. :)

Wie sinnig … Trotzdem freute ich mich riesig, etwas von ihm zu hören. Er war mit seinen Jungs auf Angelurlaub und dachte an mich. Ich setzte mich im Bett auf und tippte mit leicht fahrigen Fingern zurück.

Zu tiefes Gewässer, keine Chance. ;-)

Gespannt wartete ich auf Antwort. Er würde doch antworten? Was, wenn ... Weiter kam ich nicht.

:D Das werden wir sehen. Ich nehme die Herausforderung an. Muss jetzt los, wir sind auf dem Sprung. LG, Marcus.

Ich grinste blöd. Zum Glück konnte mich hier keiner sehen.

Viel Spaß! tippte ich noch, dann ließ ich mich in die Kissen fallen. Ein etwas flaues Gefühl rumorte in meiner Magengegend. Wie spannend!

Anstatt sofort einzuschlafen, beschäftigte sich mein Gehirn nun mit Marcus und der Frage: War ich verliebt? Ich konnte es noch nicht einmal genau sagen. Ich mochte ihn. Und vom Aussehen war er genau mein Typ. Es hatte auch eindeutig gekribbelt, als er mich küsste. Aber verliebt? Da ich noch nie richtig verliebt gewesen war, konnte ich das einfach nicht so genau sagen. Eine leise Stimme irgendwo ganz hinten fragte mich aber, ob man sowas nicht eindeutig spüren müsste. Ärgerlich schob ich sie beiseite. Was sollte das? Ich kannte Marcus ja kaum. Ich beschloss, es auf mich zukommen zu lassen. Mehr konnte ich sowieso nicht tun. Über meine verkorksten Gefühle nachzugrübeln, brachte gar nichts.

 

Das Grauen packte mich in genau dem Moment, als ich in den Schlaf glitt. Ich hatte nicht einmal den Hauch einer Chance, Dannys Theorie zu überprüfen. Es war, als wollte mich jemand mit Gewalt daran hindern, den grausamen Bildern der Albträume zu entkommen.

Schwarze Schatten, das Gefühl erstickt zu werden. Dunkle Finger griffen nach mir. Die schlaffe, schneeweiße Kinderhand … Und so viel Blut …

Wie gelähmt starrte ich auf die rote, zäh fließende Masse, die näher und näher kam. Unfähig mich zu rühren, unfähig zu schreien, unfähig mich von den panischen Qualen, die meine Seele zerrissen, in Sicherheit zu bringen. Etwas schnürte mir die Kehle zu …

Schreiend erwachte ich, fuhr in meinem Bett hoch und rang nach Luft. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, ein Schluchzen entfuhr meiner Kehle, die sich wund und gewürgt anfühlte. Ich schluckte ein paarmal und fuhr mit den Händen meinen Hals entlang. Doch da war natürlich nichts. Es war alles nur Einbildung, wie jedes Mal. Und genau wie jedes Mal, verblasste das Würgegefühl bereits nach wenigen Sekunden. Zurück blieben nur die Erinnerung und ein Zittern am ganzen Körper, das sich nur langsam verflüchtigte.

»Verflucht«, murmelte ich. Und wie sollte ich nun wieder einschlafen? Es war mir noch niemals gelungen, in den ersten Stunden nach den Albträumen wieder einzuschlafen. Und warum war Danny nicht da gewesen?

Weil sie gar keine Chance gehabt hat …

Genauso war es gewesen. Alles war dieses Mal so furchtbar schnell gegangen. Einschlafen, die Schatten, die schlaffe Kinderhand, Blut, Panik, alles war Schlag auf Schlag bekommen, nicht schleichend wie üblicherweise.

Irgendjemand, irgendetwas will, dass du das siehst!

War das möglich? Gab es tatsächlich einen tieferen Sinn? Weder Psychologen noch Hypnoseversuche hatten bisher etwas zu Tage befördert. Ich tappte im Dunkeln. Welchen Sinn sollte es geben, jede Nacht aufs Neue gefühlte Tonnen von Blut zu sehen? Mir war das schleierhaft. Wenn sich der Traum wenigstens ändern würde. Wenn ich einmal mehr sehen könnte … Wem gehörte die Hand? Das silberglänzende Messer? Ich nahm an, dass es für das viele Blut verantwortlich war. Logisch. Aber was genau war da geschehen? Ich verstand es einfach nicht, genauso wenig, wie meine unbeschreibliche Panik, die mir jedes Mal wieder den Atem raubte. Und das würgende Gefühl …

Wieder schluckte ich und griff mir an den Hals. Dann schwang ich die Beine aus dem Bett, zog mir den Jogginganzug an und ging erneut auf Wanderschaft. Einfach dazuliegen und herumzugrübeln brachte gar nichts, das kannte ich aus Erfahrung.

 

Als ich gegen Mittag wieder ins Haus kam, war ich allein. Meine Mutter hatte sich vermutlich mit einer Freundin verabredet. Um es kurz zu machen: ich aß etwas, legte mich erneut aufs Ohr, schaffte es tatsächlich, einzuschlafen und wurde dieses Mal bereits von Danny erwartet. Keine langen Grübeleien. Kein Versuch, die Traumebene auch ohne Danny zu betreten und keine weiteren erwähnenswerten Vorkommnisse, denn Danny ging es gut. Ihr Tag war ereignislos verlaufen.

 

 

3. Grausame Erinnerungen

 

 

 

Montag, Schule. Nach einer weiteren Nacht, in der ich durch Albträume geweckt worden war, schleppte ich mich zur Schule. Den Tag am Wochenende zur Nacht zu machen, war mir klug erschienen, doch nun würde ich den Preis dafür zahlen, das merkte ich bereits vor der ersten Stunde eindeutig. Also betete ich, dass die Stunden sich nicht endlos ziehen würden, und sehnte den Schulschluss herbei, bevor der Unterricht überhaupt begonnen hatte.

Als ich mich auf meinen Platz fallen ließ, fiel mir Amandas gerunzelte Stirn auf. Vor allem aber machte es mich stutzig, dass sie Filips Hand wegschubste, um sich auf ihr Handy zu konzentrieren.

»Wieso geht sie nicht ran?«, beschwerte sich Amanda dann. »Ich hab ihr gestern schon eine SMS geschickt!«

»Krank?«, schlug Filip vor.

»Hm«, machte Amanda nur ärgerlich, als wäre es verboten, krank zu sein und deshalb unerreichbar.

Ich vermutete, es ging um Lovisa, denn ihr Platz war leer. Und über wessen Abwesenheit sollte Amanda sich sonst aufregen? Filip klebte ja an ihr wie eh und je. Der Rest der Clique war ebenfalls anwesend – zumindest körperlich. Ich seufzte, schloss die Augen und ruhte meinen Kopf wie immer auf meinen Armen aus.

Ich überstand die erste Stunde nur mit Mühe. Simon neben mir wirkte bedrückt und warf immer wieder traurige Blicke zu Lovisas leerem Platz. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Ich wusste nicht wieso, es gab überhaupt keinen Grund dafür. Ich wusste nicht einmal, auf was das ungute Gefühl gemünzt war. Doch das sollte ich bald herausfinden …

 

»Ich erreiche sie einfach nicht«, klagte Amanda in der kurzen Pause vor der Englischstunde.

»Hast du es schon bei ihrer Mutter probiert?«, fragte Simon.

Anstatt zu antworten, meinte Amanda: »Ich habe Isa seit Freitagabend nicht mehr gesprochen.«

»Sie war gestern kurz bei mir«, eröffnete Simon.

»Ach so?« Amanda runzelte erneut die Stirn. Ich sah förmlich, dass es dort arbeitete. Vermutlich Worte wie »Sie meldet sich bei ihm, aber nicht bei mir?«.

»Und was wollte sie?«, fragte Amanda auch prompt.

Simon zuckte die Schultern. Sein Mund machte eine seltsame Kaubewegung, dann sagte er: »Abhängen, wie immer.«

Ich wusste nicht warum, aber ich glaubte ihm kein Wort. Irgendetwas war vorgefallen, das spürte ich genau. Er machte sich Sorgen.

»War sie krank?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. Ein Zögern lag in seinen Haselnussaugen.

»Hast du es schon bei ihren Eltern auf dem Festnetz probiert?«, fragte er Amanda. Seine unterdrückte Sorge verstand wohl nur ich.

»Nee, ich wollte sie nicht stören«, meinte Amanda. »Die sind sicher sowieso arbeiten.«

Ohne ein Wort zückte Simon sein Handy und wählte.

»Was machst du da?«, fragte Amanda ungehalten.

Wenn sie nicht anrief, durften es andere auch nicht? Ich schüttelte innerlich den Kopf über ihre merkwürdigen Ideen. Simon antwortete ihr nicht, sondern lauschte den Signalen.

»Hmpf«, machte er nach einer Weile. Er wählte eine neue Nummer.

»Hast du etwa deren Handynummern?«, fragte Amanda ungläubig.

Wieder keine Antwort von Simon. Nur ein Arbeiten seiner Kaumuskeln, die zeigten, dass er nicht gestört werden wollte.

»Hallo Jon, ich bin es, Simon«, sagte er schließlich ins Telefon. »Ist Isa krank?«

Amanda verdrehte die Augen. »Ob er auch die Nummern von unseren Eltern hat?«, murmelte sie.

Ich war mir sicher, dass er die von meinen ganz sicher nicht hatte. Aber Simon und Lovisa waren schon Freunde, seit sie krabbeln konnten. Sogar ihre Eltern waren befreundet, also wunderte es mich ehrlich gesagt nicht wirklich.

»Äh … Nein, Isa war nicht bei mir«, sagte Simon ins Telefon.

Warten.

»Ja schon, aber sie ist am Nachmittag schon wieder gefahren ...«

Mein ungutes Gefühl verstärkte sich zu einem dumpfen Nagen in der Magengegend. Da stimmte etwas nicht. Ganz sicher. Ich konnte es förmlich riechen.

»Nein, sie war nicht bei Amanda«, sagte Simon gerade mit äußerst beunruhigter Miene. »Ja ..., weil Amanda hier neben mir steht … Ja … Nein … Ja … Okay.«

Simon legte auf und sah in starrende Gesichter. Sogar Filip hatte aufgehört, an Amanda herumzufummeln.

»Was ist?«, erklang Amandas schrille Stimme. Ihr anfänglicher Missmut über Lovisas Unerreichbarkeit war in Sorge umgeschlagen.

»Sie ist weg«, sagte Simon düster. Dann kaute er sich auf der Lippe herum.

»Weg? Wieso weg?«, fragte Amanda barsch.

Ich war ganz steif vor Schreck. Irgendwie wusste ich, dass etwas passiert war. Nur was?

»Simon!«, drängte nun auch Josefin. »Was ist denn los?«

»Sie …« Er zögerte, kaute wieder auf der Lippe herum. »Isa ist nicht nach Hause gekommen … Ihre Eltern haben abends nur eine SMS erhalten, dass sie bei mir übernachtet … Und … Nun ja … Das hat sie nicht. Sie war bei mir, aber sie hat den Bus genommen. Schon gegen vier Uhr.«

Simon kaute weiter auf der Unterlippe herum und schaute etwas merkwürdig drein.

Da war doch was im Busch. Was wusste er?

»Weg?«, wiederholte Amanda ratlos. Dann schien sie plötzlich zu verstehen und wurde blass.

Josefin schlug sich die Hände vors Gesicht.

»Jon ruft wieder an«, sagte Simon leise. »Er wollte … rumtelefonieren.«

»Ja«, hauchte Amanda. »Sie ist bestimmt nur bei jemand anderem.«

Ich hörte ihr an, dass sie an ihren eigenen Worten zweifelte. Alle, bei denen sie tatsächlich sein könnte, waren hier versammelt. Und ich wusste es einfach. Lovisa war nicht einfach bei irgendeinem Bekannten. Es war etwas passiert. Ich hatte keine Ahnung, woher ich die Gewissheit nahm, aber es war so.

Ich beobachtete Simon genau. Er saß wie auf Kohlen. Irgendwann während der Englischstunde stieß ich ihn an und flüsterte: »Du musst es Jon sagen. Egal was du weißt, es könnte wichtig sein.«

Simon starrte mich einfach nur an. »Vielleicht ist ja alles in Ordnung«, murmelte er.

Er hatte meine Ahnung nicht bestätigt, aber auch nicht geleugnet, dass er mehr wusste, als er zugeben wollte.

Keiner von uns konnte sich auf den Unterricht konzentrieren. Auch Victor hatte Wind davon bekommen, dass etwas im Argen lag. Als Simons Handy dann kurz vor Unterrichtschluß läutete, drehte sich die ganze Klasse nach ihm um.

»Mach sofort das Ding aus!«, wetterte die Lehrerin los.

Simon hörte ihr nicht zu, nahm an und bekam sofort einen harten Zug um die Lippen.

»Ja ... Ja, ich verstehe ... Ja, ich komme sofort.«

Wir starrten ihn voller Schrecken an. Mein dumpfes Gefühl explodierte im Magen.

»Simon! Setz dich sofort wieder hin! Der Unterricht …«

»Isa ist entführt worden«, ließ Simon die Bombe platzen. Dann rauschte er aus dem Klassenraum. Wir sahen uns nur kurz an, rafften unsere Sachen zusammen, ignorierten sowohl die Lehrerin als auch die anderen Schüler, die nach einer Schrecksekunde auf einmal wild durcheinander redeten, und stürmten an der fassungslosen Lehrerin vorbei hinter Simon her.

 

Wir warteten vor dem Polizeirevier auf Simon. Wir hatten ihn natürlich begleitet und mit Fragen gelöchert, die er nur spärlich beantworten konnte. Aber ich hatte recht gehabt, er wusste etwas, das womöglich wichtig war.

Offenbar war Lovisa verfolgt worden. Sie war bei Simon gewesen, damit er ihr half, etwas auf einer ihrer Haarsträhnen zu identifizieren, dass sie für einen Marker hielt – etwas neuartiges, dass Menschen markierte und sie damit auffindbar machte. Simon hatte zwar nicht wirklich etwas gefunden – nichts blau leuchtendes, wie Lovisa behauptet hatte –, aber mit seinen ausgesprochen guten Chemiekenntnissen war er sich doch sicher, dass da irgendetwas gewesen war. Er hatte Lovisa versprechen müssen, nichts von der Strähne und dem Marker zu erzählen, doch nun …

Ja, nun war sie verschwunden und jeder Hinweis zählte. Entführt! So etwas passierte doch nur anderen. Das war doch einfach nicht möglich!

Wir standen vor dem Revier und traten uns vor Sorge und Ungeduld die Beine in den Bauch. Keiner sagte etwas – stumm hingen wir unseren Gedanken nach und fixierten den Eingang zur Polizei.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Simon endlich wieder raus.

»Ich soll die Strähne holen«, murmelte er und biss dann die Zähne zusammen.

»Sie haben dir nicht richtig geglaubt?«, fragte ich leise.

Er schüttelte den Kopf.

Das hatte ich mir schon fast gedacht. Ein Marker, der Menschen ortete? Das klang wirklich nach Science-Fiction.

»Was wissen sie?«, wollte ich weiter wissen.

»Ja, was haben sie gesagt?« Amanda war außer sich. Sie wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Keiner von uns wusste das. Ich fragte auch nur, um irgendwie ein Bild von der Sachlage zu bekommen. Etwas Greifbares war besser zu verstehen. Nichts war schlimmer als Ungewissheit.

Simon schüttelte den Kopf und drehte sich zum Gehen.

»Hey! Erzähl uns, was los ist!«, brüllte Amanda.

Sah sie denn nicht, dass er nur aus Verzweiflung den Kopf schüttelte und versuchte, seine Gedanken zu sortieren?

Und ganz richtig, er begann zu erzählen, während er den Weg zu sich nach Hause einschlug.

»Wusstet ihr, dass Isas richtige Mutter noch lebt?«, fragte er mehr zu sich selbst als zu uns.

Amanda kniff die Lippen zusammen. Aha, sie hatte es also gewusst. Für mich dagegen war es genauso neu, wie für die anderen.

»Sie ist adoptiert, oder?«, fragte Josefin. »Zumindest sind Jon und Elsa ihre Pflegeeltern.«

»Isa ist adoptiert?«, fragte Filip verwundert.

»Ja«, flüsterte Amanda.

Jon und Elsa waren typisch nordisch blond und blauäugig. Lovisa dagegen dunkelhaarig mit braunen Augen. Auch wenn ich nicht bereits geahnt hätte, dass sie nicht Lovisas leibliche Eltern waren, wäre ich nicht überrascht gewesen.

Ich glaube, Simon hatte kaum zugehört, er fuhr einfach fort: »Ihre richtige Mutter heißt Ulrika und ist offenbar psychisch krank. Sie war in der Psychiatrie von Växjö. Isa ist offensichtlich gestern Abend, nachdem sie bei mir gewesen war, noch einmal dort hingefahren. Ein Pfleger hat sie gesehen.« Er stockte. »Seitdem fehlt jede Spur von ihr … Und Ulrika ist auch weg.«

»Sie hat sie entführt?«, fragte Amanda.

»Wer wen? Isa diese Ulrika oder Ulrika Isa?« Alle sahen Filip seltsam an.

»Was?«, verteidigte er sich. »Aus einer Geschlossenen entkommt man ja wohl nicht so schnell!«

»Weshalb sollte Isa ihre Mutter entführen?«, schnaubte Victor ungehalten.

»Und warum sollte ihre Mutter Isa entführen?«, fragte Filip zurück.

Ich wurde aus beiden Theorien nicht schlau. Das war doch alles einfach abwegig. Oder?

»Wie krank ist Ulrika?«, fragte ich.

»Sie ist psychotisch. Sie sieht Dinge, die nicht da sind«, murmelte Amanda.

Simon starrte vor sich auf den Weg und lief einfach weiter. »Isa fühlte sich verfolgt«, sagte er mehr zu sich selbst. »Ihre Mutter war da noch in der Psychiatrie. Das passt nicht zusammen.«

Amanda biss sich auf die Lippe. »Ulrika litt auch an Verfolgungswahn …«

»Isa ist nicht verrückt!«, schnappte Simon, blieb stehen und giftete Amanda offen an. »Isa ist völlig normal!«

Amanda hob nur die Augenbrauen und schwieg. Doch ihre Haltung sprach Bände. Ich hörte sie förmlich sagen, dass der Apfel meist nicht weit vom Stamm fiel.

War das möglich? War Lovisa krank? Aber auch wenn dies so war, tat das nichts zur Sache. »Sie ist verschwunden. Entführt«, sagte ich leise. »Es ist vollkommen unwichtig, ob Isa psychische Probleme hat oder nicht. Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie jede erdenkliche Hilfe braucht, um gefunden zu werden. Und wenn Simon sagt, dass an der Strähne etwas seltsam ist, dann ist das so.«

Josefin nickte zustimmend, nahm meine Hand und drückte sie. So ernst hatte ich meine immer fröhliche Freundin noch niemals gesehen.

»Was können wir tun?«, fragte sie leise.

»Nichts … Nur abwarten«, sagte Victor.

So furchtbar es war, genau das waren unsere Möglichkeiten. Abwarten und das Beste hoffen.

 

Bei Simon angekommen, warteten wir vor der Tür – schon wieder. Ich war gespannt auf besagte Haarsträhne, die laut Lovisa markiert war. Womit auch immer. Ich konnte mir das nicht so richtig vorstellen. Eine blaue Flüssigkeit, die sich um die einzelnen Haare legte, dann unsichtbar wurde und irgendwie zu orten war? So zumindest hatte Simon es erklärt. Das war schon alles sehr seltsam. Und weshalb sollte jemand sich solche Mühe machen, um Lovisa zu beschatten? Das war doch die eigentliche Frage bei der ganzen Sache. Ich warf Amanda einen Blick zu. Vielleicht war da ja doch etwas dran, an ihrem Verdacht, dass Verfolgungswahn im Spiel war. Nur vergaß sie dabei eine Sache: Lovisa war tatsächlich verschwunden. Die Polizei glaubte, sie wäre von Ulrika entführt worden. Wenn sie die Verfolgerin war, wie hatte sie das aus der Psychiatrie heraus angestellt?

In meine Überlegungen hinein trat Simon aus der Tür. Vollkommen außer sich.

»Sie ist weg!«, schrie er. »Die Strähne ist weg! Einfach weg!«

»Ähm …«, machte Filip und sah Amanda hilfesuchend an. Sie schüttelte nur den Kopf.

»Vielleicht hast du sie verlegt?«, schlug Filip dann vor.

»Verlegt?!«, explodierte Simon. »Ich weiß haargenau, wo ich sie hingelegt habe! Ich hatte sogar zwei einzelne Haare noch einmal in eine Lösung gelegt! Und alles ist weg! Da hat sich nichts verlegt

»Schon gut, schon gut, komm mal wieder runter«, meinte Filip betroffen.

So hatte noch keiner von uns Simon erlebt.

»Du meinst, sie wurde gestohlen?«, fragte ich sanft und legte ihm vorsichtig eine Hand auf den Arm. Ich spürte, dass Simon vor Wut, Sorge und Verzweiflung zitterte.

»Ja, was denn sonst!«, schrie er.

»Ich glaube dir«, betonte ich eindringlich.

Er sah mich mit wilden Augen an. Dann fiel sein Zorn in sich zusammen.

»Der einzige Beweis … Einfach weg«, murmelte er verzweifelt.

Etwas war merkwürdig. Nicht an Simons Verhalten, ich verstand ihn sehr gut. Nein, etwas in mir sagte, dass er der Polizei niemals von dem Marker hätte erzählen dürfen. Es war schizophren, denn immerhin hatte gerade ich ihn dazu aufgefordert, der Polizei alles zu berichten, was irgendwie wichtig sein könnte. Nur so konnten sie alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Und ich war rein logisch gesehen auch immer noch von der Richtigkeit dieser Vorgehensweise überzeugt. Weshalb hatte ich dann nur ein so seltsam unwohles Gefühl bei der Sache? So, als ob dieser geheimnisvolle Marker niemals hätte zur Sprache kommen dürfen?

»Das ist schon seltsam«, meinte Victor. »Und die Polizei wird dir das alles sicher nicht glauben. Das ist einfach … hm … zu merkwürdig.«

Ich spürte, dass er kurz davor gewesen war, so etwas wie unrealistisch oder unglaubwürdig zu sagen und war heilfroh über Victors Feingefühl.

Wir diskutierten noch eine Weile, kamen aber zu keinem Ergebnis. Wie auch, wir wussten einfach viel zu wenig.

 

Es war genau, wie Victor es vermutet hatte: Die Polizei glaubte Simon nicht. Oder besser gesagt, sie glaubten, dass Lovisa sich was eingebildet hatte – mit dieser Mutter als Vorlage – und dass Simon die Strähne, auf der sicher nichts zu finden wäre, einfach verlegt hatte. Simon war untröstlich.

Noch etwas erfuhren wir: Lovisa hatte einen Erik kennengelernt, der ihr gefolgt war. So sagte es zumindest Jon, Lovisas Vater. Er schien Lovisa zu stalken, doch die Polizei nahm das nicht wirklich ernst. Sie fahndeten nach ihm, aber hauptsächlich, weil er offenbar ein Auto gestohlen hatte.

Jeder, der Lovisa kannte, wusste, dass sie niemals jemanden des Stalkens beschuldigen würde, wenn da nicht wirklich etwas dran war. Für Simon war das der Beweis: Dieser Erik hatte Lovisa entführt. Wie das mit Ulrika zusammenhing, konnte sich aber keiner erklären. Ich musste Simon Recht geben. Dieser Erik war mehr als verdächtig.

 

In dieser Nacht änderte sich mein Albtraum zum ersten Mal, seit ich davon heimgesucht wurde.

Ein Mädchen – vielleicht fünf Jahre alt – saß auf einem Dielenboden und spielte mit einer hölzernen Lokomotive.

Lovisa …

»Isa?«, fragte ich ungläubig.

Das Mädchen sah zu mir auf, lachte und winkte mir entgegen. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgestoßen und schepperte mit einem Knall an die Wand. Ein Schatten huschte in den Raum … Lovisas Lachen erstarb auf ihren Lippen. Sie kam nicht einmal mehr dazu, sich umzudrehen, da hatte der Schatten sie bereits gepackt. Eine silberne Klinge blitzte auf. Ich war wie gelähmt, konnte mich nicht rühren. Es war, als wäre ich in der Zeit festgefroren.

Die silberne Klinge schnitt ihr mit einer einzigen fließenden Bewegung die Kehle durch. Als der Schatten sie einfach wie eine kaputte Puppe zur Seite warf, kippte Lovisas Kopf nach hinten weg. Blut quoll in einem Schwall aus ihrem Hals – rot, zäh, in immer größeren Mengen. Es floss auf mich zu, kam näher und näher, drohte mich zu ertränken …

Ich hörte jemanden schreien. Es klang wie ein kleines Mädchen. Die Schreie wurden lauter – ich schrie!

 

Ich schrie mir die Seele aus dem Leib – so fühlte es sich zumindest an. Ich schlug wild um mich, hatte das Gefühl jemand schnüre mir meine Beine zusammen, und ich strampelte um mein Leben. Bis ich endlich begriff, dass es nur meine Bettdecke war, die sich um meine Wade gewickelt hatte, war ich bereits schweißgebadet und völlig außer Atem. Mit fahrigen Händen suchte ich den Lichtschalter meiner Nachttischlampe, doch dieses Mal reichte das spärliche Licht nicht aus, um mich zu beruhigen.

Ich sprang aus dem Bett, lief auf unsteten Beinen, die sich wie Pudding anfühlten, zur Tür und flutete das Zimmer mit der Deckenbeleuchtung. Dann stand ich einfach nur da – zitternd bis ins Mark, vollkommen aufgelöst und ließ den Tränen freien Lauf.

Was für ein grausamer Traum. Lovisa …

Ich verstand nach einiger Zeit, dass meine Sorge um Lovisa diesen Albtraum ausgelöst hatte. Irgendwie hatte mein Unterbewusstsein meine ständig wiederkehrende Hölle mit Lovisas Entführung zusammengekoppelt, obwohl es da keinen Zusammenhang geben konnte. Dieses Wissen machte den Traum aber keineswegs weniger grausam und beruhigte mich nur mäßig. Ich hatte noch niemals Gesichter gesehen, hatte nie einen konkreten Raum vor Augen gehabt, oder gar ein spielendes Kind. Nur immer wieder die schlaffe, blasse Kinderhand und das viele Blut.

Oh, mein Gott! Das viele Blut!

Das Bild war plötzlich wieder da, ließ sich nicht verdrängen. Blut … Überall Blut! Bei der Erinnerung an Lovisas Kopf, der einfach nach hinten gekippt war, wurde mir speiübel. Ich rannte los und schaffte es gerade noch bis in mein großzügiges, eigenes Badezimmer direkt nebenan.

Als ich nur noch Galle hochwürgte, stützte ich mich auf mein Waschbecken. Aschgrau im Gesicht, mit riesengroßen, panischen Augen, sah mir dort mein Spiegelbild entgegen. Ich erkannte mich selbst kaum wieder. Der kalte Schweiß hatte meine Haare verklebt. Obwohl ich gespült hatte, roch es nach Erbrochenem.

Ich tat das einzig richtige und stellte mich unter die Dusche. Ich wusch alles ab – inklusive der Erinnerung. Zumindest so gut es mir nach diesem Albtraum eben gelang. Wäre mein Vater hier gewesen, hätte er mich jetzt getröstet. Meine Mutter hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, auf meine Schreie zu reagieren. Sie wusste einfach nicht, wie sie damit umgehen sollte, und verdrängte mein nächtliches Leiden einfach. Ich konnte mir das schlecht vorstellen, immerhin hatte ich geschrien, als hinge mein Leben davon ab. Sie musste es gehört haben. Lag sie tatsächlich wach im Bett und wartete, dass es vorbei ging? Wieder spürte ich diesen Stich ins Herz. Ich fühlte mich auf einmal sehr einsam und allein gelassen.

 

Der folgende Tag brachte keine Neuigkeiten. Lovisas Entführung war Gesprächsthema Nummer eins in der Schule. Wir – Lovisas Freunde – sonderten uns ab. Wir verbrachten die Stunden in einer Art stillschweigender Übereinkunft, nicht darüber zu reden, was ihr womöglich alles zugestoßen sein konnte. Auch nach der Schule hielten wir zusammen – schweigend, aber gemeinsam, zogen wir uns einen Film nach dem anderen rein. So war es irgendwie leichter.

Nur die Nacht war ich allein … Und erlebte denselben grausigen Traum ein zweites Mal …

 

Nach der vierten Nacht mit Schatten, Messer, aufgeschnittener Kehle, Erbrechen und stundenlangem Duschen, beschloss ich, mich für den Freitag krank zu melden. Wortlos ging meine Mutter zum Telefon und rief in der Schule an. Ich war dankbar, dass sie wenigstens das ohne zu hinterfragen für mich tat. Vermutlich gefiel ihr mein zombieartiges Aussehen nicht, das eindeutig verriet, dass ich völlig am Ende war.

Als ich mich wieder hinlegte, traf ich glücklicherweise auf Danny. Ich erzählte ihr von meinem neuen Albtraum. Sie berichtete mir von einem schwarzhaarigen Mann, der offenbar in einer Burg in ihrer Nähe lebte und nun auch nach ihr suchte. Denn er war ihrer Fährte mit einer Horde Männer gefolgt. Arme Danny. Danach schlief ich traumlos vierundzwanzig Stunden durch.

 

Als ich erwachte, war es samstagmorgens. Ein Blick in den Spiegel zeigte mir, dass die Zombiephase vorbei war. Ich sah zwar immer noch müde aus, aber nicht mehr grau und krank. Und ich hatte Hunger.

»Hier, dein Vater am Telefon«, begrüßte mich meine Mutter mit einem skeptischen Blick. Offenbar bestand ich die Prüfung, denn sie nickte nur und ließ uns allein.

»Emilie, mein Schatz. Wie geht es dir?«, klang die besorgte Stimme meines Vaters durchs Telefon.

Ich seufzte. Wie es schien, hatte meine Mutter ihm von meinen letzten schreienden Nächten erzählt.

»Hm … Geht so«, murmelte ich ausweichend und kramte Müsli und Joghurt hervor.

Mein Vater seufzte. »So kann das nicht weitergehen. Vielleicht solltest du doch noch einmal Schlaftabletten probieren. Es muss doch …«

Weiter hörte ich ihm nicht zu. Stattdessen begann ich zu essen, ich brauchte dringend Energie.

»Und Dr. Andersson hat doch gesagt, dass es durchaus Alternativen gibt, die du noch nicht probiert hast.«

»Papa, das haben wir doch schon besprochen. Es ist egal, wie viel Schlaftabletten ich nehme, die Albträume kommen trotzdem. Und was noch schlimmer ist, dann wache ich nicht auf! Es ist die Hölle, wie in einer Endlosschleife immer und immer wieder denselben furchtbaren Traum zu haben und nicht aufzuwachen. Das kannst du vergessen, ich probiere keine weiteren Medikamente. Die helfen einfach nicht. Im Gegenteil, die machen es schlimmer!«

Wieder seufzte mein Vater. Ich verstand ja, dass er sich nur Sorgen machte und wie alle anderen einfach nicht weiter wusste.

»Ich komme in drei Tagen nach Hause. Dann buchen wir einen Flug zu den Azoren. Es ist mir egal, ob die Schule sich Kopf stellt. Du brauchst dringend Schlaf. Deine Mutter sagt, dass es noch nie so schlimm war, wie in den letzten Tagen. Nicht seit es damals begann.«

Die Azoren? Liebend gern, aber …

»Ich kann jetzt noch nicht weg«, sagte ich leise. »Isa ist verschwunden. Sie ist ...«

»Du weißt es noch nicht? Sie ist wieder da. Offenbar geht es ihr den Umständen entsprechend gut. Sie ist zumindest nicht körperlich verletzt und …«

»Was?!«, rief ich aufgebracht in den Hörer. »Wie? Wann?«

Wieso hatte mir das keiner gesagt? Wieso hatte mich keiner angerufen?

»Beruhige dich, Emilie. Deine Mutter wollte dich nicht wecken, nicht, nachdem du endlich friedlich geschlafen hast.«

»Was weißt du? Wann … Warum …«

Ich war völlig durcheinander. Erleichtert, obwohl ich noch nichts Genaues wusste, außerdem verärgert, weil mir so etwas Wichtiges nicht sofort erzählt worden war und auch ein wenig hoffnungsvoll, dass dieser neue Albtraum, der mich schier zur Verzweiflung trieb, nun vielleicht aufhören würde. Meine Gefühle übermannten mich, ich begann zu schluchzen.

»Emilie …«, sagte mein Vater sanft. »Emilie, beruhige dich. Ich verstehe sehr gut, wie sehr dich das alles mitgenommen hat. Sie ist deine Freundin. Solch eine Ungewissheit.« Er schwieg kurz.

Ich schluchzte einmal laut auf.

»Soweit ich es von deiner Mutter erfahren habe, hat man Lovisa bereits am Donnerstag gefunden. Irgendwo in Norwegen. Sie ist gestern nach Hause gekommen. Viel mehr weiß ich allerdings auch nicht. Nur, dass sie unverletzt ist. Und …«

»Ich muss Schluss machen«, schluchzte ich. »Ich muss Simon anrufen.«

»Also gut. Das verstehe ich. Drei Tage, Emilie, dann bin ich da und wir fliegen. Keine Widerrede!«

»Okay«, flüsterte ich. »Bis dann.«

 

Die Batterie von meinem Handy war leer. Als ich das Ladegerät anschloss und es anschaltete, warteten unzählige Nachrichten auf mich: Simon, Amanda, Victor, Josefin, alle hatten sie versucht, mich zu erreichen. Sogar eine Nachricht von Marcus war dabei. Er hatte von Lovisas Entführung gehört und erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich schrieb kurz zurück, was ich von meinem Vater erfahren hatte, dann wählte ich Simons Nummer.

»Emilie? Wo warst du?«, fragte er vorwurfsvoll.

»Mein Handy war aus. Batterie leer«, teilte ich ihm kurz mit.

»Oh, okay. Sie ist wieder da!«

»Ja, ich weiß. Ist wirklich alles in Ordnung mit ihr?«

»Keine Ahnung«, seufzte Simon. »Ich habe bisher nur mit Jon gesprochen. Isa ist ziemlich durcheinander, aber unverletzt. Ihre Mutter ist tot. Ich meine ihre leibliche Mutter. Sie ist wohl von einer Klippe gesprungen und Isa hat es gesehen. Viel mehr weiß ich auch noch nicht.«

Ich zog hörbar die Luft ein. Egal ob nun Ulrika für die Entführung verantwortlich war oder nicht, musste das ein Schock für Lovisa gewesen sein. Wie hatte ihre Mutter ihr das nur antun können?

»Jon sagt, er meldet sich wieder, aber erst mal brauchte sie Ruhe. Er hat darum gebeten, dass wir Isa nicht anrufen, bis sie sich von alleine meldet. Offenbar will sie es so.«

»Das kann ich verstehen«, murmelte ich.

»Wir wollen nachher eine Pizza essen gehen. Hast du Lust?«

Hatte ich? Um ehrlich zu sein, wollte ich einfach nur weiterschlafen. Aber etwas Gesellschaft würde mir gut tun.

»Wann denn?«

»Gegen vier Uhr. Josefin kann vorher nicht.«

»Okay, bis später dann.«

 

Ich nutzte die Zeit für einen langen Spaziergang, sammelte einen ganzen Korb Pilze und sammelte auch gleichzeitig meine Gedanken.

Ob nun wieder Ruhe einkehrte? Wie Lovisa das wohl verkraftete und was da wohl tatsächlich passiert war? Ulrika war krank gewesen. Hatte sie ihre Tochter wirklich entführt? Aber wieso? Und was hatte dieser Erik mit der Sache zu tun? Und diese mysteriöse Haarsträhne …

Ich zweifelte nicht daran, dass es die gegeben hatte. Simon war kein Schwindler. Mir war nur der Gedanke gekommen, dass Lovisa ihm die Strähne womöglich selbst entwendet hatte. Weshalb auch immer. Welchen Grund konnte es dafür geben? Amandas Worte kamen mir in den Sinn: Ulrika litt auch an Verfolgungswahn …

War das doch möglich? Hatte Lovisa sich diese Marker-Geschichte nur eingebildet? Es schien mir einfach so weit hergeholt, dass irgendwelche Agenten oder zwielichtigen Typen es auf sie abgesehen haben sollten. Es musste eine logische Erklärung für alles geben, ich kannte nur noch nicht genug Details. Es gab immer eine logische Erklärung für alles – diese Gewissheit hatte mir bisher geholfen, trotz meiner Traumbegegnungen und schizophrenen Anwandlungen, nicht den Verstand zu verlieren. Ich wusste, was real war und was nicht, auch, wenn es manches Mal schwer fiel, mich nicht in der Traumwelt zu verlieren. Sich wegzuträumen, um Problemen zu entgehen, war ein Spiel mit dem Feuer. Ich wusste das, denn es gab genug Menschen, die den Bezug zur Realität verloren – wie Ulrika es offenbar getan hatte.

Mir fielen Lovisas ganzen Horrorgeschichten ein. Sie schrieb so packend, so realitätsnah …

Ich bremste mich selbst. Nur weil Lovisa Geschichten schrieb und eine psychotische Mutter hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie selbst auf dünnem Eis ging. Bevor mir niemand eine plausible Erklärung für diese Haarsträhne geliefert hatte, musste ich davon ausgehen, dass Lovisa tatsächlich verfolgt worden war.

 

»Offenbar war auch ein junger Mann bei Lovisa, als sie gefunden wurde«, sagte Simon gerade und schob seine Pizza etwas zu ruppig auf dem Teller umher.

»Ein Kerl?«, fragte Josefin mit vollem Mund. Sie schaufelte sich noch Krautsalat hinterher.

Ich warf Simon einen Seitenblick zu. »War das dieser Erik, von dem Jon erzählt hatte?«, fragte ich. »Der, der Isa gestalkt hat?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Jon sagte nur, dass er spurlos verschwunden ist. Die Polizei fahndet nach ihm. Er könnte womöglich doch der Entführer sein. Isa hat wohl noch nicht viel gesagt, seit sie zurück ist. Sie steht unter Schock. Die Polizei hat auch noch nichts aus ihr raus bekommen. Und Ulrika kann ja keiner mehr fragen.«

»Arme Isa«, murmelte ich. »Das ist nur verständlich. Sie muss total fertig sein …«

»Also für mich steht fest, dass der Typ Dreck am Stecken hat!«, sagte Simon heftig. »Er hat sicher auch die Haarsträhne geklaut!«

»Aber warum?«, fragte Amanda. Sie war reichlich blass um die Nase und fingerte ständig an Filips Hand herum. Obwohl das vielleicht nicht unbedingt was Neues war.

»Warum sollte jemand sie verfolgen und stalken?«

»Das sind meist richtig kranke Menschen«, meinte Josefin.

»Dafür braucht es keinen verständlichen Grund«, sagte Filip. »Solche Typen sind einfach besessen.«

Ja, da hatte er recht. Solche Irren gab es immer wieder.

»Aber wie passt Ulrika ins Bild? Warum hat er sie auch entführt?«, fragte ich. Irgendetwas stimmte da nicht.

»Ganz genau«, knurrte Simon. »Da steckt mehr dahinter. Daher auch dieser hochmoderne Marker!«

Amanda sah ihn unverhohlen skeptisch an. »Du glaubst wirklich, dass da was Wahres dran ist?«

Die Blicke der anderen zeigten ebenfalls Zweifel. Sogar meine.

»Da die Strähne weg ist, werden wir es wohl nie erfahren!«, presste Simon zornig hervor.

Irgendwie war er seit Lovisas Verschwinden dauerwütend. Er wirkte, als ob er jemanden umbringen wollte. So aggressiv kannte ich Simon gar nicht. Aber das hier war eine Ausnahmesituation, und außerdem war er in Lovisa verliebt. Irgendwie konnte ich seine Gefühle gut verstehen, auch wenn ich sie nicht teilte – also den Teil, der jemanden erwürgen wollte.

Es tat uns gut, zusammen zu sein, alle waren heilfroh, dass Lovisa wieder zurück war, doch wir machten uns natürlich Gedanken darüber, wie sie diese Entführung verkraftet hatte. Am meisten schien das Amanda zu bedrücken. Sie war nervös. Nicht mehr dieses panisch Nervöse, sondern unsicher nervös. Verständlich, immerhin war sie ihre beste Freundin. Sie machte sich einfach Sorgen. Außerdem vermutete ich sehr stark, dass Amanda genauso wenig mit Lovisas Rückkehr umzugehen wusste, wie mit ihrem Verschwinden. Amanda war einfach nicht sehr gut in diesen Gefühlssachen, wie sie das selbst nannte. Vermutlich hatte sie sogar Angst vor der ersten Begegnung mit Lovisa, weil sie einfach nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Ich konnte es Amanda gut nachfühlen. Was sagte man jemandem, der durch die Hölle gegangen war?

 

Ich lag am Abend noch lange wach und ließ meine Gedanken wandern. Es war eine nervenaufreibende Woche gewesen. Diese Unsicherheit und Sorge hatte an unseren Nerven gezerrt. Aber Lovisa war wieder da. Von nun an würde es besser werden, beruhigte ich mich. Wir mussten nur alles auf uns zukommen lassen, genau wie ich den Schlaf zulassen musste, um herauszufinden, ob meine Albträume wieder auf ihr normales Maß zurückfinden würden. So schrecklich die Schatten, die Klinge und die blasse Hand auch waren, der grausame Mord an dem Kind mit Lovisas Kopf war einfach nicht zu ertragen. Ich hätte nie geahnt, dass ich meinen gewohnten Albtraum, einem anderen Traum vorziehen würde. Ich dachte an meinen Vater und sein Versprechen, mit mir auf die Azoren zu fliegen. Drei Tage. Das würde ich durchstehen. Trotzdem hatte ich regelrecht Angst einzuschlafen und zögerte es so lange wie irgend möglich hinaus. Doch irgendwann übermannte mich die Müdigkeit.

 

Ein Kind spielte mit einer Lokomotive. Es schob den Zug über den Dielenfußboden und stieß dabei ein leises tuff, tuff, tuff aus. Das etwa fünfjährige Kind wandte sich mir zu. Doch dort, wo das Gesicht sitzen sollte, sah ich nur eine verschwommene Masse – dunkel wie ein Schatten. Ein Lachen ertönte. War das ein Junge? Dann hob das Kind eine Hand und winkte mir zu. Mein Herz schlug schneller, als wartete es bereits auf das Grauen, das unweigerlich kommen würde. Und obwohl ich es schon lauern spürte, war ich unfähig, mich zu rühren, geschweige denn, eine Warnung auszurufen. Meine Kehle schnürte sich bereits zu, bevor die Schatten nach mir greifen konnten.

Die Tür schlug mit einem furchtbaren Knall an die Wand. Ich zuckte zusammen, rang nach Luft, obwohl da gar nichts war, dass mir die Kehle zudrückte …

Wie gelähmt starrte ich auf die Szene vor mir. Das Kind kam nicht dazu, sich nach seinem Angreifer umzusehen – genauso wenig, wie Lovisa es in meinen letzten Träumen geschafft hatte. Und obwohl ich wusste, was kommen würde, konnte ich den Blick nicht abwenden. Starr vor Schreck sah ich zum gefühlten tausendsten Mal, wie ein Schatten in das Zimmer stürzte, eine silberne Klinge aufblitzte und das Kind brutal von hinten gepackt wurde. Ein einziger fließender Schnitt …

Ein gurgelndes Geräusch, jemand schrie. Ein Mädchen? Und dann sah mir der Mörder direkt in die Augen …

 

Ich erschrak so sehr, dass ich schreiend aus dem Bett fiel. Zitternd blieb ich halb sitzend gegen mein Bettgestell liegen und starrte in die Dunkelheit.

Dieses Gesicht! Diese Augen! Oh, mein Gott, ich kannte diesen Mann … Doch woher?

Fieberhaft suchte mein Gehirn in den Nachwirkungen des Albtraumes nach vergrabenen Erinnerungen. Wie aus den unheimlichen Tiefen des Ozeans stieg ein Name an die Oberfläche – Duncan Hill.