Leseprobe aus "Das Vermächtnis der Lil'Lu"

Vor vielen tausend Jahren …

 

 

Sie versammelten sich vor vielen Tausend Jahren. Vier Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, standen sich in einem magischen Zirkel gegenüber – eine Hexe, ein Mensch und eine Nephilim – Erde, Wasser und Luft. Braun, blau und gelb. Und eine Lil`Lu in einem roten Gewand. Sie repräsentierte die Schöpfungskraft. Die Kraft derjenigen, die man einst Engel taufte – das Feuer.

Vier Elemente, um das Unheil aufzuhalten. Vier Frauen für ein Ziel – die Rettung der Schöpfungskraft. Die Rettung der Engel!

In der Mitte des magischen Zirkels lag ein ledergebundenes Buch auf einem podestähnlichen Stein. Ein silbernes Leuchten drang aus seinem Inneren, während die vier Frauen die Kräfte der Universen anriefen.

Ein Windzug fuhr durch die mit Fackeln erleuchtete Grotte, strich um die Beine der Frauen, blähte ihre Gewänder, ließ ihre Haare verwehen und zentrierte sich dann über dem silber leuchtenden Buch. Es fing 


an zu glühen, schien Feuer zu fangen, Flammen schlugen empor. Der Wind nahm an Stärke zu, ließ die Flammen emporzündeln und erfasste den Einband des Buches wie mit unsichtbaren Fingern. Das Buch öffnete sich schlagartig. Ein Lichtblitz entlud sich, dann blätterten die Seiten rasend schnell bis zu einer Seite vor, so, als hätte der Wind ein Bewusstsein. Der Sturm beruhigte sich wieder. Die Flammen zogen sich zurück und hinterließen lediglich ein schimmerndes Glühen.

Die Lil`Lu in ihrem roten Gewand begann nun ihrerseits, silbern zu leuchten. Mit hoch erhobenem Haupt und vorgestreckten Armen fing sie zu sprechen an, während die drei übrigen Frauen – eine nach der anderen – in die Mitte des Zirkels traten.

 

In der Schöpfung Kraft vereint,

das Feuer durch mich spricht.

Im Zeichen der Erde geboren,

schenke uns das Licht.

 

Die braun gewandete Hexe ließ sich vor dem Buch auf die Knie nieder, legte ihre Hand auf die leere Seite und brannte ihr Zeichen hinein – ein Pentagramm.

Die Lil`Lu wiederholte:

 

In der Schöpfung Kraft vereint,

das Feuer durch mich spricht.

Im Zeichen des Wassers geboren,

schenke uns das Licht.

 

Die Menschenfrau in ihrem blauen Gewand kniete sich hin. Flammen züngelten aus dem Buch empor, ein Windstoß blätterte mehrere beschriebene Seiten vorwärts. Ein neues leeres Blatt erschien. Die Frau legte ihre Hand auf die Seite und brannte ihr Zeichen hinein – einen Kelch.

Die Lil`Lu sprach ihre Worte ein drittes Mal – rief das Element Luft an.

Die Nephilim in ihrem gelben Gewand nahm den Platz vor dem Buch ein. Sie wartete, bis der Windstoß ihr eine leere Seite zuwies und die Flammen sich beruhigten. Ihr Zeichen war ein Dolch. Er brannte sich unter ihrer Handfläche in das Papier.

Die drei Frauen und die Lil`Lu schlossen erneut den Kreis um das Buch. Sie fassten sich an den Händen und sprachen gemeinsam:

 

Eine Hochzeit der Elemente,

Erde, Wasser und Luft,

gebrandmarkt durch unsere Hände,

ein neues Zeitalter ruft.

 

Das Schicksal führt sie in Welten,

von Hoffnungsträgern bewohnt.

Die Liebe wird ihnen helfen,

Mut und Vertrauen, das wird belohnt.

 

Um Leben werden sie kämpfen,

um das Licht der Schöpfung gar.

Hoffnung werden sie schenken,

der, die uns einst gebar.

 

Den Kreislauf zu unterbrechen,

das ist eure Pflicht.

Die Existenz des Feuers zu retten,

davor fürchtet euch nicht.

 

Geht gemeinsam, Hand in Hand,

durch die Flammen, durch die Glut.

Eure Liebe in Liliths Land,

wird sie bannen durch das Blut.

 

Der leichte Wind veränderte sich, wuchs in Sekundenschnelle zum Sturm. Er zerrte heftig an den Seiten des Buches, blätterte sie vorwärts und rückwärts, bis eine herausriss! Und noch eine …

Das erste Blatt schwebte nach oben, dicht gefolgt von einer zweiten und dritten Seite. Sie wirbelten umeinander, berührten sich, als ob sie ein letztes Mal ihre Nähe spüren wollten, dann wurden sie erfasst und in drei entgegengesetzte Himmelsrichtungen geschleudert. Drei grelle Lichtblitze blendeten die Frauen, und die Blätter verschwanden im Nichts. Das Buch klappte mit einem Knall zu.

Schlagartig erlosch das Feuer, kein Lüftchen regte sich mehr. Es war still in der Grotte, wie in den Weiten der Universen.


 

In einem Paralleluniversum vor 21 Jahren

 

Ein mächtiger Knall zerriss die übliche Stille, gefolgt von einem dumpfen Grollen, das sich durch die Burgmauern fortpflanzte. Die Erde bebte.

Dania sprang entsetzt auf – viel zu schnell, viel zu ruckartig für ihren Zustand. Ein nie erlebter Schmerz durchzuckte ihren prallen Unterleib und entfesselte den Nephilim in ihr. Ihre Hände wurden zu Krallen, lederartige Flügel wuchsen aus ihrem Rücken und zerrissen das Umstandskleid. Dania kreischte entsetzt auf, als es feucht an ihren Beinen herablief. Nein! Das durfte nicht sein! Es war viel zu früh! Ein weiterer Knall, und ein weiterer schier unerträglicher Schmerz stach zu. Dania sackte zusammen, schrie aus Leibeskräften und presste mit ihren Krallen auf ihren schwangeren Bauch, so als könne sie dadurch alles zusammenhalten.

Hilfe, ich brauche Hilfe! Dania nahm all ihre Kraft zusammen und stemmte sich auf die Beine. Sie musste das magische Glimmen im Türrahmen erreichen. Ein Knopfdruck nur, das würde reichen, um die Hebamme zu alarmieren. Der Schweiß trat Dania aus allen Poren, sie schmeckte Blut. Oder roch sie es? Eine weitere unnatürlich starke Wehe warf sie erneut zu Boden. Ihre Hände rutschten bei dem Versuch, sich abzustützen, weg. Es krachte erneut, der Turm bebte. Dania versuchte, sich zu konzentrieren und die panische Angst zu bändigen, die sie ergriffen hatte. Sie atmete tief durch, dann sah sie das Blut. Ihre Hände badeten darin – sie badete darin! Das zerfetzte Kleid war rot getränkt und klebte ihr zwischen den Beinen. Dania begann zu hyperventilieren. Die nächste Wehe presste das Kind heraus. In einem Schwall von Blut bahnte es sich seinen Weg, rutschte ihre Oberschenkel entlang und wurde von rotgetränktem Stoff aufgefangen, bevor es zu Boden glitt.

Der Schmerz ließ schlagartig nach, Dania sackte in sich zusammen, keuchte und starrte durch einen Tränenschleier an die hohe Decke des Turmzimmers. Sie zitterte am ganzen Leib, fühlte sich schwach und müde wie nie zuvor in ihrem Leben und glitt langsam davon.

Ein erneuter Angriff erschütterte die Burg – es krachte, Blitze zuckten, Menschen schrien. Es klang, als wären sie ganz nah. Das Baby! Das Baby schrie!

 

Die Tür zum Turmzimmer wurde aufgerissen.

»Sie greifen an, meine Herrin. Wir müssen …« Die Hebamme verstummte, dann ein Aufschrei. »Nein!«

Schnelle Schritte, sie kniete nieder und fühlte den Puls. Ein seltsamer Laut entfuhr ihr. Obwohl die Hexe wusste, dass es nutzlos war, griff sie nach der Kraft des Elements Erde. Sie beugte sich über ihre Herrin, legte die Hände auf und murmelte seltsame Worte aus einer anderen Zeit.

Danias Augenlider flackerten. Sie nahm die Hebamme wahr. Ihre Lippen formten Worte. Nur ein Flüstern, doch in der kurzen Phase der Stille zwischen zwei neuen Angriffen war es wie von Geisterhand verstärkt.

»Sie lebt … Sie soll Danniella heißen … Meine Tochter …« Ein letzter rasselnder Atemzug, dann verließ das Leben Danias Körper für immer.

 

»Es werden immer mehr!«, brüllte Santo Laird Gregor zu. »Sie kommen von überall aus dem Nichts! Wechsler, immer mehr Wechsler!«

Laird Gregor biss die Zähne zusammen, dass die Kiefermuskeln hervorquollen. Verdammte Brut! Sie gehörten vernichtet, einer wie der andere! Die Terroranschläge hatten in den letzten Jahren erschreckend zugenommen. Und nun das – ein massiver Angriff auf seine Burg. Ein gezielter Angriff. Wie war das möglich? Weshalb gerade Burg Vidarfjord? Viele Fragen, die warten mussten.

»Hält die magische Barriere?«, fragte er stattdessen und ließ seinen Blick über die Burgmauern streifen. Blitze zuckten, es krachte erneut, dass die Erde bebte.

»Erste feine Risse im Gemäuer, doch noch besteht keine Gefahr. Es ist kein magischer Angriff!«, rief Santo.

»Massenvernichtungswaffen?« Laird Gregor blickte voller Zorn auf die pilzartige Wolke, die vor den Burgmauern emporstieg. Santo nickte.

»Verfluchte Mörder«, zischte Laird Gregor. »Lasst keinen am Leben, ich will sie tot sehen, jeden Einzelnen von ihnen!«

Santo schüttelte ergeben den Kopf. »Wie …« Dann hielt er inne. Er zögerte.

»Spuck es aus!«, schrie Laird Gregor.

Santo zuckte zusammen und schluckte. »Dort draußen ist vermutlich keiner von unseren Leuten mehr am Leben. Wir könnten Brenngas einsetzen, mein Laird. Doch falls es Überlebende gibt …«

»Tu es!«, brüllte Laird Gregor. »Sie überrennen uns!«

Es krachte erneut – einmal, zweimal, dreimal –, die magische Barriere flackerte.

»Sofort!«

Santo eilte davon und Laird Gregor betrachtete voller Zorn und Besorgnis, wie immer mehr Wechsler aus dem Nichts auftauchten und ihre tödlichen Waffen gegen die Mauern von Burg Vidarfjord richteten. Es krachte, blitzte und bebte in immer kürzeren Abständen. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die Barriere brach und sie alle verloren waren. Gezielte Angriffe. Selbstmordattentäter – Tausende an der Zahl. Wenn das die neue Strategie der Wechsler war, würde seine Welt nicht lange standhalten. Gregor bohrte seine Krallen in die Brüstung und hielt die Luft an. Wo blieb nur sein befohlener Gegenangriff? Brenngas. Im Umkreis von dreißig Kilometern würde nichts überleben. Eine kahle Wüste für mindestens zehn Jahre. Auch Magie würde da nicht helfen, irgendetwas zum Wachsen zu bringen. Über einen Zeitraum von zwei Wochen würde eine Wand aus Plasma seine Burgmauern umgeben, den Berggrund zum Schmelzen bringen und nichts und niemanden hinein oder hinaus lassen. Die magische Barriere würde sie schützen, doch nur, wenn sie nicht vorher fiel. Brenngas konnte den Mauern nichts anhaben, dafür hatten seine Magier gesorgt, doch die Waffen dieser Wechsler waren anders. Fremd.

Eine Dienstbotin eilte heran und zuckte unter weiteren Angriffen und hellen Blitzen erschrocken zusammen. »Mein Laird«, rief sie gegen das Tosen an. Ihre Stimme brach vor Angst. »Tara schickt mich mit einer Nachricht. Es geht um Herrin Dania.«

Laird Gregor riss sich vom Anblick der einschlagenden Bomben ab und wirbelte herum. »Was gibt es?« Sein Blick war wild, er ballte seine Krallen zu Fäusten. Er wusste, es war ernst. Niemand würde es wagen, ihn im Augenblick einer Katastrophe zu belästigen, wenn es nicht wirklich wichtig war.

Hinter Laird Gregor detonierte die letzte Bombe. Ihr ohrenbetäubender Lärm wurde von einem Zischen und darauf folgendem Tosen verschluckt, dann flog eine Feuersbrunst über das Land vor den Mauern von Burg Vidarfjord. Während die Dienstbotin ihm händeringend ihre Nachricht überbrachte, leckten Flammen die magische Barriere empor, die sich wie eine Kuppel über die Burg zog. Sie erhitzten die Luft und verwandelten alles auf ihrem Weg in schmelzend heißes Plasma. Als glühende Hitze den Himmel verdrängte und für mehr als zwei Wochen jeden ankommenden Wechsler sofort verschlingen würde, schrie Laird Gregor seinen Schmerz hinaus. Dania – die Liebe seines Lebens.

 

»Sie ist eine Königin, mein Laird«, sagte Tara sanft.

»Bist du sicher?« Laird Gregors Stimme klang hohl, fast wie ein Flüstern.

»Ihr Duft war unverkennbar. Ihr wisst, dass der Lockstoff nur kurz nach der Geburt auftritt und dann erst wieder zur Geschlechtsreife.«

Laird Gregor starrte das kleine Mädchen an, das schlafend in einer Wiege lag. Danias letztes Geschenk an ihn – eine Tochter. Eine Königin? Er wagte es kaum zu glauben.

Tara legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter. »Ich schwöre es bei Herrin Danias Leben. Dieses Kind ist eine Königin!«

Laird Gregor ballte die Fäuste und holte tief Luft. »Einundzwanzig Jahre warten«, wisperte er. »Wir müssen nur standhalten …« Er beugte sich vor und betrachtete das Kind mit hartem Blick. Jede Minute, jede Sekunde für den Rest seines Lebens, würde ihn dieses Mädchen an seinen Verlust erinnern. Dania. Doch sie war die Zukunft dieser Welt.

»Danniella«, flüsterte er mit gepresster Stimme. »Wir werden sehen, wer sich deiner würdig erweist und dann …« Er ballte die Fäuste und wandte sich ab. »Kümmere dich gut um sie!« Dann verließ er die Babykammer. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen.


 

Danniella

 

Die Erde in einem parallelen Universum

 

 

Es war eng und stickig, und es roch definitiv nach Tod. Danniellas feine Nase rümpfte sich. Kein Ort, um länger zu verweilen, doch sie musste mehr erfahren. Sie kroch näher, versuchte, den Gestank zu ignorieren und presste ihr Ohr an die Wand.

»Ist Danniella bereit? Die zwölf Kandidaten werden morgen früh eintreffen.« Baltars Stimme, der Großmeister der Brüter.

»Sie wird keine Wahl haben, egal, wie bockig sie sich anstellt«, knurrte jemand.

»Schweig!« Die Stimme ihres Vaters, Laird Gregor von Vidarfjord. »Selbstverständlich ist sie bereit. Ihr ganzes Leben wurde sie auf diesen Moment vorbereitet. Sie kennt ihre Pflicht!« Gemurmel folgte, das Danniella nicht verstand. Es klang zweifelnd. Sie ballte grimmig die Fäuste. Pflicht, wie sie dieses Wort zu hassen gelernt hatte.

»Danniella wird, wie es die Tradition verlangt, morgen ihren ersten Erzeuger wählen«, sagte ihr Vater, und seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er sie zwingen würde, falls sie nicht gehorchte. Zwölf Kandidaten, aus denen Danniella sechs auswählen sollte, für die erste Brut der neuen Generation. Männer, mit denen sie Nephilim zeugen sollte, ausgewählte Kämpfer, deren Erbgut weitere Kämpfer hervorbringen sollte. Danniella wurde nicht gefragt, sie hatte ihre Pflicht zu erfüllen. Sie hatte ihre Einwände geäußert, ihrem Vater erklärt, dass sie aus Liebe heiraten wollte, so wie er. Sie hatte versucht, vernünftig mit ihm zu reden. Als das nichts half, hatte sie getobt und gefaucht und zuletzt gebettelt. Er war hart geblieben. Er hatte Danniella mit seinen blitzenden Augen angesehen und gezischt: »Letztendlich wirst du keine Wahl haben und es sogar gerne tun. Also spar dir deinen Atem, du wirst ihn für die Erzeugernächte brauchen.«

Niemals würde sie es gerne tun! Nicht mit sechs verschiedenen fremden Männern, die sie nicht kannte und die Danniella nur aus einem Grund haben wollten – um sie zu begatten, um ihre ach so wertvolle Frucht weiterzugeben. Niemals!

»Sie ist die Antwort auf all unsere Hoffnungen«, hörte sie Douglas sagen, ihres Vaters rechte Hand und ein hochrangiges Mitglied der Brüter, die Danniellas Brut pflegen sollten und ihre Nachkommen schulen und in den Kampf schicken würden. »Wir können von Glück sagen, dass der Angriff auf Burg Vidarfjord erfolgreich abgewehrt wurde. Dank Laird Gregors furchtlosem Einsatz von Brenngas. Ja, es hat uns viel gekostet, doch es rettete die Königin, das Kind. Andere in dieser Nacht geborene Säuglinge hatten nicht so viel Glück. Wir verloren viele gute Krieger und noch mehr Zivilisten.«

»Douglas hat recht«, sagte jemand, dessen Stimme Danniella nicht kannte. »Auch wenn es das letzte Aufbäumen eines sterbenden Universums war, so waren und blieben sie die ersten Wechsler, die gezielt vorgingen. Ihre Welt stand kurz vor der Explosion, sie hatten nichts mehr zu verlieren, sie kämpften allein für andere Welten mit dem gleichen Ziel – uns zu vernichten. Sie geben uns die Schuld an ihrem Ende. Und sie hatten einen Vorteil. Sie müssen von der bevorstehenden Geburt einer Königin gewusst haben, daher die gezielten Angriffe auf hochrangige Nephilim, die kurz vor der Niederkunft standen.«

»Vermutlich ein Seher mit dem Zweiten Gesicht«, sagte der Großmeister der Brüter. »Und wir können von Glück sagen, dass andere Universen bisher nicht solch gefährliche Informationen zu besitzen scheinen. Angriffe aus anderen Welten geschehen immer häufiger, aber wir konnten sie bisher aufhalten. Doch unsere Reihen sind ausgedünnt. Lange halten wir nicht mehr stand.«

»Und Danniella weiß das!«, sagte ihr Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch. Zumindest vermutete Danniella, dass das Poltern daher kam, denn er tat das öfter, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Also verbitte ich mir weitere Diskussionen über den Gehorsam der Königin! Oder will jemand behaupten, ich hätte meine eigene Tochter nicht im Griff?«, fragte er bedrohlich herausfordernd. Danniella verdrehte die Augen. Er hatte nicht. Doch das würde ihm hoffentlich erst so richtig bewusst werden, wenn sie meilenweit entfernt war. Sie hatte genug gehört. Morgen früh also. Die warteten wirklich nicht eine Sekunde länger, als sie mussten. Morgen war Danniellas einundzwanzigster Geburtstag, der Tag der Geschlechtsreife einer Königin. Für sie hieß das, es wurde allerhöchste Zeit zu verschwinden, denn sie hatte einen Entschluss gefasst – niemand außer ihr selbst würde jemals über ihren Körper entscheiden!

Wie sie entkommen wollte? Danniella grinste in sich hinein. Niemand außer ihr kannte das Gemäuer von Burg Vidarfjord besser als sie. In den letzten einundzwanzig Jahren hatte sie jede freie Minute damit verbracht, ihr Gefängnis auszukundschaften. Oh ja, die Burg war für sie eine Art Gefängnis. Sie durfte hinaus, doch nur unter Aufsicht. Nur innerhalb dieser Mauern konnte sie sich frei bewegen und das hatte sie bis in den letzten Winkel hinein ausgenutzt. Bereits mit zehn Jahren entdeckte sie diesen Geheimgang, der bis hinter die Burgmauern reichte. Streifzüge – meist nachts – in der näheren Umgebung folgten, immer darauf bedacht, sich nicht erwischen zu lassen. Heute würde sie nicht zurückkehren.

Vorsichtig kroch sie aus dem Winkel der Kammer zurück in den Gang. Dort schulterte sie ihr Gepäck und tastete sich in gebückter Haltung vorwärts. Sie hatte Proviant für sieben Tage dabei. Sieben Tage, in denen sie ihren Duft nicht einsetzen musste.

Die Nephilim haben Düfte, die sie gezielt einsetzen können, beispielsweise zur Jagd oder als Sexuallockstoff. Danniella als Königin sollte für Letzteres mit der Geschlechtsreife noch einen ganz anderen Duft entwickeln. Einen Duft, der nur Königinnen vorbehalten war. Sie würde nicht darauf warten, ihn in Gegenwart einer ihrer Begatter zu erlangen.

Obwohl Danniella als Nephilim nachts hervorragend sehen konnte, nutzte ihr das hier unten in vollkommener Dunkelheit wenig. Weit genug von der Kammer entfernt holte sie einen Lichtstein hervor und folgte dem sich windenden Gang bis in eine weitere, etwas größere Kammer. Ihr Quartier für die nächsten drei Tage. Weshalb sie nicht sofort floh? Ganz einfach. Gleich am nächsten Morgen würde sich eine Horde Brüter und Wachen auf ihren Himbeergeruch stürzen. Ja, sie roch nach Himbeeren. Es gab definitiv Schlimmeres. Zum Glück mochte sie Himbeeren. Die Jäger würden mit Sicherheit ihre Fährte aufnehmen und sie in wenigen Stunden aufgespürt haben. Der Duft der Nephilim in Ruhestellung ist sehr schwach, doch für trainierte Fährtenleser mit Sicherheit zu finden. Hier in der Burg roch alles nach ihr, niemand würde den Eingang zum Tunnel finden, sie würden ihn überhaupt nicht suchen, denn niemand ahnte auch nur, dass es ihn gab. Wüsste Danniellas Vater davon, er ließe ihn bewachen. Wenn sie dort drei Tage ausharrte, hatten ihre Verfolger sich bereits auf ihrer Suche nach ihr weit von der Burg entfernt. Das war Danniellas Chance, unentdeckt zu entkommen. Sie würden ringförmig von der Burg aus alles absuchen, doch sie würden keine Zeit darauf verwenden, ringförmig alles noch einmal rückwärts zu überprüfen. Wer als Bote zurückgeschickt wurde, um Bericht zu erstatten, der nahm einen direkten Weg. Danniella konnte nur darauf hoffen, dass dieser Weg nicht zufällig ihren Fluchtweg kreuzte. Ihr Plan war es also, sich hinter ihren eigentlichen Verfolgern aufzuhalten. Sie hoffte, das war gerissen genug, um zu funktionieren.

Danniella packte eine isolierende Unterlage aus und deckte sich mit ihrem Mantel zu. Dann bereitete sie sich auf eine drei Tage lange Nacht vor.


 

Im All, vor vielen Tausend Jahren

 

 

Ein heller Blitz.

Es entstand aus dem Nichts und wurde mit den Jahren größer. Ein Jahr – solch kleine Einheit. Was ist schon ein Jahr in der Ewigkeit der Universen?

Es bestand aus reiner Energie – körperlos, strahlend, leuchtend existierte Es im Übergang von einem Universum zum nächsten.

Mit den Jahren entwickelte Es das Bewusstsein, zu sein.

»Ich bin hier, also existiere ich.«

Solche Gedanken beschäftigten Es, während Es an Stärke gewann. Nach weiteren Jahren erkannte Es, es war nicht allein. Es gab mehrere von ihnen – männliche und weibliche. Es war ein Er!

Er konnte die Gedanken der anderen hören! Doch, als er begann, sie zu verstehen, erschrak er so sehr, dass seine Energie sich als roter Blitz am Rande seines Universums entlud: Überall herrschte Panik! Seine Art wurde vernichtet!

Er konnte ihre Schreie hören, kurz bevor sie für immer verstummten. Schreie, hervorgerufen durch entsetzliche Qualen, Schreie, die von Existenzangst und Verzweiflung erzählten. Schreie, die er nie vergessen würde …

Und in seiner Verzweiflung begann er, weiterzuwachsen. Nicht wie zuvor, als er lediglich erwachsen wurde – nein, er wuchs nun, um stark zu werden. So stark, dass er sich vielleicht würde wehren können. Vielleicht ... Wehren! Gegen einen unsichtbaren Gegner, der die Existenz seiner Art bedrohte ... Vernichtete ... Jagte. Und so wuchs er. Mit all seiner Kraft. Von nur einem Gedanken getrieben: überleben!

 

Ulrika, Schweden von 17 Jahren

 

Ulrika legte den Stift weg. Ein Schauer überlief ihren Körper. Sie starrte auf das Geschriebene. Ihre Vision. Sie hörte die Schreie des Universums. Fühlte die Panik, als wäre es ihre eigene. Lichter überfluteten ihr Gehirn, tanzten immer schneller. Verzerrten den Raum um sie herum. Versuchten, sie mit sich fortzuziehen.

»Nein! Wehre dich! Lass es nicht geschehen!«

Schritte auf der Auffahrt. Kurze Ruhe. Es klopfte. Ulrikas Herz machte einen Sprung. Sie versuchte, die Wahrheit zu fassen. In der Realität zu bleiben. Sie fasste sich an ihren schwangeren Bauch. Sie fühlte das Leben darin. Hielt sich daran fest. Lovisa – ihr ungeborenes Kind. Ulrika zog sich mit aller Kraft zurück in die Realität. Ihr Blick wurde wieder klarer. Sie sah das Geschriebene vor sich liegen.

Er!

Es klopfte wieder. Dieses Mal energischer. Härter. Fordernd. Befehlend!

Sie kommen!

Ulrika ergriff das Blatt Papier, sprang vom Stuhl auf und fiel wenige Schritte weiter auf die Knie. Alte Dielen. Eine war lose. Ihr Versteck!

Ulrika presste das Blatt zu den anderen. Hörte, wie die Haustür aufbrach.

 

Sie lag auf dem Rücken. Bilder, Lichter zuckten. Hatte sie es geschafft?

Starke Arme erfassten sie. Hoben sie hoch. Jemand sprach Worte, die nicht zu ihr durchdrangen. Ein Mann.

Das Papier! Hatte sie es geschafft? War es sicher?

Ulrika wand sich in den Armen des Mannes. Er hielt sie fest, doch sie vergewisserte sich noch einmal. Nichts deutete darauf hin, dass es eine lose Diele gab. Sie hatte es getan. Konnte sich nicht erinnern. Doch das Versteck würde ihr Geheimnis bleiben. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als der Mann sie ins Freie führte.

 

 

 Ende der Leseprobe.