Leseprobe aus "Die Erben der alten Zeit - Der Thul"

Leseprobe aus dem 2. Band der Fantasy Trilogie Die Erben der alten Zeit.

 

Kunars und Toras Erklärungen, dass auf Godheim wesentlich mehr Menschen lebten als in Vanaheim, wurden auf den ersten Kilometern bestätigt. Händler, Bauern und Reisende aller Art waren auf der zunehmend steinigen Straße unterwegs. Gleich mehrere Höfe und zwei Dörfer säumten ihren Weg gen Süden.

Eine kleine Schale mit getrockneten Blüten, die Tora etwas versteckt am Eingang zu einem der Höfe fand, zeigte ihnen, dass sie hier Hilfe erwarten konnten. Ein aufgeweckter, dünner Junge gab ihnen Auskunft über die Richtung, die sie einzuschlagen hatten.

Es war schon fast dunkel, als sie endlich den Arnoldshof erreichten. Charlie hatte bereits an Kapitän Brages Wegbeschreibung zu zweifeln begonnen, doch dann lag der Hof plötzlich vor ihnen, eingebettet


zwischen zwei sanften Hügeln und mit einem kleinen, rauschenden Bach, der sich gen Hvergelmer schlängelte.

Als die Reisenden ankamen, wurden sie von einer Horde Kinder empfangen, die sich aufgeregt um den vollbepackten Gler scharten. Das älteste von ihnen, ein Mädchen von etwa neun Jahren, begrüßte sie schüchtern. Offenbar hatte sie mit Kapitän Brage höchstpersönlich gerechnet. Ihr war eine leichte Enttäuschung anzumerken.

Ob Kapitän Brage und die kranke Witwe wohl …?

Charlie schob ihre Gedanken beiseite und führte Gler über den Hof zum Wohnhaus hinüber. Die Kinderschar folgte ihnen schnatternd und half ihnen bereitwillig, die Waren ins Haus zu schaffen.

»Wie heißt du?«, fragte Charlie das Mädchen.

»Inga«, murmelte sie. »Mutter schläft endlich ein wenig«, fügte sie dann verlegen hinzu. Charlie lächelte sie aufmunternd an, was dem Mädchen eine leichte Röte ins Gesicht trieb. Kunar warf Charlie einen vielsagenden Blick zu.

»Sie steht auf dich«, raunte er ihr im Vorbeigehen ins Ohr. Charlie sperrte entsetzt die Augen auf. Sie machte sich hastig an Glers Satteltaschen zu schaffen. Andere im Glauben zu lassen, dass sie ein Junge war, führte doch zu unerwarteten Situationen.

Als endlich all ihr Gepäck im Haus verschwunden und Gler beim hofeigenen Einhorn im Stall untergebracht war, wo er sich genüsslich über das frische Heu hermachte, versammelten sich alle Kinder in der Küche des Arnoldshofes. Über der offenen Feuerstelle hing ein großer Kessel. Ein herrlicher Duft schwebte herüber, der Charlie das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

»Wir wollten gerade zu Abend essen«, sagte Inga. »Würdet ihr uns Gesellschaft leisten? Es ist genug für alle da.« Sie sah Charlie dabei verstohlen an.

»Natürlich nehmen wir deine freundliche Einladung an«, murmelte sie.

Bald war der große Tisch gedeckt, alle Kinder auf die Stühle verteilt und der große Kessel mit herzhaftem Eintopf mitten auf dem Tisch platziert. Inga schnitt noch frisches Brot auf und setzte sich dann endlich zu ihren fünf Geschwistern und den drei Besuchern. Das wilde Durcheinander verstummte schlagartig, als alle ihre dampfenden Teller vor sich hatten. Eine Weile genossen sie schweigend das wunderbar riechende, üppige Mahl.

Es war lange her, dass Charlie, Tora und Kunar so gut und reichhaltig gegessen hatten. Es fehlte dem Arnoldshof offensichtlich nicht an Lebensmitteln, und auch sonst bekam Charlie den Eindruck, dass es sich hier um einen recht wohlhabenden Haushalt handelte.

Noch während sie aßen, zog ein Sturm auf. Der Wind begann an den Fensterläden zu zerren und plötzlich trommelte Hagel auf das Dach. Inga spähte in die Dunkelheit hinaus. Kunar folgte ihr.

»Ein Schneesturm. Nun kommt der Winter wohl doch noch. Wir sollten genügend Holz reinholen, so ein Sturm kann Tage dauern«, sagte sie.

Inga sah etwas überfordert zu ihren Geschwistern und dem Tisch voller Geschirr hinüber.

»Ich übernehme das«, sagte Tora schnell. »Geh du nur und zeige Kunar und Charlie, wo sie Holz finden.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Nebenraum und eine in Decken gewickelte Frau trat heraus.

»Mutter!«, rief Inga besorgt. »Du solltest im Bett bleiben! Ich bringe dir ein wenig Brühe.«

Eine Bauersfrau und Mutter von sechs Kindern hatte sich Charlie anders vorgestellt. Ganz bestimmt nicht als kleine, zierliche Person mit langem, goldenem Haar. Müde und erstaunt blickte die Herrin vom Arnoldshof in die Runde.

»Wir haben Besuch?«, fragte sie mit dünner Stimme.

»Sie haben die neuen Stoffe aus Lifsheim gebracht. Es wurde bereits dunkel, also bot ich ihnen an zu bleiben«, erklärte Inga etwas unsicher.

Die Frau nickte müde.

»Das war richtig, Inga. Das hast du sehr gut gemacht.« Sie zitterte etwas und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Sie war sehr schwach.

»Der Sturm …«, sagte sie in den Raum hinein. Ihre unausgesprochene Sorge war deutlich zu spüren.

»Mach dir keine Gedanken, Mutter. Ich schaffe das schon. Geh wieder ins Bett und ruh dich aus.«

»Es ist nur eine Grippe«, sagte die Frau entschuldigend. »In ein paar Tagen bin ich wieder auf den Beinen. Ich werde die Kleinen zu Bett bringen und hier aufräumen. Ich muss nur etwas essen.«

Inga baute sich vor ihrer Mutter auf.

»Du wirst dich nicht anstrengen! Ich schaffe das schon!«

»Wir werden ihr helfen«, sagte Tora. »Wenn Ihr es erlaubt, können wir einige Tage bleiben und Inga unterstützen.«

»Es gibt keinen Grund für diese Anrede«, erwiderte die Frau. »Ich bin eine einfache Bauersfrau.« Dann sah sie Tora entschuldigend an. »Mein Mann starb vor nicht ganz einem Jahr. Es ist nicht leicht für Inga. Sie muss so viel arbeiten.«

»Wir helfen gerne«, wiederholte Kunar.

»Das ist sehr lieb von euch«, sagte die Frau. Kunar lächelte.

»Wenn du einen Blick hinaus wirfst, dann wirst du sehen, dass es nicht ganz uneigennützig ist. Bei diesem Wetter draußen zu schlafen, ist kein Vergnügen.«

»Ihr habt kein Heim?«, fragte die Frau bestürzt. »Es ist eine grausame Welt, in der wir leben.«

Sie zog die Decke dichter um ihre zierlichen Schultern.

»Mein Mann hat uns diesen Hof hinterlassen, und dank Kapitän Brages Schutz konnte ich ihn auch halten. Es wird nicht gerne gesehen, dass eine Frau alleine gut zurechtkommt.«

Nachdenklich sah sie ihren einzigen Sohn an. Er konnte nicht älter als vier Jahre sein und bohrte gerade mit dem Finger in der Nase herum.

»Ohne meinen kleinen Erben hier … ohne ihn hätte mich Ull einfach enteignet … Kapitän Brage wurde als Vormund für Klein-Arnold bestimmt. Rein rechtlich gesehen habe ich hier nichts zu sagen, und eigentlich dürfte ich nicht einmal unseren Unterhalt verdienen. Doch Kapitän Brage sah einige meiner Kleider und erteilte mir den Auftrag, ihm einen Mantel zu schneidern. Seit diesem Tag versorgt er mich mit den feinsten Stoffen aus Lifsheim und bringt mir Käufer aus ganz Vanaheim und Godheim. Er verdient gut daran und lässt es uns an nichts fehlen. Inga ist eine gute Hilfe und sehr geschickt mit ihren Händen. Sie wird bald eigene Kleider entwerfen. Aber sie ist noch so jung.«

»Mutter …«, murmelte Inga verlegen.

»Entschuldigt bitte«, lächelte die Frau. »Ich schweife ab.« Sie erhob sich mühsam. »Ich heiße Anna. Ihr könnt bleiben. Helft meiner Inga, dann könnt ihr bleiben«, murmelte sie und schlurfte zur Tür. Inga füllte Suppe in einen Holzteller und schickte sich an, ihrer Mutter zu folgen.

»Lass mich das machen, Inga«, bot Tora an. »Ihr solltet Holz herein holen, bevor wir nicht mehr vor die Tür kommen.«

 

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