Leseprobe zu "Kristin - Die Zeitkapsel"

Das Vermächtnis der Lil`Lu (5)

1. Robin Hood

 

 

 

Wie um der Götter willen war ich nur in diesen Schlamassel hineingeraten? Ich stand da und sah meinem sicheren Tod entgegen. Ich wusste nur, dass ich aus irgendeinem Grund hier sein sollte – dem Tod ins Auge sehend. Die Zeit schien auf einmal in Zeitlupe zu verlaufen. Der Schuss löste sich aus der Mündung der Gardenwaffe, Rauch folgte. Ich hörte den Knall, als das Projektil die Schallmauer durchstieß, doch er schien gedämpft – wie in Watte gepackt.

 

Als die Kugel auf mich zuflog, sah ich mein Leben an mir vorbeiziehen. Wie war es mir möglich, in einem Bruchteil einer Sekunde zwanzig Jahre unterzubringen?

 

Ich sah sie – all die seltsamen Begebenheiten meiner Vergangenheit. All die Male, an denen ich an fremden Orten erwacht war, ohne zu wissen, wie ich dorthin gelangt war. Filmrisse nannte Nanny sie. Irgendetwas stimmte mit meinem Gehirn nicht. Ich hatte Aussetzer, doch den Grund kannte niemand. Keiner der vielen Ärzte und Heiler, zu denen sie mich schleppten, verstand, wie alles zusammenhing. Nur, dass es irgendetwas mit meinem Gehirn zu tun hatte. Irgendein Teil war minimal größer als bei anderen Menschen. Eine Eigenart. Eine Laune der Natur. Eine Missbildung. Ein Fluch oder ein Segen? Ich wusste es nicht. Ich hatte mich mit der Zeit damit abgefunden, dass sich mein Gehirn zuweilen ausklinkte und meine Füße mich dann von ganz allein an Orte brachten, zu denen ich nicht einmal im Traum gegangen wäre. Jeder Aussetzer hatte mein junges Leben dramatisch verändert. Das erste Mal brachte mich ein Filmriss direkt zu Nannys Türschwelle, genau zu dem Zeitpunkt in ihrem Leben, zu dem sie der Verzweiflung nahe war. Keine Kinder. Unfruchtbar. Und ihr Mann verließ sie für eine andere. Eine Gebärfreudige, die er gleich nach dem ersten Mal schwängerte. Manche brauchen nur eine Herrenunterhose zu sehen, pflegte sie schnaubend zu sagen und sah mich dann liebevoll an. Ich, ihr Geschenk der Götter.

 

Ich war gerade fünf Jahre alt geworden und für mein Alter sehr selbstständig. Gezwungenermaßen. Meine Mutter – eine anerkannte Hexe – starb bei meiner Geburt. Mein Vater verkraftete ihren Tod nicht. Er begann zu trinken, verfiel zusehends und kümmerte sich immer weniger um das kleine Mädchen, das ihrer Mutter so ähnlich sah und ihn täglich an seinen Verlust erinnerte. Zu meinem Leidwesen hatte ich nicht einmal die Hexenkräfte meiner Mutter geerbt, was dazu führte, dass der Hexenrat vollkommen desinteressiert blieb. Mein Schicksal war ihnen egal, ich war nicht eine von ihnen, egal, wie angesehen meine Mutter unter ihnen gewesen war. Um meine lausigen ersten Jahre kurz zu machen: Ich war verwahrlost, ungeliebt und so gut wie auf mich selbst gestellt gewesen, als mein Vater sich an meinem fünften Geburtstag zu Tode soff. Ich war es gewohnt, mein Essen selbst zuzubereiten, die Wäsche irgendwie in die Waschmaschine zu stopfen und auf dem Markt das Nötigste zu besorgen. Solange Geld da war. Man kannte mich dort bereits. Die Kleine vom Säufer Ulf. Ob irgendeiner der Marktschreier meinen richtigen Namen gekannt hatte?

 

Ich kam also klar, auch als mein Vater nach Tagen immer noch reglos auf dem Sofa lag – ein Bein herabhängend, die Spucke aus den Mundwinkeln angetrocknet. Ich begriff nicht sofort, dass er tot war. Wie auch? Es war nicht das erste Mal, dass er vollkommen reglos seinen Rausch ausschlief. Und ich hatte früh gelernt, bei solchen Gelegenheiten einen Bogen um ihn zu machen. Einen großen Bogen, nur nicht stören, ja nicht wecken. Nicht, wenn ich nicht im hohen Bogen durch das Zimmer fliegen wollte. Doch dieses Mal wachte er nicht wieder auf. Das Geld war aus, der Kühlschrank leer und sein Körper begann bestialisch zu stinken. Als ich endlich verstand, was los war, und vollkommen verzweifelt, ratlos und überfordert dastand und die hochsteigende Galle mühsam hinunterschluckte, da geschah es das erste Mal. Mein Gehirn setzte aus. Keiner weiß genau, für wie lange, doch man vermutet für mindestens eine Woche, da der Weg von der stinkenden Leiche bis zu Nannys Türschwelle für eine Fünfjährige darunter nicht zu schaffen war. Und dass ich zu Fuß gegangen war, wäre nach dem Zustand meiner Sohlen zu urteilen, eindeutig. Meine Erinnerung setzte wieder ein, als ich vor Nannys Türschwelle wie aus einer Trance erwachte und mich verwirrt umsah, bevor ich völlig geschwächt zusammenbrach. Direkt vor ihren Füßen. Als einzige Bekleidung ein leichtes Sommerkleid, völlig verschmutzt, ein paar verschlissene Sandalen und eine Halskette mit Anhänger. Die Kette meiner Mutter, ein Erbstück, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. So erzählte es zumindest mein Vater einmal in einer nüchternen Minute.

 

Nanny nahm mich bei sich auf – mich, ihr kleines Wunder, das von der Göttin zu ihr geführt worden war. Meinen ersten Filmriss schrieb man den entsetzlichen Umständen zu. Welche Fünfjährige würde ohne Trauma aus solch einer grausigen Situation entkommen? Ich hätte die Strapazen und Sorgen der vergangenen Tage verdrängt, um meine Seele zu schützen. So was erlebte man doch immer wieder. Mein Leben bei Nanny war das einzige Paradies. So empfand ich zumindest mein neues Zuhause, in dem ich gepflegt, versorgt und geliebt wurde. Nanny wurde die Mutter, die ich nie hatte. Sie schenkte mir ein behütetes Zuhause. Ich blühte sichtlich auf und mein Marsch quer durch die Provinz, inklusive Erinnerungslücke, war schon lange nicht mehr Gesprächsthema Nummer eins in der Umgebung. Erst als ich ein Jahr später – in der ersten Woche meines ersten Schuljahres – erneut abtauchte, wurde man misstrauisch. Ich war mitten im Unterricht aufgestanden und vollkommen geistesabwesend aus dem Klassenraum marschiert. Mein Weg führte mich schnurgerade von der üblichen Mädchenschule zur einzigen gemischten Einrichtung im ganzen Land. Gemischt in zweierlei Hinsicht – Jungen und Mädchen sowie Menschen und Hexen. Ein sehr umstrittenes Projekt, das von allen Seiten mit Argusaugen beobachtet wurde.

 

Ich marschierte an jenem Tag ohne Umweg in die erste Klasse der Gesamtschule und setzte mich wie selbstverständlich auf den einzigen leeren Platz. Als ich aus meiner Trance erwachte, starrten mich allesamt an, als wäre ich von einem anderen Stern. Meine Lehrerin aus der Mädchenschule holte mich umgehend zurück, entschuldigte sich tausendmal für mein Vergehen und zog mich – die ich völlig verwirrt die Situation zu begreifen versuchte – mit sich zurück. Da sie und sämtliche Schüler gesehen und erlebt hatten, dass ich abwesend und nicht ansprechbar gewesen war, konsultierte man einen Arzt. Ohne Erfolg. Ich war kerngesund. Am nächsten Tag wiederholte sich das Ganze. Mein Gehirn setzte im Klassenraum der Mädchenschule aus, ich marschierte vor aller Augen davon und erwachte erneut im selben Stuhl der anderen Schule. Nanny nahm es als Zeichen der Göttin und schulte mich kurzerhand um. Unter Protesten und schrägen Blicken der gesamten Umgebung. Man nahm mich mit gemischten Gefühlen in der neuen Klasse auf. Was war dieses Mädchen denn nun? Mensch oder Hexe? Genetisch eindeutig ein Mensch, das zeigte einer der vielen folgenden Tests. Doch es gab Anomalien. Die abnorme Vergrößerung in meinem Gehirn könnte durchaus zu diversen Problemen führen. War ich einem normalen Schulablauf überhaupt gewachsen? Lag womöglich sogar eine geistige Behinderung vor? Noch mehr Tests, noch mehr Ärzte und Heiler. Letztendlich ließen sie mich in Ruhe. Bis auf diese seltsamen Aussetzer war ich vollkommen normal, mit einer leicht überdurchschnittlichen Intelligenz, die mir die Schule zu meiner Freude sehr erleichterte. Besonders Sprachen fielen mir leicht. Die Worte flogen mir förmlich zu.

 

Mein Aussetzer hatte meinem Leben erneut eine entscheidende Wendung gegeben. Ich lernte beide Kulturen kennen – die der Menschen und die der Hexen. Ich fand Freunde und wurde ein Teil dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft aus allen Klassen der Gesellschaft. So unterschiedlich wir alle auch waren, eines war uns gemein, wir sahen keine Hürden zwischen Menschen und Hexen, wir arbeiteten zusammen, als eingeschworene Gemeinschaft. Dieses Gemeinschaftsprojekt der Gesamtschule scheiterte leider nur wenige Jahre nach meinem Schulwechsel. Doch mich prägte diese Zeit für den Rest meines Lebens. Die Gesellschaft wäre nicht bereit für ein Miteinander der beiden Rassen, so hieß es damals. Später verstand ich, dass unsere Schule der Politik der Machthaber von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war. An einem Miteinander gab es kein Interesse. Niemand – weder die Führungsriege der Menschen noch die der Hexen – wollten ihre Positionen verlieren. Reiche sollten reich bleiben und Arme arm. Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich nahm weiter zu. Geld kam zu Geld, genau so, wie beide Parteien es wollten. Ein Miteinander hätte den Zusammenhalt der Menschen und Hexen untereinander gestärkt und den Massen die Möglichkeit gegeben, sich zu erheben. Hielt man Menschen und Hexen strikt voneinander getrennt, beäugten sich beide Parteien misstrauisch, denunzierten einander und hassten sich mehrheitlich, anstatt zusammenzuhalten.

 

Als die Gesamtschule schloss und ich wieder auf eine Mädchenschule kam, ließ ich einige gute Freunde zurück. Nur ein einziger Junge aus meiner Klasse wurde meiner Gegend zugeteilt – der Knabenschule zwei Blocks weiter –, alle anderen verschwanden in alle Himmelsrichtungen der Millionenstadt Segretia – der Hauptstadt von Segretaria, das aus dem All wie ein Stiefel aussah. Ein Stiefel im Meer.

 

Meine beste Freundin Niela und ihr vier Jahre älterer Bruder Yunos, ein hochbegabter Hexer, wurden von ihren Eltern auf ein Eliteinternat geschickt, um ihnen die bestmögliche Ausbildung zukommen zu lassen. Wir sahen uns nur zweimal pro Jahr, trotzdem hielt unsere ungewöhnliche Freundschaft.

 

 

 

Ich war sechzehn, als Nanny plötzlich verstarb. Ein Hirnaneurysma. In einer Minute saß sie am Frühstückstisch und erzählte mir von einem ihrer Patienten – sie war Krankenpflegerin – und kurz darauf fiel sie vom Stuhl. Einfach so, ohne Vorwarnung. Ich war am Boden zerstört. Wieder war ich allein, haltlos und ohne Ziel. Was sollte ich nur mit meinem Leben anfangen? Nanny hinterließ mir ihre kleine Wohnung und ein Miniatursparguthaben, das gerade einmal einen Monat reichte. Ich musste die Schule verlassen, um mein Einkommen zu verdienen. Doch wie, ohne Abschluss? Als ich auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch in irgendeiner Spelunke war, geschah es erneut. Mein Gehirn setzte aus, alles wurde schwarz, und ich erwachte wieder einmal in einer mir vollkommen fremden Umgebung.

 

»Kristin, sieh einer an«, vernahm ich eine ungewöhnlich tiefe Stimme. »Dich wird man auf Dauer auch nicht los, was?« Der junge Mann schüttelte seufzend den Kopf und betrachtete mich eindringlich.

 

Ich blinzelte und sah mich um. Wo war ich diesmal gelandet und wer war der Kerl? Eine Lampe blendete auf, sodass ich nur Umrisse von etwa einem Dutzend Personen ausmachen konnte.

 

»Mach das Licht aus, Dankov, sie ist ungefährlich.«

 

Ich blinzelte erneut. Das Licht schwenkte ab und ich sah mich mehreren Waffen gegenüber, die auf mich zeigten. Ich schluckte, suchte nach einem Fluchtweg und blieb an dem jungen Mann hängen. »Arndt?«, fragte ich ungläubig. »Bist du das?«

 

Ein schiefes, leicht spöttisches Lächeln folgte. »Hat dein missgebildetes Gehirn mal wieder ausgesetzt?«

 

Ich stöhnte und rieb mir die Augen. »Irgendwann bringen mich diese Aussetzer mal in wirkliche Gefahr«, murmelte ich sarkastisch und beäugte angespannt die Meute um mich herum. Ich erkannte weitere Gesichter aus unserer ehemaligen Gesamtschule, die mich zwischen fremden Jugendlichen und jungen Erwachsenen grinsend ansahen.

 

»Was soll das heißen!«, verlangte ein Muskelpaket zu wissen und machte einen drohenden Schritt auf mich zu. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Nur keine Angst zeigen, das hatte ich gelernt.

 

»Reg dich ab, Dankov. Das ist Kristin, die verrät uns nicht«, sagte Arndt. »Obwohl ihr Auftauchen hier schon mehr als seltsam ist«, fügte Arndt gedehnt hinzu.

 

»Kristin? Oh, die Götter, Kristin?« Ruckartig hob ich den Kopf. Diese helle und reichlich durchdringende Stimme kannte ich nur zu gut. Jemand boxte und schob Körper zur Seite, flitzte auf mich zu und warf sich mir um den Hals.

 

»Um der Götter willen, Niela, lass das mädchenhafte Gekreische. Das lässt uns alle extrem schlecht aussehen.« Wieder hielt Arndts Stimme eine gehörige Portion Spott, doch ich spürte das Lächeln dahinter. Er hatte schon immer eine Schwäche für Niela gehabt, etwas, das sich nach all den Jahren offenbar nicht gelegt hatte.

 

»Niela! Was machst du hier? Und wo bin ich überhaupt?«

 

Sie lachte mich strahlend an. »Du bist einfach quer durch die Stadt hierher spaziert? So wie damals in unsere Schule? Unglaublich! Also, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich schwören, du wärst eine Hexe!«

 

»Was zum Donar ist hier los!«, verlangte dieser Dankov zu wissen. »Wer ist das und wie verdammt nochmal hat sie uns gefunden!«

 

Ein Tumult entstand, zustimmendes Gemurmel, niemand senkte die Waffen, alle starrten mich argwöhnisch an, bis auf die bekannten Gesichter aus der alten Schule.

 

»Kristin gehört zu uns«, erhob sich eine mir wohlbekannte Stimme über das Gemurmel. Yunos, Nielas Bruder, trat hervor und lächelte mich an. »Willkommen, auch wenn du noch nicht zu wissen scheinst, wohin dich deine Beine dieses Mal getragen haben.«

 

»Wie weit weg bin ich von Zuhause?«, fragte ich vorsichtig und beäugte die bewaffnete Bande. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, bemerkte ich, wie müde meine Beine waren.

 

»Viele Stunden«, antwortete Niela heiter. »Du wirst Muskelkater bekommen!«, neckte sie mich.

 

Ich verzog das Gesicht. »So verweichlicht bin ich auch wieder nicht«, murmelte ich verlegen.

 

»Nehmt die Waffen runter«, bat Yunos. »Wir werden euch alles erklären.« Mit einem Blick auf mich fügte er hinzu: »Zumindest soweit wir das ganze Kristin geht von Göttern geführt durch die Welt überhaupt verstehen.«

 

»Ich würde das auch gern verstehen«, knurrte ich und ließ mich von Niela durch die Menge hindurch in ein Nebenzimmer ziehen. Ein Kribbeln lief mir den Rücken hinunter. Eine Vorahnung darüber, was auf mich zukommen würde. In einem war ich mir sicher. Das Schicksal hatte mir wieder einmal einen neuen Weg aufgezeigt. Oder aufgedrängt, traf es wohl besser. Was erwartete mich dieses Mal? Wollte ich das – was auch immer es war – überhaupt? Ich schnaubte innerlich. Es war ja nicht gerade so, als hätte ich irgendwelche Pläne für die Zukunft. Ein Stich ins Herz folgte, als ich an meine geliebte Nanny dachte. Ein glückliches Kapitel in meinem Leben. Ein abgeschlossenes Kapitel. Ich war bereit für etwas Neues. Mehr als bereit, um meinen Kummer zu vergessen, um auf andere Gedanken zu kommen und um etwas Nützliches zu tun. Etwas, das hoffentlich auch Geld einbrachte …

 

Während Arndt und Yunos die anderen über mich aufklärten – ich war nicht erpicht auf ihre seltsam befremdlichen Blicke, die mich wie üblich danach treffen würden –, erklärte Niela, in welches Wespennest ich gestochen hatte.

 

»Ich bin auch erst seit kurzem dabei. Yunos gehört mit Arndt und Dankov zu den Gründern. Wir nennen uns die Gemehema. Die Gemeinschaft Menschen Hexenmacht.« Für Niela war es vollkommen klar, dass die Götter mich hergeführt hatten, um dieser Gemeinschaft von was-auch-immer beizutreten. Also verlor sie keine Sekunde, mich voll und ganz aufzuklären. Je mehr sie erzählte, desto bewusster wurde mir, in welche Gefahr ich geraten war. Ich würde Teil dieser Gemeinschaft werden müssen, oder … Ja was? Gab es eine Alternative? Dank Niela wusste ich nun einfach zu viel. Was würden sie mit mir tun, wenn ich mich dagegen entschied? Noch eines wurde mir schlagartig bewusst. Ich wollte ein Teil von ihnen werden. Sie kämpften für all die richtigen Ziele. Dies war der Beginn einer Revolution oder zumindest könnte es der Anstoß in die richtige Richtung werden. Diese Gemeinschaft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, beide Kulturen einander näherzubringen, indem sie den Armen halfen – und zwar beiden Seiten gleichermaßen. Dafür nahmen sie es von den Reichen und verteilten es unter den Bedürftigen. Um es beim Namen zu nennen: Sie bestahlen die Oberschicht – manuell und virtuell. Einige Computergenies schienen sich der Gruppe angeschlossen zu haben. Namhafte Hacker aus beiden Gruppen. Der Mensch als Herr über die Maschine und der Hexer als Herr über den Geist. Beides äußerst nützlich, um an Passwörter und sonstige Geheimnisse der Mächtigen zu gelangen. Das hier konnte funktionieren. Die Reichen bestehlen, die Armen beschenken – im Namen der Gleichheit aller. Zwei Worte kamen mir in den Sinn, als hätte sie mir jemand zugeflüstert. Robin Hood. Ich runzelte die Stirn. Was sollte das bedeuten? War es ein Name?

 

»Was?«, fragte Niela. Ich sah sie verwundert an.

 

»Was denn?«, fragte ich zurück.

 

»Du hast etwas gesagt. Robin Hood. Was ist das?« Ich hatte die Worte laut ausgesprochen? Ich musste wirklich vorsichtiger sein, man würde mich auch ohne sinnloses Kauderwelsch für seltsam halten. Das kannte ich bereits.

 

»Ich weiß nicht«, sagte ich und schüttelte leicht irritiert den Kopf. »Irgendwie kamen mir die Worte einfach in den Sinn, als du über das Reiche bestehlen und es den Armen beschenken geredet hast.«

 

»Du weißt nicht, was es heißt?«, fragte sie verwundert. Ich zuckte nur mit den Schultern und verzog den Mund. »Es klingt jedenfalls besser als Gemehema«, meinte Niela und verdrehte die Augen. »Dabei verknotet es mir immer die Zunge.«

 

»Was klingt besser als Gemehema?«, fragte Yunos, der von Arndt und Dankov gefolgt ins Zimmer trat.

 

»Robin Hood«, sagte Niela und zeigte auf mich. »Die Götter haben es ihr auf die Zunge gelegt. Es bedeutet von den Reichen stehlen und es den Armen geben.«

 

»Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet!«, brauste ich auf. »Das habe ich doch gesagt!«

 

»Du hast gesagt, es kam dir in den Sinn, als ich darüber sprach«, verteidigte sie sich inbrünstig. »Du hast es laut ausgesprochen, ohne es zu bemerken. Genauso, wie du ohne es zu wissen, zu anderen Orten geleitet wird!«

 

»Das ist doch Unsinn«, begann ich, doch Arndt unterbrach mich.

 

»Robin Hood. Irgendwie klingt es passend, obwohl ich noch nie davon gehört habe.« Er wandte sich an die anderen. »Kennt ihr die Worte?«

 

»Nie gehört«, sagte Dankov und starrte mich an.

 

»Aber es klingt irgendwie bekannt«, meinte Yunos. »So als ob …«

 

»Als ob es genau das bedeutet: Die Reichen bestehlen, um die Armen zu unterstützen!«, platzte Niela dazwischen.

 

»Also wirklich, jetzt hört aber mal auf«, protestierte ich. »Ich habe keinen mystischen Draht zu den Göttern oder sowas!«

 

Dankov musterte mich eindringlich, sodass mir unwohl wurde. Genauso einen Einstand brauchte ich nun wirklich. Die würden mich alle für eine Wichtigtuerin halten! »Da stimmt etwas nicht in meinem Kopf. Das ist alles.« Ich tippte mir an die Stirn. Besser verrückt als Angeber, dachte ich und überlegte, wie ich hier wieder wegkam, ohne noch mehr Unruhe zu stiften. So ein Mist, ich wäre wirklich gern geblieben.

 

»Genau. Und deshalb führt es dich geradewegs hierher, genau wie damals zu uns in die Schule«, schnaubte Niela. »Nee nee, meine Liebe, das ist kein Zufall!«

 

Alle sahen mich an, in der Tür drängten sich weitere Neugierige. Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich bin nichts Besonderes«, sagte ich leise. »Aber es ist nett von dir, Niela, dass du so denkst. Ich liebe dich dafür. Aber ich habe eine Missbildung, nichts weiter.« Eine, die mich irgendwann noch umbringen würde, dachte ich grimmig.

 

»Möglich«, sagte Dankov. »Oder auch nicht. Was auch immer du hast, hat dich zu uns geführt. Und dieses Robin Hood«, er zuckte mit den Achseln, »ich weiß auch nicht. Irgendwie klingt es passend.«

 

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Das ist nicht dein Ernst!«, platzte es aus mir heraus. Gerade wollte er mich noch lynchen und nun das?

 

Er zuckte mit den Schultern. »Niemand gibt freiwillig zu, missgebildet zu sein, wenn er eine göttliche Macht für sich beanspruchen könnte. Dass du es tust, zeigt deine Reinheit im Herzen. Du bist willkommen.« Er nickte mir zu und drehte sich zu den anderen. »Robin Hood! Wer ist dafür?« Allgemeiner Jubel brach aus und ich starrte einfach nur sprachlos in die Runde. Was bitte war das denn für eine verquere Logik? Hatte der sie noch alle? Diese Göttergläubigen waren doch allesamt nicht ganz richtig im Kopf. Dagegen war mein Problem wirklich klein!

 

Niela grinste mich an und klopfte mir auf die Schulter. »Na siehst du, alles wird gut!« Ich verdrehte die Augen und knurrte in mich hinein. Das konnte ja heiter werden.

 

So kam es, dass ich von jetzt auf gleich ein vollwertiges Mitglied von Robin Hood wurde. Ein Name, der bald als geflügeltes Wort über Segretaria flog, um in rasender Fahrt die ganze Welt zu umspannen. Ein Name voller Hoffnung auf ein Ende der Armut und der Unterdrückung der Massen.

 

 

 


 

Schweden

 

 

 

»Robin Hood«, murmelte Ella und legte das Buch beiseite.

 

»Schon wieder dieses Märchen?« Thomas schüttelte lächelnd den Kopf.

 

Ella warf kokett ihre langen Haare zurück und blitzte ihn aus moosgrünen Augen an. »Und? Was dagegen? Ich werde ja wohl noch ein Lieblingsbuch haben dürfen!«

 

»Selbstverständlich.« Thomas ließ sich in einen Sessel fallen. »Märchen passen nur rein gar nicht zu deinem schwer erarbeiteten Image. Die knallharte Sechzehnjährige, pragmatisch und zielgerichtet.«

 

Ella verdrehte die Augen. »Der Einzige, der von meinem Laster weiß, bist du. Und du verrätst mich schon nicht, dafür kenne ich dich zu gut.«

 

»Wohl war.« Thomas wurde ernst. »Es ist keine Schande, von anderen Zeiten zu träumen und zu hoffen, dass wir eines Tages aus dem Schatten ins Licht treten können.«

 

»Du meinst, die Gerechtigkeit wird irgendwann siegen?« Ella schnaubte. »Nicht in unserem Leben. Darauf warte ich nicht.«

 

»Aber wir müssen vorbereitet sein«, sagte Thomas.

 

»Genau deshalb bin ich, wie ich bin«, meinte Ella.

 

»Ein Mädchen, das noch zu träumen wagt, doch im Grunde längst von der Realität eingeholt wurde?«

 

»Ganz genau. Wir sind alle mit den Legenden aufgewachsen, dass irgendwann ein Mädchen geboren wird, dass dieses bewirken soll. Alle warten und suchen nach ihr. Seit Jahrtausenden.« Sie verdrehte die Augen. »Als ob sie gerade in unserem Leben auftauchen würde. Das ist sowas von unwahrscheinlich! Wir sollten unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und die Bruderschaft bekämpfen. Wir könnten eine neue Einheit gründen. Du und ich allein könnten so viel erreichen!«

 

»Die Zeit ist noch nicht reif, Ella. Und das weißt du auch. Du kennst die Geheimnisse unserer beiden Familien. Wir sind die Hoffnung der Zukunft. Doch nur, wenn wir uns an den Plan halten, haben wir eine Chance.«

 

»Plan! Was für ein Plan! Uralte Überlieferungen! Die können doch frei erfunden sein! Märchen, wie das hier!« Sie tippte vehement auf das Buch. »Ich will nicht auf etwas warten, das vermutlich nie eintritt, weil es einfach frei erfunden ist!«

 

»Du wirst warten, weil du tief in deinem Inneren weißt, dass alles der Wahrheit entspricht. Und du wirst nicht riskieren, die einzige Chance auf eine neue Zukunft zu gefährden, weil du nämlich nicht sicher sein kannst, dass die Überlieferungen falsch sind.«

 

Ella setzte zur Verteidigung an. Wohlbekannte Argumente von beiden Seiten. Diesen Disput führten Ella und Thomas, seit sie in die Familiengeheimnisse eingeweiht worden waren. Ein Pakt. Ein bindender Schwur, das Unglaubliche zu bewahren, um es später an ihre Kinder weiterzugeben, wie es seit Generationen der Fall war. Ella knirschte voller Missfallen mit den Zähnen. Verrat, wo sie nur hinschaute. Der Ältestenrat verkaufte die Gemeinschaft an die Bruderschaft – an den Feind. Und sie mussten tatenlos zusehen, um ein Geheimnis zu bewahren, das vielleicht oder vielleicht auch nicht irgendwann in ferner Zukunft helfen sollte, die Bruderschaft zu stürzen. Wie viele unschuldige Kinder sollten diesem Pakt des Teufels zwischen dem Ältestenrat und der Bruderschaft noch zum Opfer fallen müssen? Ella drehte sich der Magen um bei dem Gedanken an die vielen Morde, an so viele zerrissene Familien. Und sie sollte nur dasitzen und warten?

 

»Nicht nur warten«, sagte Thomas. »Wir werden unsere Fähigkeiten trainieren, verbessern und zur Perfektion treiben. Für den Fall der Fälle, um vorbereitet zu sein.«

 

»Siehst du«, antwortete sie harsch. »Wir haben doch dasselbe Ziel. Ich verfolge meine Ausbildung knallhart, pragmatisch und zielgerichtet«, wiederholte sie seine Worte.

 

»Aber aus den falschen Gründen.«

 

»Wer bist du, dass du entscheidest, was richtig ist?«, schnappte sie zu.

 

»Das entscheide nicht ich, das sagen uns die Überlieferungen.«

 

Sie drehten sich im Kreis, dass aufsässige Mädchen und der wenige Jahre ältere junge Mann. Beide so unterschiedlich und doch vereint im geschworenen Eid, die Geheimnisse der Familien zu bewahren, bis die richtige Zeit gekommen war. Doch Ella wollte nicht warten, sie wollte kämpfen – für ihre Zukunft, für die Gerechtigkeit.

 

Lange, nachdem Thomas wieder gegangen war, hielt sie das alte Buch noch in den Händen. Robin Hood, der König der Diebe. Der Kampf um eine bessere Zukunft.

 

 

 

Segretaria

 

 

 

Zwei Jahre waren vergangen. Ich war gerade achtzehn geworden und tiefer in Robin Hood verstrickt, als ich es mir je hätte träumen lassen. Wir hatten Anhänger in der ganzen Welt und wurden gejagt bis in den Tod. Die Obrigkeit hatte uns ihr wahres Gesicht gezeigt. Um nichts in der Welt waren sie bereit, ihre Macht zu teilen – weder die Menschenherrschaft noch die Hexenherrschaft. Dafür waren beide Gruppen der kleinen Oberschicht sogar bereit, zusammenzuarbeiten. Mehr noch, offenbar hatten sie es zuvor bereits getan – auf ihre Art und Weise, um ihre Macht zu erhalten. Doch wo sie zuvor zum Schein eine demokratische Welt vorgespielt hatten, war nun mehr als deutlich, dass dies nie ihre Absicht und auch nie der Fall gewesen war. Sie hatten die Massen insgeheim gesteuert, mit Samthandschuhen. Nun gab es Zuckerbrot und Peitsche. Doch obwohl ihre Handlungen wirklich mehr als deutlich waren, hatte die breite Masse offenbar noch nicht verstanden, was direkt vor ihren Augen geschah. Inoffiziell gab die Obrigkeit uns die Schuld. Organisationen wie Robin Hood – als ob es weitere rebellierende Gruppen gäbe – zwängen durch ihre terroristischen Anschläge die Mächtigen zum Handeln. Diebstahl wäre niemals gutzuheißen, wir würden die gesellschaftliche Ordnung gefährden und waren zum Staatsfeind Nummer Eins erklärt worden. Nach außen hin mimten sie also die Guten, die lediglich im Sinne der Allgemeinheit handelten. Die ständig strikteren Gesetze wären rein uns zu verdanken und auch die vollständige Machtergreifung der Obrigkeit wäre voll und ganz uns zuzuschreiben. Sie hätten keine andere Wahl gehabt.

 

Es war mir schleierhaft, wie verblendet die Menschen waren und wie viel Beschneidung ihrer Rechte und vor allem ihrer Freiheit sie im Kampf gegen den angeblichen Terrorismus bereit waren zu opfern. Und ja, es hatte echte Terroranschläge gegeben. Viele Unschuldige waren gestorben. Unsere Hacker fanden schnell heraus, dass die Mächtigen selbst dahinter steckten, um ihre Ziele der absoluten Herrschaft zu verwirklichen. Wir hatten die Wahrheit veröffentlicht, doch unsere Enthüllungen wurden als Verschwörungstheorien abgetan. Es stand Wort gegen Wort und noch hatte die Obrigkeit die Oberhand. Die breite Masse glaubte ihnen oder steckte einfach den Kopf in den Sand. Sich zu wehren, konnte ja gefährlich enden. Wer uns verteidigte, fand sich, schneller als er schauen konnte, in Untersuchungshaft. Und nun holten die Reichen zum ultimativen Schlag aus.

 

Wir standen wie Zigtausende der Stadt in der Menge am Marktplatz im Zentrum von Segretia und starrten hinauf zur Balustrade. Der Balkon oberhalb des Torbogens am Haupteingang zum Schloss Palast zu Segretia war so weit weg, dass ich von meinem Platz aus gerade einmal erkennen konnte, dass eine Menschengruppe dort oben auf uns herabblickte. Deren Gesichter sah ich allerdings riesig groß an strategisch angebrachten Leinwänden entlang des Platzes.

 

»Der Hohe Rat der Menschen und Hexen hat eine Entscheidung getroffen!«, dröhnte die Stimme des Ratsvorstandes durch die Lautsprecher über den Marktplatz. Dieses Ereignis wurde weltweit ausgestrahlt. Die Spannung in der Menge stieg spürbar. Ich hielt die Luft an. Nichts Gutes konnte hierbei herauskommen. Der Ratsvorstand hatte vor nicht einmal einer Woche einen cholerischen Anfall erlitten, als ihn durch Robin Hoods Hacker sämtliche durch Korruption erhaltenen Gelder abhandengekommen waren. Der Hohe Rat war längst nicht mehr, was er ursprünglich einmal gewesen war. Er sollte das Volk repräsentieren, doch jeder Einzelne des Rates gehörte zur absoluten Oberschicht. Sie bangten um Macht und durch Lug und Betrug erwirtschafteten Reichtum. Die Menschen des Landes waren ihnen vollkommen egal. Die letzte dem Volk wohlgesonnene Rätin war kürzlich durch einen mysteriösen Unfall aus dem Weg geräumt worden. Ähnlich wie drei andere vor ihr. Die Sitze waren schnell durch Mitglieder der reichen Gesellschaft besetzt worden – ganz ohne vom Volk gewählt zu werden. Sehr bezeichnend. Wir hatten bereits vermutet, dass nun der Weg für drastische Veränderungen frei war. Wenn der Rat sich einig war, konnten Grundgesetze der Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden.

 

»Wir haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht!«, fuhr der Ratsherr fort. Natürlich nicht, dachte ich sarkastisch und biss die Zähne zusammen, dass die Kaumuskeln hervorquollen. Was für ein verdammter Heuchler!

 

»Im Namen der Götter und der Gerechtigkeit lösen wir den Hohen Rat auf und legen die Macht in die Hände derer, die sich als fähig erwiesen haben, den Terrorismus zu bekämpfen, und die keine Angst davor haben, hart durchzugreifen, um dieses Ziel zu erreichen!«

 

Würde es Götter geben, hätte ihn soeben der Blitz treffen müssen. Von wegen Gerechtigkeit!

 

»Wir erheben heute die beiden führenden Familien der Menschen und Hexen über das Volk hinaus! Durch den Rat und die Götter gesegnet krönen wir jeweils die Oberhäupter der Familien zu König und Königin. Es lebe die Monarchie! Es lebe die Hoffnung auf ein Leben in Frieden!«

 

Ich ballte die Fäuste und starrte fassungslos zur Balustrade hinauf. Das war doch nicht deren Ernst. Hastig sah ich mich um. Spätestens jetzt mussten die Menschen doch verstehen. Spätestens jetzt würden sie sich erheben und dieser Unglaublichkeit ein Ende setzen. Ein Raunen ging durch die Menge. Erste Rufe ertönten. Hoffnung keimte in mir auf, bis die Rufe Gesellschaft bekamen und sich als dröhnende Einheit in die Höhe schwangen. Die Masse bebte, Fäuste hoben sich der Balustrade entgegen – eindringlich, kraftvoll, wie im Rausch. »Es lebe die Monarchie! Es lebe der König! Es lebe die Monarchie! Es lebe der König!«

 

Mir wurde übel. Ich schien keine Luft mehr zu bekommen. Das war nicht möglich. Das geschah nicht wirklich. Das konnte einfach nicht sein!

 

»Komm!«, rief Niela, um die Menge zu übertönen. Sie zog mich am Ärmel. »Lass uns hier verschwinden!« Ich spürte sie kaum. Ich war wie erstarrt. Als sie endlich meine Aufmerksamkeit erlangte, sah ich, dass die anderen bereits gegangen waren. Hier konnten wir nichts ausrichten. Heute hatten wir verloren – haushoch. Doch der wahre Kampf sollte erst beginnen.

 

 

 

Die volle Wucht der neuen Regierungsform traf die Welt häppchenweise, damit sie Zeit hatte, sich an die ständigen Neuerungen zu gewöhnen. Doch in Wirklichkeit kam niemand mit. Als dann ein Jahr später eine weitere weltweite Reform angekündigt wurde, war die Menge bereits äußerst skeptisch. Die Einführung der Monarchie hatte keine Verbesserung für die Menschen und Hexen gebracht. Im Gegenteil wurde sich mancherorts gefragt, wohin das noch führen sollte. Widerstand gab es jedoch immer noch sehr wenig. Und dieser auf die falsche Weise. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Die Gemüter schaukelten sich hoch. Statt die Zahl der Terroranschläge zu verringern – damals von der Obrigkeit angezettelt –, sah sich die Welt nun echten Anschlägen gegenüber. Aus Verzweiflung und Hilflosigkeit geboren sprossen mehrere neue Gruppen aus dem Nichts, die schnell und hart niedergeschlagen wurden. Anstatt sich unter dem Dach von Robin Hood als breite Rebellion zu formieren, sprengten Einzelattentäter Unschuldige in die Luft. Und nun holte die Monarchie zum Gegenschlag aus, natürlich immer unter dem Vorwand, Ordnung zu schaffen. Wie weit hergeholt diese Behauptungen auch waren. Sämtliche Land- und Hauseigentümer wurden enteignet, eine Lehnsherrschaft wurde angekündigt. Und im Zuge dieser neuen Reform wurden die Steuern drastisch angehoben. Unsere anfangs kleine Gruppe von Aufständischen hatte das wahre Gesicht der Mächtigen endlich enthüllt. Die Massen, die ihnen anfangs noch geglaubt und uns gehasst hatten, wurden stumm. Die Stimmung schien zu kippen. Es wurde immer enger für die Ärmsten der Armen. Wer die horrenden Steuern nicht zahlen konnte, wurde eingesperrt und in eigens eingerichteten Lagern untergebracht. Mitglieder von Robin Hood, die gefasst wurden, ließen die jeweiligen Königshäuser öffentlich hinrichten. Exempel mussten statuiert werden. Doch anstatt uns einzuschüchtern, entfachte es das Feuer in uns allen von Neuem. Unsere Rebellion erhielt täglich neue Anhänger. Wer konnte, der floh in die Wälder, um einer drohenden Gefangenschaft zu entkommen – hauptsächlich Menschen und Hexen, die ihre Schulden nicht mehr zahlen konnten, oder die Mundraub begangen hatten, um Familie und Kinder zu ernähren. Der Druck auf die Königshäuser wuchs. Sie verstanden nicht, weshalb sie uns nicht kleinkriegen konnten. Alle anderen Gruppierungen zerschlugen sie im Nu. Sie suchten frenetisch und mit allen Mitteln nach unserem Hauptquartier, doch egal, was sie anstellten und welche Hexenkräfte sie einsetzten, sie wurden immer wieder fehlgeleitet. Wir hatten Yunos, den größten Hexenmeister aller Zeiten. Ohne ihn wäre Robin Hood bereits in den Kinderschuhen erstickt worden. Doch Yunos konnte etwas, das noch nie da gewesen war – zumindest nicht in dieser Ausprägung. Er konnte Gedanken ableiten oder eher umleiten. Es bedeutete, dass jeder, der uns auf der Spur war, ganz plötzlich den Drang verspürte, in der entgegengesetzten Richtung zu suchen. Yunos konnte fühlen oder erspüren, wann jemand seine Gedanken auf uns richtete und wer dies war. Und er konnte dies nicht nur im Einzelnen, wie es andere mit seinem Talent vermochten, nein, er war fähig, seine Kräfte global einzusetzen – an mehreren Orten gleichzeitig. Auf diese Weise schützte er nicht nur unser Hauptquartier im Herzen Segretarias, sondern auch weitere zentrale Verstecke von Robin Hood rund um den Globus. Die Lakaien der Machthaber konnten zwar unvorsichtige Mitglieder auf Missionen ausfindig machen, doch unsere wichtigsten Quartiere blieben für jeden unentdeckt. Und genau an diesen Orten verbargen sich sämtliche Gerätschaften, Computer und mehr, die unsere Hacker benötigten, um die Konten der Reichen zu plündern und es an die Armen zu verteilen. Hier verbargen sich auch die Hexen und Hexer, die als geistige Hacker dienten, um an Passwörter, persönliche Informationen und Verstecke von Gold, Geld und Wertsachen zu gelangen. Kein Schatz war sicher – weder virtuell noch real. Yunos verließ niemals unser Hauptquartier, das war der Preis, den er für seine außerordentliche Hilfe zahlte. Sein Überleben sicherte die Existenz und den Erfolg der Revolution. Er durfte nicht riskieren, gefasst zu werden. Wir anderen gingen regelmäßig auf Missionen – im Grunde waren es Raubzüge – und halfen den Menschen, wo wir nur konnten. Wir versorgten die Ärmsten mit Geld, Nahrung und Medikamenten, wir halfen beim Einkauf, bei täglichen Arbeiten und unterstützten allgemein nützliche Vereinigungen und Pflegepersonal in Krankenhäusern, Altenheimen und Armenvierteln. Da ich weder über Hexenkräfte noch über brillante Computerkenntnisse verfügte, war ich hauptsächlich für die Verteilung der erworbenen Güter und die Hilfe vor Ort zuständig. Ich ging darin auf, anderen zu helfen. Es war meine Berufung. Oft arbeitete ich mit Niela zusammen, deren Hexenkräfte in der Heilung lagen. Ähnlich wie ihr Bruder war sie auf ihrem Gebiet außergewöhnlich begabt. Zumindest in einem Bereich der Medizin. Niela konnte jeden erdenklichen viralen Infekt im Keim ersticken und vermutlich sogar ganze Seuchen basierend auf Viren auslöschen, da auch sie wie Yunos über globale Kräfte verfügte. Wir arbeiteten sehr gut zusammen. Unser Leben war hart, doch wir waren frei und Geld war schon lange kein Problem mehr. Bei uns teilten alle alles. Außerdem genoss ich neben Yunos und den anderen wichtigen Helfern im Hauptquartier eine Art Sonderstellung. Mehrmals in den letzten Jahren hatten meine Aussetzer uns zu Orten geführt, die sich als Schlüsselpositionen für weitere Raubzüge oder Angriffe erwiesen. Ich hatte keine Erklärung dafür und hielt daran fest, dass es Zufall war. Oder höchstens so etwas wie Schicksal. Ich mochte es nicht, als etwas Besonderes angesehen zu werden, schon gar nicht, wenn ich die Ehre nicht verdiente. Immerhin tat ich wissentlich nichts dafür, mein Gehirn schaltete sich einfach ab, um mich an gewissen Orten verwirrt und orientierungslos aufwachen zu lassen. Das war nun wirklich keine Glanzleistung. Trotzdem sahen mich alle im Team als gesegnet an. Von den Göttern geleitet, egal, wie sehr ich protestierte. Ich glaubte nicht an Götter. Im Grunde glaubte ich nicht einmal an Schicksal, doch wie und warum gelangte ich dann immer wieder an all diese wichtigen Orte? Ich hatte sogar Yunos´ Kraft getrotzt, als ich damals einfach ins Hauptquartier marschiert war. Im Nachhinein fand ich es mehr als verständlich, dass Dankov und die anderen meine Ankunft gleich mit gezückten Waffen erwidert hatten. Wie dem auch sei, ich war ungewollt zu einem wichtigen und beachtenswerten Mitglied von Robin Hood geworden und nahm – ebenfalls ungewollt – öfter als mir lieb war an gefährlichen Missionen teil. Irgendjemand, meist Niela, war immer in meiner Nähe, um auch ja nicht zu verpassen, wenn ich mal wieder göttlich gelenkt vollkommen abwesend davon marschierte. Die Kavallerie wurde dann alarmiert und sie folgten uns für den Fall der Fälle, dass ich in Schwierigkeiten geraten würde. Meist erwachte ich, bevor die Schwierigkeiten eintrafen, sodass die ausgebildete Truppe übernehmen und ich mich im Hintergrund halten konnte. Wie gesagt, nicht gerade sehr spektakulär und heroisch. Trotzdem wurde ich sicherheitshalber wie jeder bei Robin Hood in diversen Kampftechniken ausgebildet und nahm an Trainingsprogrammen teil. Für alle Fälle.

 

»Der ältere Herr dort hinten verlangt nach dir«, sagte Dankov mit seinem üblichen, leicht spöttischen Schnauben in der Stimme. Ich blickte auf und suchte die Halle in Richtung seines ausgestreckten Armes ab. Es blitzte in den müden Augen eines uralten Herrn auf, als unsere Blicke sich trafen.

 

»Es ist immer dasselbe«, knurrte Dankov. »Wir alle helfen, wo wir können, und reißen uns für sie den Arsch auf. Und was ist der Dank? Sie wollen nur dich!« Ein lauernder Ton schlich sich in seine Stimme. »Sie nennen dich die heilige Kristin.«

 

Ich schnaubte hörbar und giftete Dankov an. »Woran das wohl liegt!«, presste ich hervor.

 

Ein Lachen fuhr über sein Gesicht. Dankov wusste genau, welche Fäden er ziehen musste, um mein Temperament aufflammen zu lassen. Seit meinem ersten Tag bei Robin Hood glaubte Dankov, ich wäre von den Göttern geleitet und verpasste keine Gelegenheit, es jedem Bedürftigen auf die Nase zu binden. Hauptsächlich, um mich zu ärgern. Er wusste genau, wie sehr ich es hasste, im Mittelpunkt zu stehen.

 

»Lass dich nicht ärgern, Kristin.« Arndts kräftige, dunkle Stimme hielt mich davon ab, noch einen bissigen Kommentar nachzuschieben. »Die meisten glauben nicht an die alten Götter, sie wollen dich, weil du ein Händchen für das hier hast.« Er machte eine allumfassende Handbewegung. »Du hast die Fähigkeit zu helfen, ohne ihnen das Gefühl zu geben, dir etwas schuldig zu sein. Alles, was du tust, kommt von Herzen, niemals lässt du sie spüren, dass du unter Zeitdruck stehst oder dass dir etwas zu viel wird. Du hörst zu und gibst ihnen immer das Gefühl, dass ihr Anliegen wichtig ist, egal, wie banal ihr Gerede manchmal ist. Ach ja, die alte Dame dort drüben«, sagte er, als ihm plötzlich einfiel, weshalb er zu uns gestoßen war. »Keine Ahnung, welche Sprache sie spricht. Kannst du mal nach ihr sehen? Sie will irgendetwas und keiner versteht sie.« Arndt lächelte. »Noch ein Grund mehr, weshalb wir dich alle so brauchen.«

 

Ich wand mich unbehaglich unter so viel Lob. Ich tat nur meine Arbeit und folgte meinen Überzeugungen, genau wie alle bei Robin Hood. Gut, mein Sprachtalent war wirklich von Vorteil, seit wir Flüchtlinge aus aller Welt aufnahmen. Sie kamen aus Gegenden, wo die Verhältnisse offenbar noch schlimmer waren als bei uns. Fünf Sprachen sprach ich fließend, bei weiteren zehn halfen mir gediegene Grundkenntnisse und eine schnelle Auffassungs- und Kombinationsgabe.

 

Dankovs Augen glitzerten vor Vergnügen. Arndt hatte mir mit seinen Worten helfen wollen, stattdessen hatte er das geschafft, was Dankov mit seiner Heiligen Kristin beabsichtigt hatte. Mein Unbehagen und meine Verlegenheit strömten mir aus allen Poren. Die giftigen Bemerkungen, die mir Dankov gegenüber leicht von der Zunge gingen, blieben mir im Hals stecken. Mehr noch. Mein Gehirn war wie leergefegt. Wie ein Fisch auf dem Trockenen öffnete und schloss ich meinen Mund ein paar Mal, sah, wie Dankov sich diebisch freute und sein Grinsen immer breiter wurde, und drehte mich letztendlich auf dem Absatz um, um dieser grässlich peinlichen Situation zu entkommen, bevor ich vollends den Respekt vor mir selbst verlor. Ich fluchte vor mich hin, als ich mit geballten Fäusten davonmarschierte. Den Kopf hoch erhoben, um Dankov ja nicht noch mehr Munition zu liefern. Ich hörte ihn leise glucksen und spürte seine Blicke auf meinem Rücken. Ich weiß nicht, was schlimmer war, diese arrogante Überlegenheit, die er den meisten entgegengebrachte, oder die mir zuteilwerdende Verehrung – hinter Spott und Sticheleien schlecht verborgen. Von den Göttern geleitet …

 

Ich schnaubte und marschierte auf den sehnsüchtig wartenden Alten zu. Meine Fäuste entspannten sich, als unsere Blicke sich erneut trafen, und meine Sinne fanden einen seltsamen, und in meiner Zeit bei Robin Hood so vertraut gewordenen Frieden. Als ich bei dem Herrn ankam, waren alle Sticheleien vergessen, ich konzentrierte mich ganz automatisch voll und ganz auf die Bedürfnisse des Alten. Arndt hatte in einem recht, es fiel mir leicht zu helfen. Mehr noch. Es gab mir Kraft und es fühlte sich einfach richtig an. Ich tat es nicht, weil es zu meinen Aufgaben bei Robin Hood gehörte, ich tat es, weil es meine Natur war.

 

»Und genau deswegen fühlen sich bei dir alle wohl«, sagte Arndt anerkennend, als ich den Alten wenig später sichtlich zufrieden und in sich ruhend verließ, um mich um den Nächsten zu kümmern. »Du gibst ihnen das Gefühl, wichtig zu sein.«

 

Ich blickte ihn an und sah über seine Schulter hinweg Dankovs Augen auf mir ruhen. Anerkennung und Verehrung strömten mir entgegen. Als er meinen Blick wahrnahm, fiel die Maske zurück an ihren Platz. Ein freches Grinsen breitete sich über seinem Gesicht aus und er hob demonstrativ den Daumen in einer gutgemacht Geste. Und obwohl ich seine wahren Gefühle kannte, oder vielleicht auch genau deshalb, kochte der Ärger erneut in mir hoch. Er brauchte wirklich nur wissend zu grinsen und mein Unmut war geweckt. Diesen Reiz hatte er über die letzten Jahre perfektioniert.

 

Ich schaffte es, Arndt ein gequältes Danke entgegenzubringen, dann schob ich mich an ihm vorbei, versuchte, Dankov zu ignorieren, der schnurgerade auf mich zukam – als Alibi ein Helferpaket in seinen großen Händen –, und peilte die alte Dame an, der fast alle Zähne im Mund fehlten.

 

»Heilige Kristin«, raunte er mir ins Ohr. Ich drehte mich gewollt langsam um, eine bissige Antwort parat, stemmte die Hände in die Hüften, hielt seinem spöttisch blitzenden Blick stand und öffnete den Mund. Tiefste Schwärze folgte …

 

 

 

Als ich erwachte, befanden wir uns am anderen Ende der Stadt. Ich erkannte die Kuppel des botanischen Gartens am Rande Segretias. Ein Blick in die Runde sagte mir, dass mir die gesamte Einheit gefolgt war und durch einen Spalt in einer Mauer irgendetwas beobachtete. Ich blinzelte die Verwirrtheit fort und verengte die Augen. Wo hatte ich uns dieses Mal hingeführt? Ich spähte durch den Spalt. Ein unscheinbar wirkender Wagen zirkelte in der schmalen Gasse um eine enge Kurve. Unscheinbar und doch mit Gefolge. Vor und hinter dem Wagen sah ich zwei Fahrzeuge, die eindeutig einen Geleitschutz darstellten.

 

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. »Heilige Kristin, sag ich doch!«, wisperte Dankov mir spöttisch ins Ohr. Dann wurde seine Stimme ernst. »Bleib, wo du bist!« Er drückte meine Schulter in einer freundschaftlich beruhigenden Geste, dann gaben er und Arndt die Zeichen zum Angriff. Die Einheit folgte ihnen lautlos – ein eingespieltes Team, bereit, alles zu geben. Auch ihr Leben. Und alles nur, weil ich sie in einem erneuten Anfall quer durch die Stadt geführt hatte, zu einem Wagen mit Geleitschutz, von dem keiner wusste, was er für uns bereithielt. Er konnte leer sein. Es konnte eine Falle sein. Womöglich fuhr einfach nur ein wichtiger Adeliger seine Kuschelratte spazieren! Aber nein, niemand hier kam auch nur auf die Idee, dass mein Weg mich an einen unwichtigen Ort geführt haben könnte. Dass sie ihr Leben vielleicht für nichts riskierten.

 

Ich ballte die Fäuste und starrte angespannt durch den Schlitz in der Mauer. Niemand war zu sehen, nur das Auto umrundete langsam die Hausecke. Ich fühlte mich auf einmal sehr allein.

 

Und dann, ohne Vorwarnung, brach die Hölle los. Granaten flogen, Schüsse folgten, es knallte, dass die Erde unter mir bebte. Ich hielt die Luft an und versuchte, durch den plötzlichen Rauch in der Gasse irgendetwas zu sehen. Der ganze Angriff dauerte nicht einmal fünf Minuten. Ein Auto hielt hinter mir.

 

»Los komm, rein mit dir!«, rief Jenna, unsere Fahrerin. Ich blickte noch einmal suchend durch den Schlitz, da stürmte meine Einheit auch schon herbei.

 

»Rein in den Wagen!« Dankov packte mich am Kragen und bugsierte mich unsanft auf den Rücksitz des kleinen Busses. Arndt schob eine Kiste durch die Heckklappe, während alle anderen sich in den Bus quetschten. Jenna gab Gas, noch bevor Arndt ganz drinnen war. Er hangelte sich ins Innere und zog die Klappe mit einem Knall hinter sich zu.

 

»Reibungslos«, sagte Dankov, als er wieder zu Atem gekommen war. »Ich bin schon sehr gespannt, was wir da Wichtiges erbeutet haben. Nicht wahr, Heilige Kristin?« Er zwinkerte mir spöttisch zu. Ich biss die Zähne zusammen und hoffte fast, es wären nur alte, stinkende Socken. Dankovs entgleisende Gesichtszüge wären Gold wert.

 

Es waren natürlich keine alten Socken in der Kiste. Die Beute erwies sich als wertvoller denn je. Papiere und Computerkarten enthielten Informationen über Lage und Aufbau sämtlicher Übungslager der neuen Armee und Schutzgarde der Königshäuser. Informationen von unschätzbarem Wert. Der Erfolg unserer Einheit wurde am Abend gebührend gefeiert. Sie hatten alle fehlerfrei gekämpft, es war wie am Schnürchen gelaufen. Nur mein Part hatte sich mal wieder vollkommen unspektakulär abgespielt. Trotzdem wurde ich gefeiert, als hätte ich die verdammte Kiste im Alleingang erobert.

 

»Heilige Kristin«, spottete Dankov. Er lallte ein wenig nach unzähligen Bieren.

 

Irgendwann würde ich ihm noch einmal die Zunge herausschneiden …

 

Bestimmt!

 


 

 

 

Ich war gerade zwanzig Jahre alt geworden. Seit gut einem Jahr regierten nun die beiden Königshäuser über die Menschen und Hexen der Erde. Doch ihre Herrschaft war für sie kein Vergnügen. Unsere Anhängerzahl nahm von Tag zu Tag zu. So gut wie niemand glaubte nunmehr ihren verqueren Auslegungen von Gesetz und Gerechtigkeit. Es gab nur noch zwei Lager – die Adeligen und die Untertanen, die bis aufs letzte Hemd ausgezogen wurden. Es brodelte in der Menge. Nur zu gern hätten sie die Königshäuser der Menschen und Hexen gestürzt, doch beide Seiten arbeiteten zusammen und hielten sowohl das Militär als auch die für Kriegsführung und Unterdrückung geeigneten Hexen und Hexer in ihren Reihen. Es gab natürlich immer noch diejenigen, die sagten, dass es ohne Robin Hood keine Monarchie gegeben hätte, dass unser Handeln das Drama ausgelöst hätte, doch den meisten war mittlerweile klar, dass die damalige Obrigkeit sich ohne uns einen anderen Aufhänger gesucht hätte. Wir hatten nur auf die Anfänge der ganzen Einschränkungen von oben reagiert. Hätte die Masse das früher verstanden, dann hätte alles womöglich aufgehalten werden können. Doch nun war es zu spät. Solange wir nicht irgendwie das Militär und die sympathisierenden Hexen und Hexer mit ihren speziellen Waffen auf unsere Seite ziehen konnten, sah es schlecht aus. Robin Hood war stärker denn je, doch die Fronten hatten sich derart verhärtet, dass es weder ein Vor noch ein Zurück gab. Zurück wollten wir ohnehin nicht, doch niemand wusste so recht, wie dieser Kampf zu gewinnen sein sollte. Wir konnten nur standhalten und auf ein Wunder hoffen.

 

Menschen und Hexen aus den unteren Schichten starben wie die Fliegen, trotz unserer Hilfe. Die Königshäuser trieben Gelder ein, wo sie nur konnten, und wir nahmen es ihnen wieder ab und verteilten die Beute. Ein Teufelskreis, der nie zu enden schien. Wie sollte es weitergehen?

 

Ich richtete mich auf und streckte meinen schmerzenden Rücken. Während ich die Muskeln entspannte, glitt mein Blick durch das Zentrum – ein Auffanglager für Ausgestoßene – hauptsächlich Behinderte und Kranke. Niela arbeitete unermüdlich. Jedwede Seuche erstickte sie im Keim, doch es gab so viele andere Krankheiten und Verletzungen, die sie und die anderen Heiler nicht im Handumdrehen heilen konnten. Geistesabwesend kratzte ich mich am Kopf. Irgendetwas verursachte dort seit einiger Zeit ein Jucken, das mich zu nerven begann. Wieder zwickte es. Irritiert kratzte ich mich und wuselte mir mit den Fingern durch mein kurzes, schwarzes Haar. Ich seufzte und ließ meinen Blick gleiten. Wer brauchte mich als Nächstes? Als ich so schaute, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Mist«, fluchte ich. Überall kratzten sie sich. Sogar Niela hielt inne und schubberte sich durch ihre blonden Locken, bevor sie sich, ohne dem Dilemma einen zweiten Gedanken zu schenken, zum nächsten Patienten hinunterbeugte.

 

Ich fuhr mir über das Gesicht. Läuse. Auch das noch. Hatten wir überhaupt genug von dieser stinkenden Lotion gegen die kleinen Blutsauger? Anstatt dem Ruf eines Mannes zu folgen, suchte ich Dankov in der Menge. Er war Herr über das Medikamentenlager.

 

Niela kam mir entgegen. »Hast du noch Mullbinden? Mein Vorrat ist leer.«

 

Ich schüttelte den Kopf. »Komm mit. Ich bin sowieso auf der Suche nach Dankov. Wir haben ein Problem.« Meine ernste Stimme ließ sie aufhorchen.

 

»Worum geht es?«, fragte sie und kratzte sich am Kopf.

 

Ich hob die Augenbrauen. »Genau darum«, sagte ich und zeigte auf ihre kratzenden Hände. Eine Sekunde tickte vorbei, dann wurden ihre Augen groß und sie kratzte sich heftiger als je zuvor.

 

»Verflucht, verflucht, verflucht! Läuse! Da hätte ich auch selbst drauf kommen können!« Sie fing an, sich am ganzen Körper zu kratzen, ich musste trotz der ernsten Lage grinsen.

 

»Kopfläuse heißen nicht umsonst Kopfläuse«, sagte ich. »Aber der psychische Effekt ist immer wieder faszinierend.«

 

»Rede du nur«, knurrte Niela. »Ich schwöre, es juckt überall!«

 

»Sagt die Heilerin, die es besser wissen müsste.« Ich grinste noch breiter. Da zwickte es mich erneut am Kopf. »Verdammt.« Ich kratzte mich frenetisch. »Los, komm. Suchen wir Dankov.«

 

 

 

»Läuse«, seufzte Dankov und kratzte sich automatisch am Kopf. »Das auch noch. Wir haben das Mittel da. Ich weiß nur nicht, ob es für alle reicht.«

 

»Her damit, ich halte das nicht aus«, knurrte Niela.

 

»Wenn wir uns behandeln, die anderen aber nicht, dann stecken sie uns nur wieder an«, meinte Dankov trocken. »Ich kontrolliere jetzt erst einmal den Lagerbestand.«

 

Wir folgten ihm. Ich, weil ich ihm helfen wollte, Niela, weil sie vermutlich eine Lotion in einem unbeobachteten Moment mitgehen lassen wollte.

 

»Es wird nicht für alle reichen«, stellte Dankov wenig später nüchtern fest. Er kratzte sich geistesabwesend. Ich sah förmlich, wie er überlegte. Niela nutzte den Augenblick und steckte sich ein Paket ein. Ich verdrehte die Augen und tat so, als hätte ich nichts bemerkt.

 

»Wir werden ein Medikamentenlager überfallen müssen«, sagte Dankov und seufzte. »Wir können nicht zulassen, dass sich der Befall auf das ganze Viertel ausweitet. Und wir brauchen unsere Einheit kratzfrei. Jede Ablenkung kann zur Katastrophe führen.«

 

»Fein, dann behandeln wir erst einmal uns, damit wir alle fokussiert bleiben«, meinte Niela.

 

»Falsch«, berichtigte Dankov sie. »Ich behandle meine Einheit, damit wir an mehr Lotion gelangen können.« Damit schnappte er sich den Lagerschlüssel und wies uns unmissverständlich den Weg nach draußen. Nielas Hand schoss vor, ergriff noch eine Lotion und versenkte sie in der rechten Jackentasche. Etwas zu offensichtlich. Ich runzelte die Stirn.

 

Dankov seufzte, schloss hinter uns ab und hielt die Hand auf. »Ich hätte dich sowieso noch durchsucht, Niela. Ich kenne dich einfach zu gut. Her damit!«

 

Niela empörte sich gekonnt. Unter Protesten und Gezeter reichte sie ihm schließlich die Lotion aus der rechten Jackentasche. Dankov nahm sie und ließ uns kopfschüttelnd stehen. »Als ob sie mich beklauen könnte«, hörte ich ihn murmeln. Ich warf Niela einen vielsagenden Blick zu. Was für ein ausgebufftes kleines Luder. Niela unterdrückte ihr süffisantes Grinsen nur, bis Dankov um die Ecke verschwand.

 

»Da musst du schon früher aufstehen, wenn du mich kriegen willst«, lachte sie und holte das Paket mit mehreren Lotionen aus der linken Jackentasche. »Los, Waschraum. Sofort. Ich halte das nicht mehr aus.« Ihr Grinsen erstarb und sie kratzte sich, als hinge ihr Leben davon ab.

 

»Also gut«, meinte ich kopfschüttelnd. Wenn Niela sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie sowieso nicht davon abzubringen. »Steck das weg, bevor er es noch sieht. Ich muss erst noch was erledigen. Ich …« Und dann wurde es mal wieder schwarz in meinem Gehirn.

 

 

 

Ich erwachte inmitten eines Lagers, mir gegenüber zwei Dutzend Wachen der königlichen Garde. Verdammt! Noch während ich versuchte, meine übliche Verwirrtheit abzuschütteln, suchte mein Blick nach meiner Einheit. Wo waren sie? Wo zum Henker war ich? Und weshalb verflucht nochmal war ich diesmal nicht aufgewacht, bevor ich in Gefahr geriet?

 

Die Gardenwachen schienen genauso überrumpelt über mein Auftauchen hier wie ich selbst. Ich wollte die Hand heben, um sie zu beschwichtigen, doch meine zu hastige Geste hatte das Gegenteil zur Folge. Der am nächsten stehende Wachmann riss seine Waffe hoch und schoss. Ein Knall zerriss die Stille.

 

»Verfluchte Diebe!«, stieß er aus.

 

»Kristin, nein!«, brüllte Niela.

 

Mein zwanzigjähriges Leben rauschte in Bildern an mir vorbei, dann begann sich der Raum seltsam zu dehnen.

 

 

Schweden

 

 

 

»Was willst du, Ella, ich habe zu tun.« Thomas´ Gesichtszüge verhärteten sich, als Ella erhobenen Hauptes in sein Büro marschierte. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte in der untergehenden Sonne, die durch das Sprossenfenster hereinströmte. Ihre moosgrünen Augen funkelten. Thomas kannte diesen Ausdruck. Ella wappnete sich zum Kampf. In Erwartung eines weiteren äußerst ermüdenden Gespräches lehnte er sich in dem alten Sessel seines Vaters zurück und sah sie über den antiken Schreibtisch hinweg an.

 

Ella war zu einer rassigen Schönheit herangewachsen. Aus dem einst rebellischen Teenager war eine berechnende Frau mit loderndem Feuer im Herzen geworden. Sie schritt in ihrem langen Kleid mit den Trompetenärmeln heran, das jedem das Wort Hexe entgegenschrie, hielt vor seinem Schreibtisch an und lehnte sich vor. Dabei stützte sie beide Hände auf und fixierte ihn. Thomas wappnete sich gegen das, was kommen mochte. Ein viel zu triumphierendes Lächeln spielte um ihren sinnlichen Mund.

 

»Ich kann es! Ich kann jedem die Wahrheit zeigen!«

 

Thomas atmete tief durch und bat innerlich um Ruhe und Geduld. Seit frühester Kindheit hatten sie gestritten, sich vertragen und sich wieder entzweit. Nachdem ihnen die Familiengeheimnisse offenbart worden waren, hatten sie in einer gemeinsamen Zukunft zusammengefunden – zwei Menschen, denen eine große Verantwortung aufgebürdet worden war. Doch Ella stellte ihre Freundschaft immer wieder auf eine harte Probe. Ihr Feuer, ihr Drang, die Ereignisse voranzutreiben und selbst in das Schicksal einzugreifen, waren ein ständiger Streitpunkt und zerrten an seinen Nerven.

 

»Wir haben das doch bereits Tausend Mal durchdiskutiert«, sagte Thomas etwas zu scharf. Er hatte wirklich andere Sorgen. Emilie Emanuelsson. War es möglich, dass sie das lang ersehnte Mädchen war? Die Hexe, die mit der Gabe der Traumbegegnung geboren sein sollte?

 

Der Ältestenrat hatte Marcus auf sie angesetzt. Er sollte undercover an ihrer Schule versuchen, an sie heranzukommen und ausloten, ob sie magische Kräfte besaß. Wenn dem so war, war sie Meisterin darin, diese zu verbergen. Nicht einmal er selbst spürte bei dem Mädchen etwas. Und er war tatsächlich ein Meister seines Faches. Ein Meister der Enthüllung. Nichts blieb seiner Kraft verborgen. Er war ein Vollbluthexer. Genauso wie Ella. Und genau wie er war sie mächtig auf ihrem Gebiet. Ella besaß die Gabe, jeden Menschen mit magischen Fähigkeiten, die Wahrheit sehen zu lassen. Ihre Kräfte ließen alle Hüllen fallen, nur die nackte Wahrheit, glasklar mit allen sich daraus ergebenden Folgen. Was die Hexen und Hexer dann daraus machten, war ihnen selbst überlassen. Ellas Kräfte zwangen niemanden, sie öffneten ihnen lediglich die Augen. Wie oft hatte sie davon gesprochen, ihre Kräfte einzusetzen, um die Hexengemeinschaft über die wahren Motive und Hintergründe des Ältestenrates sowie der feindlichen Bruderschaft aufzuklären. Enthüllungen, die die Hexengemeinschaft hart treffen und ihren Zusammenhalt gefährlich schwächen würde. Eine Wahrheit, für die sie nicht bereit waren. Nicht, solange es keine Zukunft gab. Nicht, solange die Prophezeiung nicht eingetreten war. Bis die Legenden nicht wahr wurden, um ein neues Zeitalter einzuläuten.

 

»Die Hexengemeinschaft ist nun einmal eine Minderheit«, sagte er betont ruhig, um sich seinen inneren Unmut nicht anmerken zu lassen. Wenn Emilie war, was er und der Ältestenrat vermuteten, dann begann es. Dann stand die Ankunft der Nephilim kurz bevor. Ella durfte jetzt nur nicht vorschnell handeln und die Geduld verlieren. Thomas hatte ihr nichts davon erzählt, dass die Hoffnung in ihm stieg. Emilie war ein junges Mädchen, das womöglich nicht einmal etwas von ihren eigenen Hexenkräften wusste.

 

»Es ist noch nicht an der Zeit. Nur die Hexengemeinschaft aufzuklären, würde uns nicht helfen, es würde uns allen nur noch mehr Probleme bereiten.«

 

Ella nickte, ihre Augen blitzten. »Ich weiß«, sagte sie allzu süffisant. Thomas wurde misstrauisch. Was führte sie nun schon wieder im Schilde?

 

Ella richtete sich auf und verschränkte die Arme ineinander. Sie sah ihn von oben herab an. »Aber was, wenn ich allen Menschen gleichzeitig die Wahrheit zeigen würde. Die ganze Wahrheit!«

 

»Was redest du da?« Thomas schüttelte innerlich den Kopf. Auch darüber hatten sie gesprochen. Oder besser gesagt Ella hatte davon geträumt, ihre Kräfte auszuweiten. »Komm auf den Punkt, Ella. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

 

Sie funkelte ihn an. »Ich kann es, Thomas«, hauchte sie dann. Ihre forsche Art war wie weggeblasen, eine erregte Röte zog sich über ihr hübsches Gesicht, das ohne diesen berechnenden Blick fast kindlich wirkte. Wie ein junges Mädchen sah sie ihn fast ehrfurchtsvoll an. Ehrfurcht vor ihrer eigenen Kraft. »Ich kann es.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Ich kann auch den Menschen die Augen öffnen!«

 

Thomas starrte sie sekundenlang an, dann blinzelte er, als ob er feststellen wollte, ob sie wirklich da war und dass er dies nicht träumte.

 

»Was meinst du damit?«, fragte er heiser. War es möglich? Konnten sich ihre Kräfte derart erweitert haben? All die Möglichkeiten schossen ihm durch den Kopf. Das konnte kein Zufall sein. Erst Emilie – die Hoffnung auf Erlösung. Und nun solch eine Gabe. War die Zeit tatsächlich gekommen? Sollte er miterleben, wie die Welt sich neu formierte? Sollten sie handeln dürfen, anstatt die Geheimnisse nur zu verwahren, um sie an ihre Kinder weiterzugeben, wie es seit Jahrtausenden der Fall war? Eine nie da gewesene Erregung ergriff ihn. Trotzdem konnte er es nicht glauben. Ella hatte ihn schon zu oft mit ihren Einfällen und ihrer feurigen Art auflaufen lassen.

 

»Willst du mich wieder einmal vorführen?«, fragte er, obwohl er ihre Ehrlichkeit spüren konnte.

 

Schlagartig erlosch das junge Mädchen und die leicht entflammbare Frau war zurück. »Natürlich!«, stieß sie verächtlich hervor. »Das ist das Erste, an das du denkst, wenn ich dir die Welt zu Füßen lege! Vielen Dank für dein Vertrauen! Da komme ich als Erstes zu dir, um …« Sie hielt inne. Ihre Augen wurden groß, die Wut fiel von ihr ab, als hätte sie sich daran verbrannt. »Ich …« Sie schwankte. Ein Flimmern entstand um sie herum.

 

»Ella?« Thomas sprang auf. »Ella? Was ist los?« In seiner Stimme spiegelte sich Sorge wider. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas geschah, etwas Übernatürliches.

 

»Thomas!« Ellas Ausruf war einen Hilferuf. Das hier war nicht gespielt, Thomas wusste es. Er hechtete um den Schreibtisch herum.

 

»Ich werde gerufen …«, hauchte sie und sah ihm ein letztes Mal in die Augen. Thomas griff nach ihr …

 

 

 


 

Segretaria

 

 

 

Ich sah die Kugel wie in Zeitlupe auf mich zukommen. Mein Magen sackte mir in die Kniekehlen, so als würde mich etwas nach oben schleudern. Die Welt um mich herum verschwamm und begann sich zu dehnen, alles wirkte verzerrt, sogar die Kugel, die nur noch wenige Meter entfernt war. Dann verschwand sie und mit ihr das Lager und der Boden unter meinen Füßen.

 

Bilder und Muster stürmten auf mich ein. Das Gesicht einer jungen Frau mit langen Haaren und moosgrünen Augen … Ich! »Die Kugel! Spring zur Seite!«, rief ich mir voller Panik selbst zu. Irgendetwas quetschte mir die Lungen zusammen, quetschte mich zusammen, raubte mir den Atem und weitere Worte. Ein paar braune Augen huschten vorbei. Und dann war ich frei. So plötzlich, dass ich vorwärtsstolperte und nach Luft rang. Irgendwer fing mich auf. Alles in mir ging auf Abwehr. Die Kugel, die Gardenwachen! Hatten sie mich verfehlt? Nahmen sie mich jetzt gefangen?

 

»Ella? Was ist mit dir? Oh mein Gott, was ist mit dir geschehen! Ella!«

 

Ich hörte die Worte und die Sorge darin, doch ich begriff ihren Sinn nicht. Ich kämpfte wie eine Löwin, biss, trat und hebelte, bis ich dem Griff des Angreifers endlich entkam. Ich stolperte rückwärts und sah mich hektisch um. In meinem Kopf rotierte es. Was war passiert? Das hier war nicht das Lager. Die Wachen waren fort. Hatte ich wieder einen Aussetzer gehabt? Hatten sie mich verschleppt? Ich begann zu zittern. Keine Schwärze, dieses Mal nicht. Etwas war anders gewesen, ich erinnerte mich an alles – der sich dehnende Raum, die Bilder und Muster, mein Gesicht, eingerahmt von langen, schwarzen Haaren … Drogen! Sie mussten mich verfolgt haben und dann …

 

Mein Blick huschte durch den Raum, suchte den Fluchtweg und blieb an einem jungen Mann hängen.

 

»Ella, sag doch was. Lass mich dir helfen. Was ist hier geschehen?« Seine Stimme war sanft und voller Sorge. Er sprach die Sprache des Nordens. Ein Dialekt, den ich nicht kannte, dennoch verstand ich ihn gut. Ich versuchte, etwas zu sagen, doch meine Stimme versagte. Wieder huschte mein Blick durch den Raum. Die Tür lag am anderen Ende, ich würde erst an ihm vorbei kommen müssen. Verdammt! Wie war ich nur hierher geraten?

 

»Ella, bitte …« Der Mann sah mir direkt in die Augen, eine Ewigkeit schien zu vergehen. Schon wieder schien die Zeit stillzustehen, dann weiteten sich seine Augen und verengten sich kurz darauf. Seine eben noch sorgenvolle Stimme enthielt nun Schärfe. »Du bist nicht Ella! Wer bist du und wo ist sie?«

 

Ich räusperte mich, mein Mund war staubtrocken. »Ich … Ich …« Wieder huschte mein Blick umher. Ein Fenster – geschlossen und mit Holzsprossen versehen. Ein Fluchtweg! »Wo bin ich?«, brachte ich schließlich hervor.

 

»Keine Spielchen!«, knurrte der Mann gefährlich leise. »Wo ist Ella?!«

 

Ich schluckte erneut. Niela, sie war auch dort gewesen. Meine Einheit, wussten sie, wo ich war? Musste ich nur auf Zeit spielen? »Wer ist Ella?«, fragte ich in seiner Sprache. Wieder einmal kamen mir meine vielen Sprachen zu Hilfe. Meine Stimme klang hohl und unsicher. Ich musste mich zusammenreißen.

 

Der Mann musterte mich eindringlich, fast, als wollte er in mein Innerstes sehen. Ich erschauderte.

 

»Du weißt es wirklich nicht«, sagte er fast überrascht.

 

»Ähm … Nein.« Ich ließ ihn nicht aus den Augen und hoffte, jeden Moment Arndt und Dankov hereinstürmen zu hören. »Wo bin ich? Wo habt Ihr mich hingebracht?«

 

»Hingebracht?« Der Mann hob die Augenbrauen. »Du bist hier einfach aufgetaucht. Als Ella verschwand.« Wieder musterte er mich.

 

»Ich bin hier reinmarschiert?« Innerlich seufzend glitt mein Blick zur Tür. Also doch wieder ein Aussetzer. Ich kam da langsam nicht mehr mit.

 

»Reinmarschiert?« Er runzelte die Stirn. »Du weißt nicht, wie du hergekommen bist?«

 

»Ähm … Nein.« Diesmal seufzte ich tatsächlich. »Es tut mir leid, wenn ich hier so einfach reingeplatzt bin und Euch gestört habe, mein Herr.« Dass dieser Mann zu den Adeligen gehörte, sah man schon an der teuren Einrichtung und seiner feinen Kleidung. Eine Art Anzug. War das die neueste Mode? Was sollte dieses Band um seinen Hals. Lächerlich. Aber es würde Dankov die Möglichkeit geben, ihn dort zu packen und zu strangulieren.

 

Der Mann hob wieder die Augenbrauen und musterte mich. »Mein Herr?«, fragte er fast belustigt. Dann wurde sein Gesicht starr. Ich sah förmlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

 

»Ich wollte Euch nicht stören«, fing ich an.

 

»Ein Wechsel«, hauchte er. Sein Blick fokussierte. »Wo kommst du her! Welches Land, welche Welt?«

 

Ich starrte ihn an. War der verrückt? Und da wollte ich ihm gerade von meinen Aussetzern erzählen.

 

»Welt? Land?« Er nickte und erwartete meine Antwort. Mitspielen, Kristin. Verrückte konnten gefährlich werden. »Ich lebe in Segretia«, antwortete ich vorsichtig.

 

»So heißt das Land oder deine Welt?«

 

»Ähm … So heißt die Hauptstadt von Segretaria?«, sagte ich mehr fragend als sicher.

 

Der Mann fuhr sich über das Gesicht. »Ella, sie ist fort …«

 

Ich verstand gar nichts mehr. Was war nur seit meinem erneuten Aussetzer geschehen? Wie war ich hergekommen, weshalb war ich nicht tot? Die Kugel hätte mich treffen müssen und es gab keine Schwärze, nur diese Bilder und Muster. Und das Gesicht. Mein Gesicht …

 

Dann fiel mein Blick auf ein Foto an der Wand. Der Mann war darauf, nur viel jünger. Er stieß ein junges Mädchen freundschaftlich an, das aus vollem Herzen lachte. Lange, schwarze Haare, moosgrüne Augen. Ich! Sie sah aus wie ich! Und ich hatte sie vor kurzem gesehen, bevor … Ich ging automatisch näher an das Foto heran, suchte nach dem Trick. Hexerei?

 

»Das ist Ella«, sagte der Mann. »Wo ist sie? Ist sie jetzt dort, wo du herkamst?«

 

Ich sah von dem Bild zu ihm und zurück. »Sie ist echt?«, flüsterte ich. Er nickte. »Sie war hier?« Wieder ein Nicken. Eiseskälte erfasste mich. Es gab keine Schwärze, ich konnte mich an jede Millisekunde erinnern. Ich war dort gewesen und etwas hatte mich … weggesaugt!

 

»Sie sagte Ich werde gerufen. Und dann verschwand sie. An ihrer Stelle bist du aufgetaucht«, sagte der Mann. Seine Worte platzierte er vorsichtig, fast tastend, als wäre er sich selbst nicht hundertprozentig sicher. Doch mir schnürte es die Kehle zu. Wenn ich hier war, war sie dann dort? An meiner Stelle?

 

»Die Kugel«, brachte ich erstickt hervor. »Bei den Göttern, nein!« Ich sah ihr Gesicht erneut vor mir, wie es an mir vorbeizog. Panik schien mich zu erdrücken. War sie an meiner Stelle … Ich konnte nicht einmal den Gedanken beenden. Mir wurde übel. Ich rief mir jedes Detail ins Gedächtnis, krallte mich an ihr fest.

 

»Hallo? Geht es dir gut?«, hörte ich den Mann fragen. Er klang wie in Watte gepackt. Meine Sinne flogen der Frau entgegen, meine Augen sahen in einem Moment das Bild an der Wand, dann sahen sie sie.

 

 

Ella

 

 

 

Kugel? Ella hörte die Warnung – ihre eigene Warnung – in der Sprache ihrer Mutter. Ein Echo. Italienisch. Automatisch fuhr sie ihren Schild hoch und schleuderte alles, was auf sie zukam, von sich fort. Sie sah nicht einmal wohin, als sie aus diesem Schlauch entlassen wurde, in den sie hineingesaugt, hindurchgepresst und wieder ausgespuckt worden war. Ein Mann schrie auf. Oh ja, es war eine Kugel gewesen. Ella sah sein erschrockenes Gesicht, die Waffe hielt er fest umklammert. Als er in sich zusammensackte, kam Leben in die anderen Männer. Ella überlegte nicht lange. Dafür, um sich über ihre Situation klar zu werden, würde sie sich später Zeit nehmen, wenn die unmittelbare Gefahr vorbei war. Jetzt war die Zeit zum Handeln, endlich handeln!

 

»Niela!«, rief jemand entsetzt, ein Fauchen ertönte hinter Ella – gefährlich, wie von einem Raubtier. Sie hatte keine Zeit, sich danach umzusehen. Die Männer feuerten ihre Waffen ab. Wieder reagierte Ella instinktiv. Ihr Schild fuhr hoch und sie schleuderte zwei weitere Kugeln zu ihrem Ursprungsort zurück. Etwas flog kreischend über sie hinweg und stürzte sich auf drei Männer gleichzeitig. Ein Wesen mit feuerroten Flügeln, mehr konnte Ella auf die Schnelle nicht erkennen. Das Wesen wirbelte herum, es war ungeheuer schnell. Ella sah nicht, wie es die Männer erledigte, da sie selbst alle Hände voll zu tun hatte, doch ein einziger Blick zeigte ihr blutig zerrissene Körper in grotesken Stellungen. Immer mehr Männer eilten herbei und umzingelten Ella und das Feuerwesen. Sie kämpften gemeinsam um ihr Leben, schützten sich gegenseitig und hielten einander den Rücken frei. Die Männer fielen, einer nach dem anderen. Auf einmal waren andere Menschen ohne Uniform da, die ihnen zu Hilfe eilten. Die Schlacht war kurz und blutig. Letztendlich war nur eine kleine Gruppe der Gegner übrig, die sich etwas abseits auf den Boden gekniet hatte und dem Feuerwesen ihre Hände entgegenstreckte. »Verschone uns, Göttin! Wir sind Gläubige!«

 

Was zum Teufel? Religionsgewäsch?, dachte Ella und rang nach Atem. Der kurze, heftige Kampf hatte sie ganz gut gefordert. Pure Energie floss durch ihre Adern. Es hatte so gut getan, ihre Kraft endlich einmal freizulassen – zügellos.

 

Das Feuerwesen hockte neben ihr in Kampfstellung. Ein Knurren kam aus seiner Kehle, das Ella eine Gänsehaut verpasste. Sie sah es zum ersten Mal genauer an. Eine Frau! Eine junge Frau mit flammend roten Locken und ebenso roten Flügeln.

 

»Du bist ein Nephilim!«, stieß sie hervor.

 

»Bei den Göttern!«, hauchte eine Männerstimme hinter ihr. »Eine Göttin ist zu uns zurückgekehrt!« Er kniete sich nieder – ehrerbietend. Wieder italienisch. Ein seltsamer Dialekt. Göttin? Ella runzelte die Stirn.

 

»Nephilim sind keine Götter«, hörte sie sich in der Sprache ihrer Mutter sagen. Sie biss sich auf die Lippe. Immer vorlaut, das war jetzt gerade vielleicht nicht angebracht. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie war, was das für ein Volk war und weshalb sie hier gelandet war.

 

Die Nephilimfrau behielt ihre Kampfstellung bei. »Wo bin ich und was mache ich hier!«, fauchte sie.

 

»Hm, genau meine Gedanken«, sagte Ella leise. »Weshalb habt ihr mich hergeholt und wer ist verdammt nochmal dafür verantwortlich!«

 

Ein Mann trat hervor. »Wir haben euch nicht hergeholt«, sagte er vorsichtig. Seine Stimme war dunkel und kräftig. »Kristin, bist du das?« Er sah Ella misstrauisch an.

 

»Wer ist Kristin? Ich bin Ella!«

 

»Bei den Göttern!«, sagte der kniende Mann hinter ihr. »Sie sieht aus wie Kristin.«

 

»Aber sie ist eine Hexe. Sie ist definitiv nicht Kristin«, sagte eine Frau, die Ella zuerst für einen Kerl gehalten hatte. Sie hatte mit den Männern gekämpft, die ihnen geholfen hatten. Ella ließ ihre Kraft los und fühlte in ihre Richtung.

 

»Du bist auch eine Hexe«, stellte sie fest. »Gut, jetzt wo wir wissen, woran wir sind, will ich endlich Antworten! Wo bin ich und warum!«

 

»Gute Fragen«, knurrte die Nephilimfrau. »Weitet das auf mich aus.«

 

»Wir sind in Segretia, der Hauptstadt von Segretaria«, sagte der Mann mit der tiefen Stimme. »Mein Name ist Arndt.«

 

»Eine andere Welt«, fauchte der Nephilim. »Wie ist das möglich? Nephilim können nicht wechseln!«

 

»Ein Wechsel …« Ella ging ein Licht auf. »Eine parallele Welt!«

 

»Das ist auch meine Vermutung«, meinte der Nephilim. »Nur wie? Und warum?«

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Ella offen zu. »Es sieht so aus, als säßen wir im selben Boot. Ich bin Ella.« Einem Impuls folgend streckte sie der Frau freundschaftlich die Hand entgegen.

 

Die Frau richtete sich auf und musterte Ella. »Kyria«, sagte sie schließlich und nahm Ellas Hand in ihre Krallen. »Gut gekämpft.«

 

Ella lächelte. »Danke, du auch.« Sie ließ ihren Blick über das Blutbad gleiten. »Es scheint, als wären wir hier zwischen irgendwelche Fronten geraten«, mutmaßte sie. Dann sah sie Arndt an. Der Mann war groß, mit etwas zu weit auseinanderstehenden Augen. »Und wer ist diese Kristin?« Ella hatte eine Ahnung. Das Gesicht einer Frau, ihr eigenes Gesicht, doch mit kurzen Haaren. Und die Warnung auf Italienisch …

 

»Sie ist ein Mensch und sie gehört zu uns. Sie sieht dir wirklich zum Verwechseln ähnlich.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich werde dir gerne alles berichten, was ich weiß. Ihr auch«, sagte er zu Kyria, die angespannt wie eine Feder dastand und niemanden aus den Augen ließ. »Aber wir können hier nicht bleiben. Falls jemand entkommen ist oder Hilfe gerufen hat, wird es hier sehr bald eng.«

 

»Noch mehr Männer?«, fragte Ella.

 

»Oder einfach nur eine gut platzierte Rakete. Unser einziger Vorteil ist unser Überraschungsmoment. Rein und wieder raus. Alles andere ist zu gefährlich.«

 

»Das ist ein Medikamentenlager«, sagte die Frau. Sie hatte sich hastig umgesehen und einige Kisten geöffnet. Der kniende Mann kam auf die Beine. »Deshalb ist Kristin hierher gegangen! Wir brauchen dringend Lotionen gegen Läusebefall und Nachschub an Antibiotika wäre auch nicht schlecht.« Dann fiel ihm seine Göttin wieder ein. Er sah Kyria seltsam an. »Oder könnt Ihr alle heilen?«

 

Ella entfuhr ein Schnauben, was ihr einen giftigen Blick des Mannes bescherte. »Bist du sicher, dass du nicht Kristin bist?«, fragte er bissig.

 

»Ganz sicher. Und Kyria ist keine Göttin.« Ella legte den Kopf schief. »Doch etwas Besonderes ist sie durchaus. Nephilim sind die nächste Evolutionsebene der Menschen.«

 

Alle verstummten und starrten von ihr zu Kyria.

 

Kyria streckte sich. »Das ist korrekt. Zumindest gibt es hier eine, die sich auszukennen scheint!«

 

»Also gut«, sagte Arndt etwas überfordert. »Wir klären das später. Ausschwärmen!«, befahl er. »Nehmt so viel mit, wie ihr tragen könnt, und dann nichts wie weg hier!«

 

»Wo ist Niela?«, fragte jemand.

 

Arndt atmete tief durch. »Kristin verschwand und Ella tauchte auf. Niela verschwand und Kyria erschien an ihrer Stelle. Sie ist weg. Genau wie Kristin.«

 

 

 

 

Thomas

 

 

 

Sie sah Ella zum Verwechseln ähnlich. Wie war das nur möglich? Eine andere Welt. Parallele Welten, es gab sie also tatsächlich. Nicht, dass Thomas daran gezweifelt hätte. Sein ganzes Leben und das ganze Familiengeheimnis basierten auf diesem Wissen und noch viel mehr. Doch es war durchaus etwas anderes, es tatsächlich zu erleben. Seit Jahrtausenden gab es lediglich Überlieferungen. Wie so viele Legenden und Sagen hätte auch diese nur eine Erfindung sein können. Doch nun stand er vor ihm, der erste Beweis für die Wahrheit, die er und seine Vorfahren im Herzen getragen hatten. Parallele Welten mit Doppelgängern. Vieles konnte gleich sein, doch die Dinge, Lebewesen und Ereignisse in den unendlich vielen Universen konnten sich auch drastisch unterscheiden. Wie sah die Welt dieser Frau aus? Wo war Ella hingeraten?

 

Thomas sah die Frau an. Wie war ihr Name? Gab es weitere Unterschiede? Sie hatte dieselben moosgrünen Augen, dieselbe leicht androgyne Figur, sie war mittelgroß mit schmalen Hüften und kleinen, aber festen Brüsten. Die Hände, die Haut, die Form des Gesichts – alles glich Ella, als stünde eine perfekte Kopie vor ihm. Nur das schwarze Haar trug diese Frau kurz, was ihr eine leicht befremdliche Unschuld verlieh. Ella war feurig, doch diese Frau schien anders. Thomas konnte noch nicht beschreiben wie, doch er spürte eine Milde, die Ella nie besessen hatte. Und gerade jetzt wirkte sie verloren. Sie starrte durch das Bild von Ella hindurch ins Leere, als würde sie etwas gefangen halten. Thomas wagte nicht, sie zu berühren. Etwas hielt ihn davon ab, sie auch nur anzusprechen, obwohl sein ganzer Körper Antworten verlangte, danach zu verstehen und sich ein Bild zu machen. Was für eine Kugel? Was hatte sie gemeint? Sie schien panisch, als stünden Leben auf dem Spiel, als gäbe es eine Katastrophe. Sollte er sie doch wecken? Hielten Erinnerungen sie gefangen? Hatte sie einen Schock erlitten? Thomas streckte seine Kraft aus und berührte ihre Aura – rein, wie kristallklares Wasser, sanft wie leichte Wogen in einer warmen Brise. Noch niemals hatte er solch innere Harmonie gesehen. Sie lag offen vor ihm – ihre Seele, ihre Essenz –, vollkommen und mit einer Klarheit, die die ganze Welt umarmen könnte. Dann sah er das Feuer – Ellas Aura. Über einen silberglänzenden Faden verbunden mit dem Wasser. Und plötzlich riss der Faden.

 

»Sie ist bei mir! Sie … Sie …« Die Kraft ihrer Stimme stieß Thomas fort, ihre Essenz verschloss sich vor ihm und der Welt, nur ihre Aura konnte er noch sehen. Kristin wirbelte herum und sah ihn an – verwirrt, erleichtert und sorgenvoll zugleich. Ihre moosgrünen Augen fanden seine. Verzweiflung lag darin. Thomas hatte Schwierigkeiten, sich zu fassen. Was für ein Kontrast. Die Ruhe ihrer Essenz und die plötzliche Erregung. Er streckte eine Hand nach ihr aus, wollte sie beruhigen, doch er zog sie zurück, als sie vor ihm zurückwich. Zu früh. Sie kannte ihn nicht. Sie hatte nicht in sein Innerstes gesehen. Sie war nicht Ella. Sie war weder eine Hexe, noch teilte sie Ellas Feuer. Doch es bestand eine Verbindung. Wer war sie?

 

»Ich habe sie gesehen! Eben gerade! Ella! Und Niela, sie ist auch weg!« Sie sah sich um, als würde sie jemanden suchen.

 

Eine Verbindung zu Ella, wie er vermutet hatte. Daher das silberne Band, das ihre Auren verbunden hatte. Thomas nickte und ermutigte sie, fortzufahren. »Was hast du gesehen? Erzähle es mir.«