Leseprobe zu "Danniella - Engelsflügel"

Das Vermächtnis der Lil`Lu (4)

Prolog

 

 

 

Ein mächtiger Knall zerriss die übliche Stille, gefolgt von einem dumpfen Grollen, das sich durch die Burgmauern fortpflanzte. Die Erde bebte.

 

Dania sprang entsetzt auf – viel zu schnell, viel zu ruckartig für ihren Zustand. Ein nie erlebter Schmerz durchzuckte ihren prallen Unterleib und entfesselte den Nephilim in ihr. Ihre Hände wurden zu Krallen, lederartige Flügel wuchsen aus ihrem Rücken und zerrissen das Umstandskleid. Dania kreischte entsetzt auf, als es feucht an ihren Beinen herablief. Nein! Das durfte nicht sein! Es war viel zu früh! Ein weiterer Knall, und ein weiterer schier unerträglicher Schmerz stach zu. Dania sackte zusammen, schrie aus Leibeskräften und presste mit ihren Krallen auf ihren schwangeren Bauch, so als könne sie dadurch alles zusammenhalten.

 

Hilfe, ich brauche Hilfe! Dania nahm all ihre Kraft zusammen und stemmte sich auf die Beine. Sie musste das magische Glimmen im Türrahmen erreichen. Ein Knopfdruck nur, das würde reichen, um die Hebamme zu alarmieren. Der Schweiß trat Dania aus allen Poren, sie schmeckte Blut. Oder roch sie es? Eine weitere unnatürlich starke Wehe warf sie erneut zu Boden. Ihre Hände rutschten bei dem Versuch, sich abzustützen, weg. Es krachte erneut, der Turm bebte. Dania versuchte, sich zu konzentrieren und die panische Angst zu bändigen, die sie ergriffen hatte. Sie atmete tief durch, dann sah sie das Blut. Ihre Hände badeten darin – sie badete darin! Das zerfetzte Kleid war rot getränkt und klebte ihr zwischen den Beinen. Dania begann zu hyperventilieren. Die nächste Wehe presste das Kind heraus. In einem Schwall von Blut bahnte es sich seinen Weg, rutschte ihre Oberschenkel entlang und wurde von rotgetränktem Stoff aufgefangen, bevor es zu Boden glitt.

 

Der Schmerz ließ schlagartig nach, Dania sackte in sich zusammen, keuchte und starrte durch einen Tränenschleier an die hohe Decke des Turmzimmers. Sie zitterte am ganzen Leib, fühlte sich schwach und müde wie nie zuvor in ihrem Leben und glitt langsam davon.

 

Ein erneuter Angriff erschütterte die Burg – es krachte, Blitze zuckten, Menschen schrien. Es klang, als wären sie ganz nah. Das Baby! Das Baby schrie!

 

 

 

Die Tür zum Turmzimmer wurde aufgerissen.

 

»Sie greifen an, meine Herrin. Wir müssen …« Die Hebamme verstummte, dann ein Aufschrei. »Nein!«

 

Schnelle Schritte, sie kniete nieder und fühlte den Puls. Ein seltsamer Laut entfuhr ihr. Obwohl die Hexe wusste, dass es nutzlos war, griff sie nach der Kraft des Elements Erde. Sie beugte sich über ihre Herrin, legte die Hände auf und murmelte seltsame Worte aus einer anderen Zeit.

 

Danias Augenlider flackerten. Sie nahm die Hebamme wahr. Ihre Lippen formten Worte. Nur ein Flüstern, doch in der kurzen Phase der Stille zwischen zwei neuen Angriffen war es wie von Geisterhand verstärkt.

 

»Sie lebt … Sie soll Danniella heißen … Meine Tochter …« Ein letzter rasselnder Atemzug, dann verließ das Leben Danias Körper für immer.

 

 

 

»Es werden immer mehr!«, brüllte Santo Laird Gregor zu. »Sie kommen von überall aus dem Nichts! Wechsler, immer mehr Wechsler!«

 

Laird Gregor biss die Zähne zusammen, dass die Kiefermuskeln hervorquollen. Verdammte Brut! Sie gehörten vernichtet, einer wie der andere! Die Terroranschläge hatten in den letzten Jahren erschreckend zugenommen. Und nun das – ein massiver Angriff auf seine Burg. Ein gezielter Angriff. Wie war das möglich? Weshalb gerade Burg Vidarfjord? Viele Fragen, die warten mussten.

 

»Hält die magische Barriere?«, fragte er stattdessen und ließ seinen Blick über die Burgmauern streifen. Blitze zuckten, es krachte erneut, dass die Erde bebte.

 

»Erste feine Risse im Gemäuer, doch noch besteht keine Gefahr. Es ist kein magischer Angriff!«, rief Santo.

 

»Massenvernichtungswaffen?« Laird Gregor blickte voller Zorn auf die pilzartige Wolke, die vor den Burgmauern emporstieg. Santo nickte.

 

»Verfluchte Mörder«, zischte Laird Gregor. »Lasst keinen am Leben, ich will sie tot sehen, jeden Einzelnen von ihnen!«

 

Santo schüttelte ergeben den Kopf. »Wie …« Dann hielt er inne. Er zögerte.

 

»Spuck es aus!«, schrie Laird Gregor.

 

Santo zuckte zusammen und schluckte. »Dort draußen ist vermutlich keiner von unseren Leuten mehr am Leben. Wir könnten Brenngas einsetzen, mein Laird. Doch falls es Überlebende gibt …«

 

»Tu es!«, brüllte Laird Gregor. »Sie überrennen uns!«

 

Es krachte erneut – einmal, zweimal, dreimal –, die magische Barriere flackerte.

 

»Sofort!«

 

Santo eilte davon und Laird Gregor betrachtete voller Zorn und Besorgnis, wie immer mehr Wechsler aus dem Nichts auftauchten und ihre tödlichen Waffen gegen die Mauern von Burg Vidarfjord richteten. Es krachte, blitzte und bebte in immer kürzeren Abständen. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die Barriere brach und sie alle verloren waren. Gezielte Angriffe. Selbstmordattentäter – Tausende an der Zahl. Wenn das die neue Strategie der Wechsler war, würde seine Welt nicht lange standhalten. Gregor bohrte seine Krallen in die Brüstung und hielt die Luft an. Wo blieb nur sein befohlener Gegenangriff? Brenngas. Im Umkreis von dreißig Kilometern würde nichts überleben. Eine kahle Wüste für mindestens zehn Jahre. Auch Magie würde da nicht helfen, irgendetwas zum Wachsen zu bringen. Über einen Zeitraum von zwei Wochen würde eine Wand aus Plasma seine Burgmauern umgeben, den Berggrund zum Schmelzen bringen und nichts und niemanden hinein oder hinaus lassen. Die magische Barriere würde sie schützen, doch nur, wenn sie nicht vorher fiel. Brenngas konnte den Mauern nichts anhaben, dafür hatten seine Magier gesorgt, doch die Waffen dieser Wechsler waren anders. Fremd.

 

Eine Dienstbotin eilte heran und zuckte unter weiteren Angriffen und hellen Blitzen erschrocken zusammen. »Mein Laird«, rief sie gegen das Tosen an. Ihre Stimme brach vor Angst. »Tara schickt mich mit einer Nachricht. Es geht um Herrin Dania.«

 

Laird Gregor riss sich vom Anblick der einschlagenden Bomben ab und wirbelte herum. »Was gibt es?« Sein Blick war wild, er ballte seine Krallen zu Fäusten. Er wusste, es war ernst. Niemand würde es wagen, ihn im Augenblick einer Katastrophe zu belästigen, wenn es nicht wirklich wichtig war.

 

Hinter Laird Gregor detonierte die letzte Bombe. Ihr ohrenbetäubender Lärm wurde von einem Zischen und darauf folgendem Tosen verschluckt, dann flog eine Feuersbrunst über das Land vor den Mauern von Burg Vidarfjord. Während die Dienstbotin ihm händeringend ihre Nachricht überbrachte, leckten Flammen die magische Barriere empor, die sich wie eine Kuppel über die Burg zog. Sie erhitzten die Luft und verwandelten alles auf ihrem Weg in schmelzend heißes Plasma. Als glühende Hitze den Himmel verdrängte und für mehr als zwei Wochen jeden ankommenden Wechsler sofort verschlingen würde, schrie Laird Gregor seinen Schmerz hinaus. Dania – die Liebe seines Lebens.

 

 

 

»Sie ist eine Königin, mein Laird«, sagte Tara sanft.

 

»Bist du sicher?« Laird Gregors Stimme klang hohl, fast wie ein Flüstern.

 

»Ihr Duft war unverkennbar. Ihr wisst, dass der Lockstoff nur kurz nach der Geburt auftritt und dann erst wieder zur Geschlechtsreife.«

 

Laird Gregor starrte das kleine Mädchen an, das schlafend in einer Wiege lag. Danias letztes Geschenk an ihn – eine Tochter. Eine Königin? Er wagte es kaum zu glauben.

 

Tara legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter. »Ich schwöre es bei Herrin Danias Leben. Dieses Kind ist eine Königin!«

 

Laird Gregor ballte die Fäuste und holte tief Luft. »Einundzwanzig Jahre warten«, wisperte er. »Wir müssen nur standhalten …« Er beugte sich vor und betrachtete das Kind mit hartem Blick. Jede Minute, jede Sekunde für den Rest seines Lebens, würde ihn dieses Mädchen an seinen Verlust erinnern. Dania. Doch sie war die Zukunft dieser Welt.

 

»Danniella«, flüsterte er mit gepresster Stimme. »Wir werden sehen, wer sich deiner würdig erweist und dann …« Er ballte die Fäuste und wandte sich ab. »Kümmere dich gut um sie!« Dann verließ er die Babykammer. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen.


 

1. Die Brüter

 

 

 

Es war eng und stickig, und es roch definitiv nach Tod. Meine feine Nase rümpfte sich. Kein Ort, um länger zu verweilen, doch ich musste mehr erfahren. Ich kroch näher, versuchte, den Gestank zu ignorieren und presste mein Ohr an die Wand.

 

»Ist Danniella bereit? Die zwölf Kandidaten werden morgen früh eintreffen.« Baltars Stimme, der Großmeister der Brüter.

 

»Sie wird keine Wahl haben, egal, wie bockig sie sich anstellt«, knurrte jemand.

 

»Schweig!« Die Stimme meines Vaters, Laird Gregor von Vidarfjord. »Selbstverständlich ist sie bereit. Ihr ganzes Leben wurde sie auf diesen Moment vorbereitet. Sie kennt ihre Pflicht!« Gemurmel folgte, das ich nicht verstand. Es klang zweifelnd. Ich ballte grimmig die Fäuste. Pflicht, wie ich dieses Wort zu hassen gelernt hatte.

 

»Danniella wird, wie es die Tradition verlangt, morgen ihren ersten Erzeuger wählen«, sagte mein Vater, und seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er mich zwingen würde, falls ich nicht gehorchte. Zwölf Kandidaten, aus denen ich sechs auswählen sollte, für die erste Brut der neuen Generation. Männer, mit denen ich Nephilim zeugen sollte, ausgewählte Kämpfer, deren Erbgut weitere Kämpfer hervorbringen sollte. Ich wurde nicht gefragt, ich hatte meine Pflicht zu erfüllen. Ich hatte meine Einwände geäußert, meinem Vater erklärt, dass ich aus Liebe heiraten wollte, so wie er. Ich hatte versucht, vernünftig mit ihm zu reden. Als das nichts half, hatte ich getobt und gefaucht und zuletzt gebettelt. Er war hart geblieben. Er hatte mich mit seinen blitzenden Augen angesehen und gezischt: »Letztendlich wirst du keine Wahl haben und es sogar gerne tun. Also spar dir deinen Atem, du wirst ihn für die Erzeugernächte brauchen.«

 

Niemals würde ich es gerne tun! Nicht mit sechs verschiedenen fremden Männern, die ich nicht kannte und die mich nur aus einem Grund haben wollten – um mich zu begatten, um ihre ach so wertvolle Frucht weiterzugeben. Niemals!

 

»Sie ist die Antwort auf all unsere Hoffnungen«, hörte ich Douglas sagen, Vaters rechte Hand und ein hochrangiges Mitglied der Brüter, die meine Brut pflegen sollten und meine Nachkommen schulen und in den Kampf schicken würden. »Wir können von Glück sagen, dass der Angriff auf Burg Vidarfjord erfolgreich abgewehrt wurde. Dank Laird Gregors furchtlosem Einsatz von Brenngas. Ja, es hat uns viel gekostet, doch es rettete die Königin, das Kind. Andere in dieser Nacht geborene Säuglinge hatten nicht so viel Glück. Wir verloren viele gute Krieger und noch mehr Zivilisten.«

 

»Douglas hat recht«, sagte jemand, dessen Stimme ich nicht kannte. »Auch wenn es das letzte Aufbäumen eines sterbenden Universums war, so waren und blieben sie die ersten Wechsler, die gezielt vorgingen. Ihre Welt stand kurz vor der Explosion, sie hatten nichts mehr zu verlieren, sie kämpften allein für andere Welten mit dem gleichen Ziel – uns zu vernichten. Sie geben uns die Schuld an ihrem Ende. Und sie hatten einen Vorteil. Sie müssen von der bevorstehenden Geburt einer Königin gewusst haben, daher die gezielten Angriffe auf hochrangige Nephilim, die kurz vor der Niederkunft standen.«

 

»Vermutlich ein Seher mit dem Zweiten Gesicht«, sagte der Großmeister der Brüter. »Und wir können von Glück sagen, dass andere Universen bisher nicht solch gefährliche Informationen zu besitzen scheinen. Angriffe aus anderen Welten geschehen immer häufiger, aber wir konnten sie bisher aufhalten. Doch unsere Reihen sind ausgedünnt. Lange halten wir nicht mehr stand.«

 

»Und Danniella weiß das!«, sagte mein Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch. Zumindest vermutete ich, dass das Poltern daher kam, denn er tat das öfter, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

 

»Also verbitte ich mir weitere Diskussionen über den Gehorsam der Königin! Oder will jemand behaupten, ich hätte meine eigene Tochter nicht im Griff?«, fragte er bedrohlich herausfordernd. Ich verdrehte die Augen. Er hatte nicht. Doch das würde ihm hoffentlich erst so richtig bewusst werden, wenn ich meilenweit entfernt war. Ich hatte genug gehört. Morgen früh also. Die warteten wirklich nicht eine Sekunde länger, als sie mussten. Morgen war mein einundzwanzigster Geburtstag, der Tag der Geschlechtsreife einer Königin. Für mich hieß das, es wurde allerhöchste Zeit zu verschwinden, denn ich hatte einen Entschluss gefasst – niemand außer mir selbst würde jemals über meinen Körper entscheiden!

 

Wie ich entkommen wollte? Ich grinste in mich hinein. Niemand außer mir kannte das Gemäuer von Burg Vidarfjord besser als ich. In den letzten einundzwanzig Jahren hatte ich jede freie Minute damit verbracht, mein Gefängnis auszukundschaften. Oh ja, die Burg war für mich eine Art Gefängnis. Ich durfte hinaus, doch nur unter Aufsicht. Nur innerhalb dieser Mauern konnte ich mich frei bewegen und das hatte ich bis in den letzten Winkel hinein ausgenutzt. Bereits mit zehn Jahren entdeckte ich diesen Geheimgang, der bis hinter die Burgmauern reichte. Streifzüge – meist nachts – in der näheren Umgebung folgten, immer darauf bedacht, mich nicht erwischen zu lassen. Heute würde ich nicht zurückkehren.

 

Vorsichtig kroch ich aus dem Winkel der Kammer zurück in den Gang. Dort schulterte ich mein Gepäck und tastete mich in gebückter Haltung vorwärts. Ich hatte Proviant für sieben Tage dabei. Sieben Tage, in denen ich meinen Duft nicht einsetzen musste.

 

Wir Nephilim haben Düfte, die wir gezielt einsetzen können, beispielsweise zur Jagd oder als Sexuallockstoff. Ich als Königin soll für Letzteres mit der Geschlechtsreife noch einen ganz anderen Duft entwickeln. Einen Duft, der nur Königinnen vorbehalten ist. Ich würde nicht darauf warten, ihn in Gegenwart einer meiner Begatter zu erlangen.

 

Obwohl ich als Nephilim nachts hervorragend sehen konnte, nutzte mir das hier unten in vollkommener Dunkelheit wenig. Weit genug von der Kammer entfernt holte ich einen Lichtstein hervor und folgte dem sich windenden Gang bis in eine weitere, etwas größere Kammer. Mein Quartier für die nächsten drei Tage. Weshalb ich nicht sofort floh? Ganz einfach. Gleich morgen früh würde sich eine Horde Brüter und Wachen auf meinen Himbeergeruch stürzen. Ja, ich roch nach Himbeeren. Es gab definitiv Schlimmeres. Zum Glück mochte ich Himbeeren. Die Jäger würden mit Sicherheit meine Fährte aufnehmen und mich in wenigen Stunden aufgespürt haben. Unser Duft in Ruhestellung ist sehr schwach, doch für trainierte Fährtenleser mit Sicherheit zu finden. Hier in der Burg roch alles nach mir, niemand würde den Eingang zum Tunnel finden, sie würden ihn überhaupt nicht suchen, denn niemand ahnte auch nur, dass es ihn gab. Wüsste mein Vater davon, er ließe ihn bewachen. Wenn ich hier drei Tage ausharrte, hatten meine Verfolger sich bereits auf ihrer Suche nach mir weit von der Burg entfernt. Das war meine Chance, unentdeckt zu entkommen. Sie würden ringförmig von der Burg aus alles absuchen, doch sie würden keine Zeit darauf verwenden, ringförmig alles noch einmal rückwärts zu überprüfen. Wer als Bote zurückgeschickt wurde, um Bericht zu erstatten, der nahm einen direkten Weg. Ich konnte nur darauf hoffen, dass dieser Weg nicht zufällig meinen Fluchtweg kreuzte. Mein Plan war es also, mich hinter meinen eigentlichen Verfolgern aufzuhalten. Ich hoffte, das war gerissen genug, um zu funktionieren.

 

Ich packte eine isolierende Unterlage aus und deckte mich mit meinem Mantel zu. Dann bereitete ich mich auf eine drei Tage lange Nacht vor.

 

 

 

»Du bist geflohen?« Emilies besorgte Stimme enthielt eine Portion Bewunderung.

 

»Oh ja. Du glaubst doch nicht, dass ich mich einfach so füge. Ich will ein normales Leben führen und nicht von sechs verschiedenen Lüstlingen begattet werden.«

 

»Und wie soll ein Leben auf der Flucht normal sein?«, entgegnete Emilie.

 

Ich knurrte. »Das wird sich zeigen«, sagte ich gepresst. Ich wollte Zustimmung und Lob, nicht eine Aufzählung neuer Probleme. Die kannte ich bereits, sie brauchte sie mir also nicht zu erzählen. Wer oder was Emilie genau war, das wusste ich nicht. Sie war eine Hexe, zumindest in irgendeiner Form, dessen war ich mir sicher, denn ich traf sie nur im Schlaf. Emilie hatte die Gabe, mich in ihre Träume zu holen. Irgendwie. Ich hatte noch nie davon gehört, dass einer unserer Hexer dazu fähig war. Die Traumebene, auf der wir uns trafen, schien allerdings Emilies einzige magische Fähigkeit zu sein, denn sie selbst bezeichnete sich als Mensch. In ihrer Welt, in ihrem Universum, gab es laut ihr nur Menschen – keine Hexen, keine Nephilim. Menschen, die uns Nephilim in so unendlich vielen Universen so sehr hassten, dass sie als Wechsler zu uns kamen, um uns zu vernichten. Emilie konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, da war ich mir nach einigen Monaten Traumfreundschaft eigentlich sicher. Offenbar wusste man in ihrer Welt nicht einmal, dass es Nephilim gab. Ein sicheres Indiz dafür, dass Emilie mir nichts Böses wollte. Oder ein Beweis dafür, dass sie eine begnadete Schauspielerin war. Ich war auf der Hut, egal, wie gut mein normalerweise untrügbares Bauchgefühl auch war. Egal, ob Freund oder Feind, ich war neugierig. Ein siebzehnjähriges Mädchen aus einem anderen Universum, in dem es auf ihrer Welt angeblich keine Magie gab, konnte eine Traumebene erschaffen und mich Universen übergreifend zu sich rufen. Wenn das nicht interessant war, was dann?

 

»Und du wirst jetzt drei Tage in einem finsteren Gang verbringen?« Emilie erschauderte und musterte mich besorgt. »Das ist …«

 

»Dunkel«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Genug von mir. Was machen deine Albträume?«

 

»Viel besser«, sagte sie sichtlich erleichtert.

 

Ich nickte. »Sehr gut, das freut mich. Du siehst auch besser aus. Die dunklen Augenringe fangen an zu verblassen.«

 

Emilie litt seit frühester Kindheit unter immer gleichen Albträumen, die sich keiner erklären konnte. Dunkle Finger griffen nach ihr. Sie sah eine Hand und eine Klinge. Und Blut, das sie zu ertränken drohte. Wir hatten gemeinsam nach einem Grund gesucht, doch nichts gefunden, das ihre Träume erklärte. Wenig verwunderlich, wenn in all den Jahren ein Heiler nach dem anderen gescheitert war. Aber wir hatten uns darüber richtig kennengelernt. Sie erzählte von sich, ihrer Welt und ihren Problemen und ich erzählte von mir, meiner Welt und meinen Problemen. Ich hatte das erste Mal eine richtige Freundin – wenn auch nur im Traum und mindestens ein Universum weit entfernt. Freunde waren in meiner Welt dünn gesät, wenn man als Königin geboren in einer Burg gefangen gehalten wurde. Ich hatte alles, was man sich wünschen konnte – außer meiner Freiheit.

 

Emilie und ich unterhielten uns noch eine ganze Weile. Durch ihre Anwesenheit – wenn auch nur im Traum – fühlte ich mich nicht ganz so allein und verlassen. Wir saßen uns auf der Traumebene gegenüber und redeten ungezwungen über alles Mögliche, so als wäre es kein Traum, sondern ein Treffen zweier Freundinnen, die sich über ein paar Tassen Tee ihrer Gegenwart erfreuten. Nur, dass wir uns hier nicht auf dem Sofa rekelten, sondern in Emilies brauner Aura badeten, die das einzige Licht auf dieser unendlich weiten und lautlosen Traumebene bot. Trotzdem fühlte ich kein Unbehagen aufgrund der undurchdringlichen Schwärze um uns herum, sondern nur Geborgenheit. Emilies Licht war warm und von einer seltsam positiven Kraft erfüllt. Nicht zum ersten Mal spürte ich eine merkwürdige Zusammengehörigkeit mit ihr – eine Art Urkraft, die uns verband –, was ich mir nur dadurch erklären konnte, dass unsere Treffen in ihren Träumen uns auf einer höheren Ebene zueinander geführt hatten. Es war wie eine fremde Energie, die uns verband. Als wäre unsere Freundschaft vorherbestimmt. Vielleicht war es aber auch nur tröstend jemanden zu haben, der sich sorgte und mich verstand – zumindest teilweise. Denn wie sollte Emilie als Mensch mein Leben als Nephilim voll und ganz nachvollziehen? Trotzdem, ich war dankbar, dass es sie gab. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit, zumindest, wenn Emilie mich nicht doch irgendwie hinters Licht führte. Sollte sie mit meinem Vater zusammenarbeiten, dann würde ich das sehr bald herausfinden …

 

 

 

Seit fast zwei Wochen war ich nun auf der Flucht. Falls Emilie nicht ganz ehrlich sein sollte, hatte sie mich zumindest nicht verraten. Mein Plan hatte funktioniert, ich entkam Burg Vidarfjord unbemerkt und floh gen Norden – immer darauf achtend, nicht die Fährten der Brüter zu kreuzen. Ich machte einen großen Bogen um Porte i Orcas – zu dicht bevölkert – und streifte durch die unberührte Natur nördlich von Vidarfjord. Bisher hatte ich Glück und fühlte mich langsam etwas sicherer. Leider fühlte ich mich auch hungrig. Sehr hungrig. Mein Proviant war aufgebraucht und ich lebte seit wenigen Tagen von Kräutern, Pilzen und Wurzeln. Doch mein Nephilimkörper schrie nach Fleisch. Nur genügend Proteine konnten meine schwindenden Energiereserven auffüllen, und ohne den Einsatz meines Duftes gestaltete sich die Jagd schwierig.

 

Ich hockte wie eine Statue an einem kristallklaren See und hielt nach Fischen Ausschau. Die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte mich. Ich saugte ihre Strahlen in mich auf, als könnte ich sie für die kalten Herbstnächte hier oben im Norden speichern. Zum Glück fror man als Nephilim nicht so schnell. Dank meiner blitzschnellen Reflexe war ich bei der Fischjagd erfolgreich gewesen, obwohl ich in der Jagd ohne Duft völlig unerfahren war. Gegrillter Fisch schmeckte köstlich. Ich starrte auf die spiegelblanke Wasseroberfläche, eine junge Frau starrte zurück – der Blick unbeweglich, voller Konzentration. Gelbgrüne Katzenaugen. Hellblonde, lange Haare fielen mir zu beiden Seiten über die Schultern und berührten meine schlanken, aber durchtrainierten Beine. Ich sah ein längliches Gesicht mit hohen Wangenknochen, ebenmäßigen Zügen und glatter, fast elfenbeinfarbener Haut.

 

Meine perlmuttglänzenden, Silber angehauchten Flügel verharrten regungslos, um die Beute nicht zu erschrecken, und meine Füße und Krallen bohrten sich in den kalten Boden der Hochebene, bereit mich auf Kommando hinauf in die Luft zu katapultieren. Ein Körper für die Jagd geschaffen und ich wurde besser – mit jedem Angriff, mit jeder geschlagenen Beute.

 

Da, ein Fang, der sich kaum lohnen, aber zumindest meinen knurrenden Magen beruhigen würde. Der half nämlich nicht gerade dabei, sich lautlos anzuschleichen. Der kleine Fisch näherte sich langsam, ich spannte jeden Muskel, zum Sprung bereit. Doch dann fing ich einen Geruch auf – Kaninchen! Das Wasser lief mir im Mund zusammen und ich handelte instinktiv. Mein Jagdduft verströmte sich automatisch, ich wirbelte herum und stürzte mich in einer fließenden Bewegung auf das von meinem Duft benebelte Tier. Meine Krallen schlugen zu, im nächsten Moment hatte ich dem Nager das Genick gebrochen. Zufrieden betrachtete ich meinen Fang, mein Magen knurrte auffordernd und ungeduldig. Doch als das Adrenalin langsam meinen Körper verließ, wurde ich mir bewusst, was ich getan hatte. Ich hatte meinen Duft eingesetzt, unabsichtlich und so unvorsichtig. Verdammt! Ich warf den Kopf in den Nacken und unterdrückte einen zornigen Schrei. Es half nichts, es war zu spät. Ich konnte nur hoffen, dass keiner der Brüter in den nächsten Tagen diesen Weg zurück wählen würde. Und ich sollte meinen Fang genießen. Ich würde zu Kräften kommen, das war doch zumindest etwas, und dann musste ich hier schleunigst verschwinden.

 

Nach der üppigen Mahlzeit, es würde sogar für den nächsten Tag noch reichen, fasste ich einen Entschluss. Ich würde Fleisch brauchen. Hier gab es meinen Duft nun schon, viel größer konnte der Schaden nicht mehr werden. Also ging ich gezielt auf Kaninchenjagd, setzte meinen Duft ein und hatte in Kürze drei weitere Nager erlegt. Nun aber weg hier, und zwar schnell.

 

 

 

Am nächsten Abend kreuzte ich eine frische Spur der Brüter. Ich roch eindeutig, dass sie erregt waren – positiv erregt. Sie hatten mich gefunden. Ich seufzte ergeben und knirschte mit den Zähnen. So ein verdammtes Pech. Das Unbehagen schnürte mir die Kehle zu, ich trat wutentbrannt gegen einen Stein. Verflucht! Dann atmete ich tief durch und riss mich zusammen. Ich konnte hierbleiben, gefangen werden und als Brutkasten enden, oder ich handelte. Keine schwere Wahl. Obwohl ich den ganzen Tag unterwegs gewesen war, beschloss ich, die Nacht zu nutzen, um mehr Abstand zu gewinnen. Doch nun, wo sie eine Spur hatten, würde es ein Katz-und-Maus-Spiel werden. Mein Vorteil war dahin, sie tappten nicht mehr im Dunkeln. Ich änderte die Richtung, nahm Kurs auf Rana und schwang mich in die Lüfte. Meine Flügel würden mich schneller zur Grenze tragen und weniger Spuren hinterlassen. Ganz würde mein Himbeergeruch allerdings auch im Flug nicht verloren gehen, nicht für erfahrene Fährtenleser, die eine Spur aufgenommen hatten. Ich konnte nur darauf hoffen, meinen Vorsprung auszubauen. Und darauf, dass Alexander von Rosendal, dessen Klanrevier sich an der Grenze zwischen Orcas und Rana an das von meinem Vater anschloss, die Jagd auf mich auf seinem Grund und Boden verbot. Eine vage Hoffnung, nur ein Strohhalm. Alexander war zwar ein ehrenwerter Mann, doch auch er würde keinen Krieg mit Gregor von Vidarfjord beginnen, nur um die ungehorsame, vor ihren Pflichten flüchtende Tochter zu retten. Trotzdem würde ich mich etwas wohler fühlen, wenn ich unser Klangebiet verlassen hatte. Reine Psychologie, nichts anderes.

 

Während ich durch die dunkle sternenklare Nacht flog, sehnte ich mich nach Schlaf und einem Treffen mit Emilie. Die Einsamkeit begann an mir zu zehren, etwas, das ich nicht ganz verstand, denn bisher hatte ich mich alleine ganz wohl gefühlt. Die letzte Nacht hatte ich Emilie nicht getroffen, vermutlich plagten sie wieder Albträume und sie konnte danach nicht wieder einschlafen. Und wenn ich ab heute nachts reisen würde, konnte ich nicht sehr bald darauf hoffen, sie zu sehen. Ein beklemmendes Gefühl des Verlassenseins erfasste mich. Tapfer biss ich die Zähne zusammen und flog weiter gen Rana.

 

 

 

Zwei Nächte später war ich immer noch auf freiem Fuß, umflog in weitem Bogen Saird i Rana, um auch ja niemandem zu begegnen, und steuerte auf Burg Rosendal zu, um von dort aus die Hochebene von Rana zu erreichen. Ich hatte es über die Grenze geschafft, und obwohl es keinen logischen Grund dafür gab, und ich keine Ahnung hatte, wie nahe meine Verfolger waren, fühlte ich mich erleichtert. Emilie hatte ich immer noch nicht getroffen. Langsam machte ich mir Gedanken. Am frühen Vormittag suchte ich mir einen windgeschützten Unterschlupf, breitete die isolierende Unterlage aus, wickelte mich in meinen Reisemantel und packte gegrilltes Kaninchen aus. Ich hatte noch Fleisch für drei Tage, dann musste ich erneut jagen. Satt und todmüde legte ich mich schlafen. Emilie hatte recht. Ein Leben auf der Flucht war auch nicht das Wahre, zumindest nicht, wenn man den Atem der Verfolger im Nacken spürte. Ich musste sie abschütteln. Ich wusste nur noch nicht wie. Und mir musste schnell etwas einfallen. Vielleicht sollte ich versuchen, in Saird i Rana durch das Reiseportal zu fliehen? Auf Dauer wäre das meine einzige Chance. Doch, um diese Fluchtmöglichkeit nutzen zu können, musste ich noch eine ganze Weile durchhalten. Ich vermutete stark, dass Vater jemanden abgestellt hatte, um das Reiseportal zu bewachen. Er würde mir sicher nicht die Möglichkeit lassen, mich in wenigen Sekunden auf Nimmerwiedersehen ans andere Ende der Welt befördern zu können. Aber irgendwie musste mir genau das gelingen, wenn ich wirklich frei sein wollte. Während ich grübelte, wie ich das anstellen könnte, übermannte mich der Schlaf.

 

 

 

Ich wurde gerufen. Nicht im wörtlichen Sinne, sondern körperlich. Es war wie ein Sog. Ein warmer Sog, ein braunes Licht. Die Traumebene. Erleichterung durchflutete mich, ich brauchte jetzt wirklich eine Freundin, auch wenn sie ein Universum weit weg war.

 

»Emilie? Emilie, wo bist du?« Sie kam in ihrer braunen Aura badend auf mich zu, offenbar ähnlich erleichtert, mich zu treffen wie ich sie. Ihre braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, sie sah müde aus – richtig erschöpft.

 

»Du siehst blass aus«, stellte ich fest und betrachtete sie eingehend. Emilies Haut war ähnlich hell wie meine, doch heute schien sie ungesund grau. Ihr zierlicher Körper wirkte noch schmaler und kleiner als sonst. Mit weit aufgesperrten Augen starrte sie mich an. »Wieder ein Albtraum nehme ich an?«

 

»Wo warst du so lange?«, stieß sie ungehalten aus.

 

Ärger stieg in mir hoch. »Ich hatte auch so meine Probleme«, presste ich ungehalten hervor. Ja, Albträume waren schrecklich, doch ich hatte reale Gefahren zu bewältigen. Allein! »Die letzten zwei Tage waren nicht gerade ein Zuckerschlecken, kann ich dir sagen. Ich bin auf der Flucht. Die Brüter haben mich gefunden.«

 

»Oh, nein!«, rief Emilie erschrocken. Na bitte, da war sie wieder, meine einfühlsame, besorgte Freundin. Die liebe, immer hilfsbereite Emilie. Diese Albträume mussten ihr ganz schön zu schaffen gemacht haben, wenn sie so grantig reagierte. Das war wirklich nicht gerade ihre Art.

 

»Wie haben sie dich gefunden?« Ihre Besorgnis stand ihr ins Gesicht geschrieben.

 

Ich seufzte und ließ mich auf den Boden der Traumebene sinken. Ein seltsamer Ort. So friedlich, trotz der allumfassenden Dunkelheit um uns herum. Nur Emilies braunes Licht umgab uns.

 

»Ich weiß es nicht. Das ist das Schlimmste daran. Sie müssen durch Zufall über meinen Duft gestolpert sein. Ich muss nun einmal jagen.« Ich seufzte erneut und dachte an die Episode am See zurück. Ich schüttelte verdrießlich den Kopf. So unvorsichtig. Emilie sah mich mitfühlend an. Ich hatte meine Freundin wirklich vermisst. Es war so schön, jemandem von meinen Sorgen erzählen zu können – zu wissen, dass sie für mich da war, auch wenn ihr Körper in einem anderen Universum weilte. Ich erzählte Emilie von meiner Kaninchenjagd, davon, dass ich es über die Grenze geschafft hatte und dass ich in Zukunft nur nachts unterwegs sein würde, um das Risiko, entdeckt zu werden, so gering wie möglich zu halten.

 

»Du schaffst das bestimmt. Das ist ein guter Plan«, sagte Emilie, um mich zu ermutigen. Trotzdem spürte ich eine Unruhe in ihr. Automatisch schärften sich meine Nephilimsinne und ich lauschte in die Nacht. Etwas knackte. Ich flog auf die Beine und horchte angespannt.

 

»Da ist etwas«, wisperte ich. »Ich muss weg!«

 

»Pass auf dich auf!«, rief sie mir voller Sorge hinterher. Ich hörte ihre Worte nur noch wie ein Echo aus einem Traum, dann war ich hellwach und mit allen Sinnen auf die drohende Gefahr fixiert.

 

 

 

Der Geruch war eindeutig. Streng stach er mir in meine feine Nase. Ein Säbelzahntiger auf der Jagd! Und er hatte mich gewittert. Ich beugte mich vor und ließ ein dunkles Knurren aus meiner Kehle entweichen. Alle Muskeln spannten sich an, gefasst darauf zu reagieren, egal in welche Richtung. Es raschelte, ich hörte es atmen, dann ein Fauchen und ein markerschütterndes Brüllen etwas weiter entfernt. Ich zuckte zusammen, eine Gänsehaut überzog mich, die Nackenhaare stellten sich mir auf. Sie waren zu zweit. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich witterte und erfasste die Lage. Sie hatten meinen Proviant gerochen. Gegrilltes Kaninchen. Mein Knurren ließ sie zögern. Kein Tier dieser Welt ging überstürzt in den Kampf mit einem Nephilim. Doch sie waren zu zweit und offenbar hungrig. Ich würde sie nicht vertreiben können, nicht zwei so mächtige Tiere. Zumindest nicht, ohne meine Beute zu verlieren. Es gab nur eine Möglichkeit, ich musste den Augenblick nutzen und fliehen. Ich musste trotz Tageslicht und der Gefahr, entdeckt zu werden, meinen Unterschlupf verlassen, und zwar bevor sie angegriffen. Ich raffte meine wenigen Habseligkeiten zusammen, stürzte aus meinem Unterschlupf direkt auf den ersten Säbelzahntiger zu und fauchte aus voller Lunge. Er wich einen halben Meter zurück. Ich hatte ihn überrascht. Sein Partner hingegen setzte zum Sprung an. Ich wartete nicht ab, ob beide sich vereint auf mich stürzen würden. Samt Rucksack schnellte ich in die Höhe, breitete im Sprung meine Flügel aus und arbeitete aus Leibeskräften, um Höhe zu gewinnen. Ich hörte es Fauchen, dann traf mich eine Pranke, Krallen gruben sich in meine Wade. Ich schrie vor Schmerz auf, trat mit meinem anderen Fuß nach unten und schlug noch einmal kräftig mit meinen Schwingen. Ich war frei, unter mir brüllte es wütend auf. Ich sah mich nicht um. Meine Wade brannte wie Feuer. Nur weg hier.

 

Ich brauchte schnellstens einen neuen Unterschlupf. Meine Augen suchten die Umgebung ab, ich passte den nächsten Luftstrom ab und segelte so tief wie möglich über die von dichten Wäldern bedeckte Landschaft. Wieder kreuzte ich eine Spur der Brüter und fluchte leise vor mich hin. Sie konnten nicht weit entfernt sein. Ich roch ihre Erregung, mir dicht auf den Fersen zu sein. Und jetzt war ich auch noch verletzt. Obwohl ich nur wenige Stunden geschlafen hatte, wechselte ich erneut die Richtung, folgte einem Luftstrom höher hinauf und machte mich auf einen langen Tag gefasst. Einen langen, sauerstoffarmen Tag, denn ich ließ mich höher und höher tragen, bis ich die Wolkendecke durchstieß. Gleißendes Sonnenlicht empfing mich und erleuchtete einen Teppich aus schneeweißer Watte. Es war um einiges kühler hier oben, doch als Nephilim machte mir das nichts aus. Der Sauerstoffmangel schon eher. Ich atmete tief durch und breitete meine Flügel für einen längeren Segelflug aus. Ich hatte einen steten Luftstrom gefunden, der mich rasch gen Westen führte. Ein Luftwesen zu sein, hatte seine Vorteile. Alle Nephilim spürten den Luftdruck und aufkommende Stürme. Wir verkörperten das Element Luft im wahrsten Sinne des Wortes. Einige konnten sogar den Wind lenken und Luftströme beeinflussen. Die Luft war ein Teil von uns, wie das Wasser für die Fische. Ich wusste, mein Körper würde sich anpassen. Wir konnten mit weitaus weniger Sauerstoff auskommen als Menschen. Ich wusste nur nicht, mit wie viel weniger und wie schnell ich mich gewöhnen würde, denn ich war noch niemals so hoch oben gewesen. Mein Gefängnis hatte mich geschützt, aber mir auch die Möglichkeit verwehrt, meine Grenzen zu testen. Es wurde höchste Zeit, herauszufinden, was in mir steckte. Ich biss die Zähne zusammen, ignorierte das leichte Schwindelgefühl und segelte im Luftstrom über den Wolken aus der Gefahrenzone. Zumindest hoffte ich das.

 

Als die Dunkelheit einbrach, tauchte ich ab, überflog die vom Mond beleuchteten Wipfel des Waldes unter mir und suchte gezielt nach einem Unterschlupf. Ich brauchte einige Stunden Ruhe. Um genau zu sein, benötigte mein Bein die Ruhe, um zu heilen. Es hatte viele Vorteile, ein Nephilim zu sein. Wir verkörperten nicht nur die wörtlichen Aspekte des Elements Luft, sondern auch die geistigen. Oder spirituellen, je nachdem, wie man es bezeichnen wollte. Wir hatten überdurchschnittliche Selbstheilungskräfte. Die Hexer erklärten es damit, dass wir als Nachfahren der Schöpfer Zugang zu höheren Energien hatten. Vermutlich stimmte es, sie hatten mehr Ahnung von so etwas als wir – immerhin bedienten sie sich des Elements Erde, um ihre Magie auszuüben. Als magische Fähigkeiten würde ich die Selbstheilungskräfte nicht bezeichnen, eher als eine evolutionär erworbene Eigenschaft. Es war nun einmal von Vorteil, wenn man als Krieger schnell heilende Energien besaß. Ob wir diese nun aus höheren Ebenen kanalisierten oder ob es einfach eine mit der Zeit erworbene, genetisch entwickelte Fähigkeit war, darüber sollten andere sich streiten. Ich wusste, dass es so war und dass für den Heilungsprozess eine Ruhephase nötig war. Das reichte mir als Wissen im Moment vollkommen aus.

 

Ich landete am Ufer eines Flusses und stöhnte auf, als ich mein Bein belastete. Ich witterte um mich herum – keine Gefahr. Also ließ ich mich auf einem Stein nieder, schälte meine Wade aus der zerrissenen Hose und betrachtete die Bescherung. Alles war voller Blut, sogar mein Schuh war rot getränkt. Ich biss die Zähne zusammen und wusch die Wunde mit klarem Flusswasser sauber. Erleichtert atmete ich auf. Es sah schlimmer aus, als es tatsächlich war. Zwei tiefere Wunden und drei oberflächliche Kratzer. Letztere bluteten nicht mehr, aus den beiden anderen Wunden suppte es dickflüssig, das Blut gerann bereits. Sehr gut. Es reichte, wenn die Blutung stoppte, um meine Flucht fortzusetzen. Die weitere Heilungsphase musste bis zum nächsten Tag warten. Ich musste den Schutz der Nacht unbedingt nutzen, um mehr Abstand zu gewinnen. Ich baute aus Fichtenzweigen einen provisorischen Schutz, rollte mich in meine Flügel ein und ließ mich in einen heilenden Schlaf fallen. Meine innere Uhr stellte ich auf etwa drei Stunden.

 

Als ich erwachte, war ich zwar erschöpft, doch die Wunden hatten zu bluten aufgehört. Ich inspizierte meine Wade noch einmal genauer, nickte zufrieden und stieß mich vorsichtshalber nur mit einem Bein ab, als ich zum Flug ansetzte. Ich musste die Wade schonen, wenn die Wunden nicht wieder aufreißen sollten. Hoffentlich hatten die scharfen Krallen des Säbelzahntigers mir keine Infektion eingepflanzt. Das konnte ich jetzt nicht auch noch gebrauchen.

 

 

 

Ich war auf der Traumebene. Wieso versteckte sich Emilie? Ein Spiel? Für sowas hatte ich wirklich nicht den Kopf frei. »Emilie? Emilie! Ich kann dich sehen, warum kommst du nicht?« Keine Reaktion. »Was soll das?«, fragte ich ungehalten. »Willst du mich zum Narren halten?« Ich war verärgert. Nach einem Tag und einer Nacht in der Luft hatte ich endlich einen guten Unterschlupf und Schlaf gefunden. Ich war erschöpft und wollte nur gern ein vertrautes Gesicht sehen.

 

Emilie sah mich verwundert an. »Wieso?«

 

Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. »Vielleicht, weil du dich hinter deinem braunen Schatten versteckt und mich heimlich beobachtet hast?«, zischte ich. Emilie wirkte verwirrt. Irrte ich mich?

 

»Wie kommst du denn darauf? Ich habe mich nicht versteckt. Warum sollte ich das tun? Ich bin doch heilfroh, dich zu treffen.«

 

Es stellte sich heraus, dass Emilie ihre Traumebene nicht vorsätzlich betreten konnte. Offenbar war es Zufall, wann sie diesen Zugang erschuf. Sie war wirklich ungeübt in ihren Hexenkräften. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass die Raumebene vermutlich immer da war und dass sie den Zugang sicherlich auch willentlich herbeirufen konnte.

 

»Das wäre praktisch«, meinte sie nach einer Weile. Hoffnung schwang mit, aber auch Unsicherheit. Ich wusste, dass Emilie nur nach unseren Treffen auf der Traumebene albtraumfrei schlafen konnte. Verständlich also, dass sie mich herbeisehnte. Oder eher die Traumebene? Ein Stich ins Herz verriet meine plötzliche Unsicherheit. Wollte sie gar nicht mich so dringend sehen? Ging es ihr nur um den albtraumfreien Schlaf? »Probier es einfach aus«, sagte ich trotzdem. »Was hast du zu verlieren.« Ich hätte aber etwas zu verlieren. Eine Freundin. Ich knurrte mürrisch. »Aber vergiss mich dann nicht …«

 

Ein ehrliches Lächeln erhellte Emilies Gesicht. »Niemals, versprochen. Wie sollte ich jemanden wie dich einfach vergessen? Keiner knurrt so schön wie du.« Ich knurrte noch einmal, abfällig. Das konnte ja jeder sagen.

 

Emilie sah mich aufrichtig an. »Nein, im Ernst, Danny«, sagte sie und ich spürte, dass sie jedes Wort meinte. »Du bist meine Freundin. Ich freue mich, dich zu sehen. Unsere Gespräche bedeuten mir sehr viel. Ich mag dich.« Sie sah mich an und irgendwie durch mich hindurch. »Du könntest meine Schwester sein«, sagte sie seltsam nachdenklich. Als sie bemerkte, dass ich sie skeptisch betrachtete, begann sie zu stottern. »Ich … ähm … Ich meine, irgendetwas gibt es da zwischen uns. Ein unsichtbares Band … Irgendwie …« Sie sah mich an. Ich hob zweifelnd die Augenbrauen. Meinte sie das ernst? Ein seltsames Gefühl erfasste mich, dieses merkwürdige Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie spürte es auch? Emilie schlug mit den Armen aus, eine etwas hilflose Geste. »Ich weiß auch nicht«, sagte sie. »Es ist, als ob wir zusammengehören. Es ist …« Sie zögerte.

 

»Als ob es eine uralte Verbindung gäbe«, vollendete ich den Satz. Eine Flut von Gefühlen strömte durch mich hindurch und spiegelte sich in Emilies Gesicht wider – Macht, Liebe, Verlust, eine uralte Kraft, die uns zu erfüllen schien. Emilie starrte mich überwältigt an. »Ich spüre es auch«, wisperte ich. »Diese unendliche Kraft. Eine Macht, die durch meine Adern pulsiert, als wäre da etwas … Fast greifbar … Etwas, das uns einst gehörte und verband. Als würde es mich rufen …«

 

»Ja …«, hauchte sie erstickt. Ihre Augen waren geweitet, fast als machte diese Kraft ihr Angst. Mich bestärkte sie eher. Jetzt war ich mir sicher, etwas verband uns, es war nicht nur Zufall, dass sie gerade mich in ihren Träumen zu sich rief. Es gab einen tieferen Sinn, den wir nur noch nicht verstanden. Wir lächelten uns gegenseitig an – etwas zaghaft in unserer neu gewonnenen Verbindung.

 

»Wie geht es dir?«, fragte Emilie nach einer Weile. Ich erzählte ihr von meiner erneuten Flucht, ließ aber aus, dass ich verletzt worden war. Sie machte sich auch so genug Sorgen, das konnte ich spüren. Weshalb ich Emilie schonte, weiß ich nicht einmal genau. Sie war viel stärker, als sie selbst glaubte. Vielleicht verschwieg ich es auch nur, weil ich mir selbst keine Blöße geben wollte? Wenn ich darüber sprechen würde, würde ich mit meiner eigenen Verletzlichkeit konfrontiert werden – etwas, das ich hier draußen allein in der Einsamkeit fürchtete? Ich spürte plötzlich, dass ich nach Gesellschaft lechzte. Das Gefühl zog förmlich an mir.

 

 

 

Als ich erwachte, war mir das Gefühl der Einsamkeit gefolgt. Ich wollte Gesellschaft. Dringend. Sofort … Sollte ich umkehren? Ich könnte einen Mann finden, Familie gründen. Vielleicht war ja unter den Auserwählten einer dabei, der … Stopp! Ich blinzelte und rieb mir die Augen. Was zum Himmel war das? Wo kamen diese absurden Gedanken her? Ich würde nicht nur einen wählen können, auch wenn wundersamerweise einer dabei sein sollte, der mir gefiel. Ich müsste sie alle haben, einen nach dem anderen. Als Begatter, als Mittel zum Zweck! Was war das nur für eine seltsame Kraft, die da an mir zog? Ich erkannte das Gefühl nicht wieder. Etwas mir völlig Fremdes, das mich irrational denken ließ. Etwas, das … Ich hob meinen Kopf und witterte. Ein Hexer durchstreifte nicht weit von mir den Wald. Vermutlich auf der Suche nach Kräutern. Es zog mich zu ihm, dieses fremde Gefühl in meinem Inneren. Was war nur los? Verwirrt harrte ich aus, bis der Geruch des Mannes sich verflüchtigte. Und mit ihm verschwand auch der Drang nach Nähe. Seltsam. Ich lag noch eine Weile wach und versuchte zu verstehen. Letztendlich übermannte der Schlaf meinen erschöpften Körper aufs Neue. Traumlos, ungestört.

 

 

 

Ich hockte auf einem Ast hoch oben in einer Kiefer und belauschte zwei Hexen, die unter mir am Stamm gelehnt saßen und sich unterhielten. Fünf Tage waren seit dem letzten Treffen mit Emilie vergangen. Ich zog nachts weiter und schlief am Tag nur wenige Stunden. Nur so viel, wie ich wirklich dringend benötigte. Ich hatte die Brüter nicht abgehängt, doch mein Vorsprung war gewachsen.

 

»Danniella von Vidarfjord«, sagte die eine Hexe gerade auf eine Frage der anderen.

 

»Sie ist geflohen?«, fragte die andere ungläubig.

 

»Ja! Nicht zu fassen, oder?« Beipflichtendes Schnaufen von der anderen. Ich verdrehte die Augen. Vermutlich würden die beiden gerne als Brutkasten dienen!

 

»Und jetzt?«, fragte die eine.

 

»Die Brüter suchen sie. Sie soll sich hier in Laird Alexanders Revier befinden.«

 

»Laird Gregors Männer dürfen hier nach ihr suchen?« Ich spitzte die Ohren, jetzt kam hoffentlich der interessante Teil.

 

»Nicht ganz«, antwortete die Hexe. Ich hielt die Luft an. Hatte Alexander die Suche verboten?

 

»Sie dürfen unser Gebiet durchsuchen, doch nur unter der Leitung seiner eigenen Männer.« Ich seufzte innerlich. Wie hatte ich auch auf seine Hilfe zu hoffen gewagt? Ich hatte es im Grunde gewusst.

 

»Die Brüter waren stinksauer, als Alexander nicht sofort Männer abstellte. Die scheinen ganz schön unter Druck zu stehen.«

 

Noch ein Schnaufen. »Das kann ich mir gut vorstellen. Wann startet die Suche?« Ich hielt erneut die Luft an. Alexander hatte sie aufgehalten? Das war interessant … und gab mir einen Aufschub. Es hatte mir sogar bereits einen guten Vorsprung gebracht, denn ich hatte Burg Rosendal vor zwei Tagen passiert, weitläufig umflogen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt saßen Gregors Männer dort fest.

 

»Morgen früh, glaube ich«, sagte die Hexe. »Haldar sagte, er wartet auf Jekos Rückkehr aus Saird i Rana.« Mein Herz machte einen Sprung. Morgen früh erst. Da gerade früher Vormittag war, gab mir diese Information fast weitere vierundzwanzig Stunden Vorsprung. Ich wartete ungeduldig, bis die beiden Hexen ihre Tratschpause beendet hatten, dann ließ ich mich aus der Baumkrone fallen, breitete meine Schwingen aus und nutzte den nächstbesten Luftstrom hinauf in den Himmel. Es war zwar ein sonniger Herbsttag, doch wenn ich hoch genug flog, würde man mich nicht bemerken. Anstatt zu rasten und mich tagsüber schlafen zu legen, nutzte ich die Gelegenheit und flog über die letzten dichten Wälder gen Norden. Drei Tage Vorsprung würden meine Fährte vollkommen verwischen.

 

 

 

Die Hochebene von Rana war eine karge Landschaft. Ich segelte über Herden von Rentieren hinweg, passierte ein Wollnashorn und mehrere Mammuts unter mir und hielt nach Alexanders Jagdhütte Ausschau. Nur einmal war ich hier oben gewesen, vor fünf Jahren. Ich erinnerte mich gut an die Jagdgesellschaft von Alexanders Männern. Es war entspannt und fröhlich gewesen, eine der wirklich schönen Erinnerungen in meinem Leben.

 

Alexanders Jagdhütte lag einsam im Schutz einiger mickriger Kiefern. Hier oben wuchs alles spärlich, trotzdem gefiel es mir. Der nächste Morgen graute bereits, als ich die Hütte endlich fand. Ich wollte nicht lange rasten, nur drei, vier Stunden Schlaf, nach denen mein Körper förmlich schrie. Dann wollte ich weiter. Ich hatte die Hoffnung, die Brüter hätten meine Spur verloren, nachdem ich ständig über der Wolkengrenze geflogen war. Mein Körper hatte sich angepasst, die dünnere Luft dort oben machte mir kaum noch etwas aus. Auch die Kälte spürte ich nicht mehr. Mit meiner Geschlechtsreife war auch das volle Potenzial meines Nephilimkörpers erwacht – widerstandsfähig, kraftvoll, schnell, ausdauernd, anpassungsfähig und mit fast unschlagbaren Selbstheilungskräften ausgestattet. Meine Wunden an der Wade waren verheilt. Nur zwei Narben erinnerten an den Kampf mit den Säbelzahntigern.

 

Trotz der Minusgrade zündete ich in der Hütte kein Feuer an, es könnte mich verraten. Ein Geruch von kalter Asche lag in der Luft und ein Hauch von Rosen. Alexanders Duft. Ich schätzte, dass es etwa eine Woche her war, dass er hier oben übernachtet hatte. Er war immer nett zu mir gewesen, doch jetzt jagten mich seine Männer gemeinsam mit Vaters Brütern. Ich zog den Mantel enger – nicht aus Kälte, sondern als Schutz vor der Einsamkeit. Wieder spürte ich diesen seltsamen Sog in mir, dieses Mal zog es mich zu Alexander. Ich runzelte die Stirn und schüttelte das Gefühl von dringender Nähe energisch ab. Was war nur mit mir los? Ja, Alexander war nett. Und ja, wenn ich schon gezwungen wäre, mich für jemanden zu entscheiden, dann käme er in die engere Wahl. Ich wusste, dass Vater ihn gefragt hatte. Alexander war ein hochrangiger Nephilim mit hervorragenden Genen. Doch zu Vaters Unmut und Unverständnis teilte Alexander offenbar meine Ansicht über Liebe und einen echten Partner. Er hatte höflich, aber bestimmt abgelehnt. Wir hatten kurz danach ein paar Worte gewechselt, sozusagen zwischen Tür und Angel. Er hatte sich bei mir entschuldigt und sich erklärt. Ich verstand ihn nur zu gut. Wie gern hätte ich seine Wahlmöglichkeit gehabt. Ich mochte Alexander, doch es gab keine körperliche Anziehungskraft zwischen uns. Was sollte also meine jetzige Reaktion auf seinen kaum wahrnehmbaren Duft? Machte mir die Einsamkeit wirklich so sehr zu schaffen? Ich war doch zuvor auch einsam gewesen. Umgeben von Dienern und trotzdem allein. Machte die fehlende Nähe von anderen Körpern tatsächlich so viel aus?

 

Grübelnd legte ich mich auf das einzige Bett in der kleinen Hütte und schlang meine Flügel um mich herum. Mit dem entfernten Duft von Rosen in der Nase atmete ich tief durch und ließ mich fallen.

 

 

 

Ich hatte die Augen kaum geschlossen, da zog mich Emilies braunes Licht bereits in die Traumebene. Sie sah grauenvoll aus. Aschgrau im Gesicht, rotgeränderte Augen, leerer Blick. Bis sie mich sah und erleichtert aufatmete.

 

»Du siehst grauenvoll aus«, fasste ich meine Gedanken in Worte. Vielleicht nicht sehr nett, aber wahr.

 

»Ich weiß«, seufzte sie. »Meine Freundin Lovisa ist entführt worden und seitdem …« Sie atmete tief durch und versuchte, ein Würgen zu unterdrücken. Ich wartete ab und ließ sie sich sammeln. »Wir wissen nicht, was passiert ist oder wo sie ist«, setzte Emilie dann händeknetend fort. »Es ist … seltsam. Irgendwas stimmt nicht.« Sie erzählte stockend von einem jungen Mann, der Lovisa verfolgt haben soll, und davon, dass Lovisa dachte, dass er ihr einen Marker ins Haar gegeben hatte, eine Substanz, die es auf Emilies Erde nicht geben sollte. Offenbar war Lovisa dabei, den Verstand zu verlieren, genau wie ihre geisteskranke Mutter.

 

»Nur, wie passt dann die Entführung da hinein?«, fragte Emilie mehr zu sich selbst, als an mich gerichtet. »Und … Und …« Sie sah mich an und schluckte. Ich wartete geduldig. »Mein Albtraum hat sich verändert.«

 

»Tatsächlich?«, fragte ich verwundert und ein wenig alarmiert. Emilies Traum war seit frühester Kindheit immer genau derselbe gewesen. Das hier war wichtig, das würde mir jede Hexe bestätigen. Dazu brauchte man keine speziellen Kräfte in Traumdeutung. »Was genau hat sich verändert?« Ich lehnte mich vor, um Emilie mit meiner Nähe zu beruhigen und gleichzeitig zu ermutigen.

 

»Die Kinderhand, die ich im Traum sehe, sie gehörte einem Mädchen. Und … Und sie hatte Lovisas Kopf …« Emilie knetete ihre Hände und blickte mich gequält an. »Das Mädchen spielte mit einer Lokomotive, dann wurde die Tür aufgestoßen. Ein Schatten huschte ins Zimmer, packte sie und schnitt ihr die Kehle durch.« Emilie zitterte. »Es war dieselbe silberne Klinge, die ich sonst immer sehe«, hauchte sie erstickt. »So viel Blut … Es drohte mich zu ertränken.«

 

Diesen letzten Teil kannte ich bereits. Blut, das auf Emilie zufloss und sie zu ertränken drohte.

 

»Seitdem träume ich das jede Nacht …« Sie blickte mich gequält an.

 

Ich zögerte. Der Traum konnte vieles bedeuten. Entweder hatte Emilie seit Kindesbeinen an eine Vorahnung von der Entführung ihrer Freundin Lovisa und sah nun, was ihr bevorstand, oder es war die Entführung selbst, ein ähnlich schreckliches Erlebnis, ein Verbrechen, das einige Dämme gebrochen hatte und Emilie nun mehr sehen ließ, als nur die wenigen Bilder, die sie sonst quälten. Dass Lovisas Kopf auf dem Kind saß, konnte eine Laune ihrer Psyche sein. Es war nicht einmal sicher, dass ihr wirklich irgendwann einmal etwas geschehen war. Die Albträume konnten auch auf etwas hindeuten, dass Emilie als Kind in einem Film gesehen hatte. Emilie hatte mir von Filmen und Fernsehen in ihrer Welt erzählt. Letzteres glaubte ich zwar nicht, dazu waren die Träume zu hartnäckig, aber die Möglichkeit ganz ausschließen konnte man natürlich nicht. Es gab zu viele Unsicherheitsfaktoren, und genau das war es auch, was ich Emilie zur Beruhigung sagte. »Wir wissen zu wenig. Es kann vieles bedeuten. Vielleicht auch einfach nur, dass du dir Sorgen machst und Angst hast, dass deiner Freundin etwas Schlimmes zugestoßen ist. Ich weiß, dass es schwer ist, aber versuch, deine eigene Angst zu kontrollieren, dann wird dir dein Unterbewusstsein den Weg leiten.«

 

Emilie seufzte und nickte, doch ich spürte, dass sie nicht soweit war. Diese Träume hatten Emilie schon so lange im Griff, dass sie es gar nicht anders kannte. Und ihre neu hinzukommende Panik würde jede produktive Analyse der Traumveränderung verhindern.

 

»Versuche es, Emilie. Es ist deine einzige Chance zu verstehen, was die Traumbilder dir sagen wollen. Versuch hinter die Angst zu blicken. Falls dir durch Lovisas Entführung ein neuer Zugang gelungen ist, kann es sein, dass du demnächst noch mehr siehst. Das wäre nicht ungewöhnlich.«

 

»Im Moment raubt es mir nur den Schlaf«, wisperte Emilie. »Ich habe Angst einzuschlafen …«

 

Das hätte sie mir nicht sagen müssen, das war offensichtlich. »Ich weiß«, sagte ich deshalb leise und hoffentlich verständnisvoll. »Halt mich auf dem Laufenden, wie es weitergeht. Auch was deine Freundin betrifft. Ich hoffe, es geht ihr gut.«

 

Emilie nickte und atmete tief durch. Um sie abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ich erst einmal von mir und meinen Problemen. Es half. Auch mir.

 

 

 

Vollkommen erschöpft fielen wir beide kurz darauf in den Schlaf. Meiner war traumlos. Ich wünschte, auch Emilie konnte sich erholen. Ich hoffte, sie lernte zu verstehen, denn irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Derartige Albträume hatten meist handfeste Gründe …