Minileseprobe aus "Die Erben der alten Zeit - Der Thul"

Minileseprobe der Woche 12


Da Woche 10 und 11 ausgefallen sind, gibt es heute eine etwas längere Leseprobe aus dem zweiten Teil meiner Fantasy-Trilogie Die Erben der alten Zeit - Der Thul. :o)



Es herrschte ein geschäftiges Treiben. Händler, Bauern, Fischer und Reisende aus ganz Vanaheim bevölkerten den Küstenweg und strömten zum Hafen hinab, wo zahlreiche Schiffe vor Anker lagen. Aufgrund des ständigen leichten Regens wirkten die Menschen unscharf in ihren Umrissen und der Lärm des Treibens wurde wie durch Watte gedämpft.

Charlie zog sich ihre Kapuze als Schutz gegen den Regen tiefer ins Gesicht und führte Gler durch die Menschenmenge zum Hafenbecken. Tora und Kunar gingen voran und bahnten ihr auf diese Weise einen Korridor. Niemand achtete in diesem Treiben auf die drei Jugendlichen, die sich etwas unsicher umsahen.

Kräftige Burschen waren damit beschäftigt, Kisten, Körbe und sargähnliche Truhen auf die Schiffe zu laden. An einem der Schiffe waren zwanzig starke Männer dabei, aufgebrachte Hippolektrions zu bändigen. Störrisch weigerten sie sich, an Deck gebracht zu werden. Sie schlugen mit ihren zugeschnürten Schnäbeln um sich und versuchten, trotz vertäuter Krallen und Hufe nach ihren Peinigern zu treten. Ihre kleinen, fluguntauglichen Flügel waren mit Riemen fest an den Körpern gebunden. Charlie ließ ihren Blick schweifen. Einige Einhörner warteten darauf, verladen zu werden, und weiter hinten konnte sie sogar einen Pegasus erkennen, der majestätisch seine perlmuttglänzenden Flügel streckte.

Es roch streng nach einer Mischung aus Salzwasser, vergammeltem Fisch und altem Schweiß. Gler schaute sich etwas nervös um, folgte Charlie aber willig und schnaubte ihr ab und an ins Ohr. Unzählige Flugsaurier, die auf den ersten Blick Pelikanen ähnlich sahen, zogen über dem Hafen ihre Kreise. Ihre hellen Schreie gellten über Eliborg.

Zwei Fähren verließen soeben den Hafen, während weit draußen das schemenhafte Segel eines ankommenden Schiffes deutlich wurde.

»Und wie sollen wir jetzt Brages Schiff finden?«, fragte Tora.

»Brage soll groß und kräftig sein«, erinnerte sich Charlie und sah sich unsicher um.

Doch irgendwie waren hier alle groß und kräftig.

»Und einen grauen Schnurrbart soll er haben …«, murmelte sie.

»Wir sollten besser nach seinem Schiff Ausschau halten«, sagte Kunar. »Biarn hat doch was von einer Galionsfigur erzählt.«

»Eine Lichtelfe … aber die haben alle Galionsfiguren«, sagte Charlie und betrachtete etwas überfordert ein vertäutes Schiff nach dem anderen.

»Das da vielleicht?« Tora zeigte auf eine kleine Fähre, die in zweiter Reihe vor Anker lag.

»Nein«, meinte Charlie bestimmt. »Das ist ganz bestimmt keine Lichtelfe, sondern eine Marmenille.«

»Brages Schiff ist wahrscheinlich gar nicht hier«, spekulierte sie und sah über das Meer nach Godheim hinüber.

Der Hafen in Elisand war so weit weg, dass man keine Einzelheiten erkennen konnte, doch Tora zählte mindestens fünf Schiffe, die gerade zwischen den Häfen verkehrten.

Sie überlegten, wie sie die Zeit überbrücken sollten, als Tora plötzlich aufgebracht auf und ab hüpfte und in Richtung Hafeneinfahrt deutete.

»Das muss es sein. Genauso stelle ich mir eine Lichtelfe vor!«, rief sie.

Charlie wurde schlagartig an ihre Nornenvision erinnert. Am Bug des Schiffes, das in diesem Moment in den Hafen einlief, thronte ein libellenartiges Wesen mit langen, dünnen menschenähnlichen Gliedmaßen und weit ausgebreiteten, filigranen Flügeln. Charlie fragte sich sofort, wie es sein konnte, dass dieser hölzerne Hauch von Nichts im rauen Wind des Meeres bestehen konnte.

»Eindeutiger geht es wohl kaum«, sagte Kunar. »Die Magie segelt ihm förmlich voraus!«

Richtig, der Kapitän dieses Schiffes musste ein Raidho sein.

Charlie hatte sich so an ihre Heimlichtuereien bezüglich magischer Fähigkeiten gewöhnt, dass sie fast vergessen hatte, dass getaufte Magier ein hohes Ansehen besaßen. Von ihnen wurde regelrecht erwartet, ihre magischen Kräfte zur Schau zu stellen.

Biarn hatte gewusst, dass das richtige Schiff nicht zu übersehen war.

»Ja, dann …«, sagte Charlie und konnte ihren Blick nur mühsam vom einlaufenden Schiff losreißen.

»Ob wir Brage wirklich trauen können?«, warf Kunar ein.

»Wenn es nach Biarn geht, absolut«, erwiderte Tora. Auch wenn Kunar fast gänzlich zu sich selbst zurückgefunden hatte, so hegte er doch weiterhin einen Groll gegen alles Magische. Er zeigte nämlich immer noch keine Ansätze magischen Könnens.

Mit gemischten Gefühlen beobachteten die drei, wie Brages Schiff sich näherte und im Hafen andockte. Leinen wurden über Bord geworfen und Helfer wuselten herbei, um die Taue des Schoners am Hafen zu befestigen. Eine breite, hölzerne Brücke wurde herabgelassen, die das Schiff bald mit dem Kai verband. Nur kurze Zeit später trugen kräftige, bärtige Männer große Kisten und Körbe von Bord.

»Hier.«

Charlie drückte Kunar Glers Zügel in die Hand. »Ich gehe mich dann mal vorstellen«, sagte sie, fühlte sich aber weniger mutig, als sie sich gab. Charlie bahnte sich den Weg bis zur Brücke und blieb unschlüssig stehen.

»He! Du da!«, sprach sie prompt ein grobschlächtiger Mann barsch an. »Aus dem Weg!«

»Ich … ich suche den Kapitän dieses Schiffes«, sagte sie etwas eingeschüchtert.

»Los, aus dem Weg!«, wiederholte der Mann. Charlie schob den Brustkorb vor.

»Ich wünsche sofort Kapitän Brage zu sprechen!«, rief sie mit fester Stimme und hoffte eindringlich, dass der ungehobelte Kerl sie nicht eigenhändig ins Hafenbecken warf. Er sah Charlie an, als würde er nichts lieber tun, als ihre Befürchtungen zu erfüllen.

»Wer will das wissen?«, brüllte er ihr zu.

Jetzt kam es darauf an.

Charlie nahm all ihren Mut zusammen.

»Ich bin auf Befehl meines Herren hier!«, rief sie. »Er schickt mich mit persönlichen Gegenständen zu Kapitän Brage!« Ihr Gegenüber zögerte kurz.

»Wer ist dein Herr?«, fragte er misstrauisch.

»Das geht dich nichts an!« Charlie versuchte so viel Selbstvertrauen und Überzeugung wie möglich in ihre Worte zu legen. »Wie ich bereits sagte, handelt es sich um etwas Persönliches!«

Der Mann schien verunsichert. Falls die Geschichte stimmte, würde es sein Kapitän gar nicht gut finden, wenn er diesem Bengel die Ohren lang zog.

»Was ist hier los?« Eine tiefe, voluminöse Stimme brachte beide zum Schweigen. Der Mann, dem sie gehörte und der nun an Deck erschien, war ebenfalls gebaut wie ein Bär, Charlie stach sofort sein grauer Schnurrbart ins Auge. Die verzwirbelten Enden ragten auseinander wie zwei abstehende Dolche. Charlie hätte ihren Hexenstein darauf verwettet, dass das Kapitän Brage war.

»Dieser Bengel wünscht euch zu sprechen, mein Herr«, sagte der Grobschlächtige kleinlaut. Kapitän Brage sah von der Brücke aus zu Charlie hinab.

»Leif, du übernimmst das Kommando!«, befahl Brage einem weiteren Matrosen und marschierte mit großen Schritten die Brücke hinüber, die unter seinem Gewicht gewaltig schwankte.

Ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als würde sie einem Bergtroll gegenüberstehen, ließ Charlie einen Schritt zurücktreten.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte Kapitän Brage und musterte Charlie von oben bis unten. Sie hatte ihre Kapuze immer noch weit ins Gesicht gezogen, sah aber trotzig zu ihm auf.

»Biarn hat gesagt, dass ich Ihnen trauen kann«, sagte sie und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Es blitzte in Kapitän Brages Augen auf.

»Biarn, hm?« Dann nickte er kurz. »Wir treffen uns in einer halben Stunde an der großen Wichtelfichte am nördlichen Stadtrand«, flüsterte er ihr zu.

Dann fügte er laut hinzu:

»Danke für die Nachricht, mein Junge!«, und wandte sich zum Gehen. Charlie eilte zu Tora und Kunar zurück. Sie fühlte, wie die mürrischen Blicke des Grobschlächtigen sie verfolgten.


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