Leseprobe zu "Marit Rolfsdóttir-Zwei Fuß tief"

 

1. Im Schatten der Nacht

 

 

Er starrte entsetzt auf seine blutigen Hände. Zitternd suchte er nach Luft in seiner Lunge. Was hatte er getan? Tot. Für immer fort.

Die Schuld traf ihn wie ein Vorschlaghammer in die Brust.

Tot!

Sein Gesicht verzerrte sich, Tränen liefen, ohne dass er es bemerkte. Der Schmerz war überwältigend. Schluchzend brach er zusammen. Das durfte nicht sein! Das konnte nicht sein! Die Verzweiflung blockierte jeden vernünftigen Gedanken. Panik machte sich in ihm breit – Zentimeter für Zentimeter. Zitternd saß er auf dem alten Dielenfußboden und sah dem Blut zu, das sich seinen Weg in die Ritzen suchte. Warm und klebrig. Den metallischen Geschmack auf der Zunge würde er nie wieder loswerden…

 

 

 


 

Stunden später hatte er eine Entscheidung getroffen. Er brauchte Zeit. Genügend Zeit, um alles zu ordnen und zu fliehen.

Er stand mit einer Schaufel im Schatten der Nacht und blickte zum Fjord hinunter. Mondlicht tanzte auf den leichten Wellen. Ein schöner Platz, um sich auszuruhen. Er holte tief Luft, ließ die Tränen laufen und begann zu graben.


 

2. Nur Probleme

 

 

Die Wrackteile des kleinen Privatflugzeugs trieben um sie herum. Sie sah dem sinkenden Flugzeugrumpf zu und klammerte sich an ihrem Rettungsfloß fest, das im Grunde nur ein größeres Wrackteil war. Sie lag mit dem Oberkörper quer darüber, ihre Beine hingen im Wasser und kleine Wellen schwappten immer und immer wieder über ihr provisorisches Floß hinweg und gaben ihr keine Möglichkeit zu trocknen.

Die Minuten vergingen und Eiseskälte kroch in ihre Glieder. Sie lähmte zuerst ihre Hände und Füße und kroch dann erbarmungslos in ihr Innerstes. Die Minuten wurden zu Stunden, um sie herum gab es nur Wasser und Kälte, soweit das Auge reichte. Sie dämmerte dahin, mehr tot als lebendig. Der Wind wurde stärker, die Wellen höher.

Die Nacht brach herein.

Ihr kleines Floß kippte unter der Wucht der nächsten Welle, und sie glitt kraftlos ins Wasser.

Sie sank.

Um sie herum nur Wasser – schwarze, kalte Hände griffen nach ihr und zogen sie in die Tiefe.

Ihr Herz hörte auf zu schlagen.

Und plötzlich rauschten Teile ihres Lebens an ihr vorbei – wie die Lichtblitze eines Sonnenstrahls in einem dunklen Wald, der durch die vom Wind verwehten Äste schien.

Jedes Bild nur einen Bruchteil einer Sekunde.

Ein lachendes Frauengesicht.

Ein Mann, der ihr das Fahrradfahren beibrachte.

Eine Szene aus einem Urlaubsprospekt mit hohen Bergen und tiefblauem Himmel.

Und dann ein Park. Oder ein Waldstück.

Ein dunkler Wald. Ein Schild blitzte kurz auf. Was stand darauf?

Sie wurde in das Geschehen geschleudert, als würde sie es gerade erst erleben. Als wäre keine Tür zu einer Erinnerung geöffnet worden, sondern eine Tür direkt in die Vergangenheit.

Marit spürte die Unbehaglichkeit, als wäre sie tatsächlich dort. Sie schob ihr Fahrrad durch ein Waldstück. Es war bereits spät, und fahles Mondlicht leuchtete ihr nur schwach den Weg. Sie hatte verärgert und resigniert diesen Weg eingeschlagen. Eine Abkürzung. Ihr Fahrrad hatte einen Platten, und die Hauptstraße war unbeleuchtet und zu befahren, um sicher nach Hause zu kommen. Der Wald war zwar ebenfalls dunkel, doch sie kannte den Weg wie ihre eigene Westentasche, so oft war sie schon mit ihrem Hund hier spazieren gegangen. Doch auf einmal fühlte sich alles fremd an. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und sie sah sich alle paar Meter nach etwas um, das ihrem Blick entging. Oder war da gar nichts? Spielte ihr das Unterbewusstsein einen Streich?

Sie eilte weiter und wünschte, sie hätte ihr Glück doch mit den vielen Autos auf der Straße versucht. Doch der Weg war dann fast doppelt so lang. Und sie war schon halb durch den Wald hindurch. Umzudrehen würde keinen Sinn mehr machen.

Es knackte im Gebüsch und Marit schreckte zusammen. Wie festgefroren stand sie da, den Lenker des Fahrrads fest umklammert, und starrte in die Dunkelheit. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, alle Sinne waren geschärft, doch die pure Angst überlagerte ihre Instinkte.

Jemand lachte dreckig auf, und bevor sie ihre Beine dazu bewegen konnte, wegzulaufen, stürzten zwei vermummte Gestalten auf sie zu. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht stand sie wie gelähmt, anstatt etwas zu tun. Irgendetwas.

Sie wurde gepackt und zu Boden gerissen. Die Luft presste sich aus ihrer Lunge, als sie hart aufschlug, und der Schrei, der ihr in der Kehle steckte, verpuffte. Ihr Kopf schlug auf dem Boden auf und alles verschwamm. Dann traf sie ein Tritt in die Seite. Sie krümmte sich vor Schmerzen.

Jemand zwängte ihre Arme auf den Rücken und band ihr die Handgelenke zusammen.

»Los, hoch mit dir!«, knurrte einer der Männer. Sie wurde unsanft hochgezerrt und blickte in verschwommene Gesichter. Sie blinzelte, um den Nebel im Kopf zu lichten.

»Die ist süß«, gurrte ein anderer und griff nach ihrem Kinn. Marit versuchte, ihr Gesicht wegzudrehen, nur weg von diesem Kerl.

Er lachte überlegen. »Ich glaube, ich will dich …«

Eiseskälte durchlief ihren Körper.

»Lass das!«, zischte ein anderer. »Du kennst die Regeln!«

Der Lüsterne seufzte theatralisch. »Das werden wir ja sehen«, wisperte er mit einem Versprechen in der Stimme, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Wenn du dein Leben riskieren willst, bitte«, erwiderte der andere zynisch. »In deiner Haut möchte ich dann nicht stecken.«

Der Lüsterne schnaubte, doch er schien sich zu besinnen. Der andere zog etwas hervor, packte Marit und klebte ihr den Mund damit zu.

Hätte sie doch nur geschrien, als sie noch konnte. Das Herz sackte ihr in die Hose und sie begann, am ganzen Leib zu zittern.

»Los, die Haube, und dann nichts wie weg hier«, zischte er dem Lüsternen zu. Der grinste Marit gierig an, leckte sich ekelerregend über die Lippen und verzog den Mund zu einer Fratze. Er kam ihr viel zu nahe, sie konnte seinen tagealten Schweiß riechen, sein Atem stank nach Aschenbecher und verfaultem Fisch.

Ihr Herz raste, ihr Magen drehte sich um. Dann lachte der Mann und stülpte ihr in einer einzigen Bewegung einen Sack über den Kopf und verschnürte ihn etwas zu fest an ihrem Hals.

Das Gefühl, erwürgt zu werden, verstärkte sich, als einer der beiden ruckartig am Seil zog, das die Haube um ihren Hals am Platz hielt.

»Mitkommen«, befahl der Lüsterne mit einem sadistischen Unterton.

Sie stolperte vorwärts. Ihre Beine gehorchten ihr kaum. Die Angst lähmte ihre Glieder. Sie keuchte und würgte, weil das Seil ihr in die Kehle drückte, doch sie brachte keinen Ton heraus. Jemand packte sie am Arm und gab ihrem zitternden Körper Halt. Mit seiner Hilfe hielt sie sich aufrecht. Einen Fuß vor den anderen, sie konnte das, sonst würde das Seil sie erwürgen …

 

Marit erwachte und fasste sich an den Hals. Doch da war nichts.

Nur ein Traum.

Wieder der Traum.

Doch dieses Mal eine andere Szene.

Marit setzte sich im Bett auf und rieb sich über das Gesicht. Was zum Teufel sollten diese Träume? Waren es Visionen? Eine Vorahnung auf etwas, das kommen würde? Ihre Zukunft?

Oder waren die Träume nur Träume? Gespinste ihres Gehirns ohne tiefere Bedeutung?

Ihr Blick fiel auf die Uhr. 6:00 Uhr morgens.

Sie schnaubte. Vermutlich wollten die Träume sie nur in aller Frühe aus dem Bett scheuchen, damit sie nicht verweichlichte. Sie war gekündigt, also konnte sie im Grunde ausschlafen. Jeden Tag. Doch stattdessen trieb es sie zu diesen teuflischen Zeiten aus dem Bett. Und Marit nutzte die Zeit, um laufen zu gehen. Einerseits, um fit zu bleiben, doch hauptsächlich, um sich das Adrenalin der Albträume aus dem Körper zu rennen. Und, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Oder zu behalten.

Ihr Leben war zurzeit die reinste Katastrophe. Ihr langjähriger Freund hatte sie gegen eine Jüngere ausgetauscht und verbot ihr den Umgang mit seinen Kindern.

Ihr Partner bei der Polizei war im Dienst getötet worden. Niklas. Ihr Partner und ihr bester Freund.

Und Marit war zuerst suspendiert und dann entlassen worden, weil sie seinen Mörder vor laufender Kamera halb totgeprügelt hatte. Eine Klage wegen schwerer Körperverletzung wartete auf Marit.

Und noch dazu war sie zurzeit obdachlos.

Nun ja, nicht ganz.

Sie mietete eine der Touristenhütten am Ortsrand, die pro Nacht 400 Kronen kosteten, und die dabei war, ihre letzten Ersparnisse aufzufressen. Sie musste dringend zu Geld kommen. Und zu einer erschwinglichen Wohnung. Besser noch zu einem kleinen Häuschen. Und sie musste ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Struktur hineinbringen.

Wozu?, fragte die Stimme in ihrem Kopf aufmüpfig. Dir gefällt es doch, vogelfrei zu sein!

Ach ja. Die Stimme. Nicht, dass Marit nicht bereits genug Probleme am Hals hatte, da gesellte sich noch eine Schizophrenie dazu.

Oder so etwas in der Art.

Seit ihrem neunten Lebensjahr hörte Marit die Stimme. Seit sie als einzige eine verheerende Explosion in einem Chemiewerk überlebt hatte. Sie verlor dort ihre Eltern und ihr Gedächtnis. Und gewann eine Stimme in ihrem Kopf dazu, die sich äußerst zynisch und zum Teil bösartig in ihr Leben einmischte.

Doch die Stimme bescherte ihr nicht nur Probleme, sie konnte auch hilfreich sein. Ihr verkorkstes Unterbewusstsein – denn dafür hielt Marit die Stimme – traf oft den Nagel auf den Kopf und warnte Marit vor Gefahren. Es war nur nicht immer ganz einfach zu verstehen, wann sie dieser inneren Stimme vertrauen konnte. Meist ignorierte sie diese, denn damit fuhr sie im Alltag am besten.

Genau wie heute. Marit schüttelte sowohl den Traum als auch die Stimme ab, schwang die Beine aus dem Bett und setzte Kaffee auf. Die Kaffeemaschine und ein kleiner Kühlschrank machten die ganze Küche in der 15 m² Touristenhütte aus. Während der Kaffee durchlief, band Marit ihre braunen, leicht gewellten Haare zu einem Pferdeschwanz hoch und schlüpfte in ihre Joggingsachen.

Laufen und Frühstück bei Margaretha. Sie sah auf die Uhr. Es blieb ihr genügend Zeit bis zu ihrem Termin in Göteborg. Auch wenn die Fahrt dorthin fast zweieinhalb Stunden dauerte.

Ein Blick zum Bett. Wie gern hätte sie einfach einmal wieder ausgeschlafen. Sie seufzte und kippte ihren morgendlichen Kaffee hinunter.

 

Marit lief ihre übliche Runde in der kühlen Oktoberluft. Strömsnäsbruk lag am Fluss Lagan und erstreckte sich dahinter noch ein Stück weit einen Hügel hinauf. Genau dort schnaufte Marit gerade hinauf und fluchte innerlich. Ihre übliche ausgezeichnete Kondition hatte in den letzten Wochen extrem gelitten. Im Grunde hatte sie sich mit Alkohol und Tabletten regelrecht vergiftet. Ihre Reaktion auf Niklas´ Tod. Doch seit ein paar Tagen – seit sie den Mordfall Mårtensson aufgeklärt hatte –, war sie clean und kämpfte nun darum, ihre Form zurückzugewinnen.

Das geschieht dir ganz recht, lachte die Stimme dreckig. So ein bisschen leiden hat noch keinem geschadet.

Marit biss die Zähne zusammen und lief weiter den Hügel hinauf und am Wasserturm vorbei, wo Mårtenssons Leiche gefunden worden war. Marit zwang die Trauer hinunter, die beim Anblick des seltsamen, weißen Gebäudes in ihr hochstieg. Wegen dieses Falles hatte Marit alles verloren, was ihr Halt im Leben gab. Niklas, Rogers Kinder und ihren Job.

Sie ballte die Fäuste, atmete tief durch und bog kurz hinter dem Wasserturm links in einen Waldweg ein. Nur etwa 200 Meter weiter lag rechts das Haus von Margaretha. Weshalb Marit wusste, dass sie zu solch unselig früher Stunde stören durfte? Die Antwort öffnete ihr gerade die Tür.

»Marit, schon wieder«, krächzte die rüstige Neunzigjährige und verschwand gleich wieder im Haus. Sie ließ Marit einfach in der Tür stehen. Jeder andere wäre wahrscheinlich eingeschüchtert wieder gegangen, doch Marit grinste, schloss die Tür hinter sich und folgte der Alten in die Küche. Dort holte sie sich selbst ein Gedeck aus dem Schrank und platzierte es zu Margarethas Frühstück auf den Tisch.

»Kaffee? Ach, wozu frage ich überhaupt«, antwortete diese sich selbst und goss beiden die Tasse bis zum Rand voll.

Obwohl Margaretha mürrisch tat, sah Marit das freudige Lächeln in den wachen Augen. Margaretha liebte jede Art von Unterbrechung ihres Alltages. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf. Nicht freiwillig, wie sie oft und gern versicherte. Egal, wann sie zu Bett ging, ihre innere Uhr weckte sie immer zur selben Zeit.

»Das ist wie verhext«, knurrte Margaretha wie aufs Stichwort. »Um fünf. Jeden Morgen! Was soll ich mit so viel Zeit am Tag anfangen? Ich bin keine zwanzig mehr, wo man nie genug Zeit haben kann! Was Neues vom kleinen Feigling?«, fragte sie dann ohne Übergang.

Marit verzog das Gesicht und griff nach einer Scheibe Brot. »Nichts. Immer noch wie vom Erdboden verschluckt«, knurrte Marit.

»Du willst nicht darüber reden?«, fragte Margaretha spitz.

»Woran hast du das bemerkt?«, fragte Marit mürrisch zurück.

Margaretha grinste. Dann tätschelte sie Marits Hand. »Keine Angst, der taucht schon wieder auf. Birgitta hatte den viel zu sehr unter der Fuchtel, als dass der sich traut, ganz von hier zu verschwinden. Dieser Feigling«, fügte sie schnaubend hinzu.

»Hmpf«, machte Marit nur. Der kleine Feigling war Roger, ihr Ex, der mit seiner neuen Flamme Viebeke und den Kindern Sara und Lukas vor lauter Angst vor Marit ganz bis in die Karibik geflohen war. Ob Roger je zurückkam, war ihr vollkommen egal. Er durfte auch gerne mit einem Einwegticket zur Hölle fahren. Um die Kinder ging es ihr. Seine Kinder. Trotzdem waren sie irgendwie auch ihre Kinder.

Sara war sieben und Lukas fünfzehn Jahre alt. Fünf Jahre lang war Marit ihre Mutter gewesen. Die einzige Mutter, denn Rogers erste Frau war verstorben. Sara war gerade einmal zwei gewesen, als Marit bei Roger einzog. Für sie war Marit die einzige Mutter, die sie je gekannt hatte. Und nun verbot Roger ihr den Umgang mit den beiden. Darunter litt vor allem Sara, die den schnellen Wechsel einfach nicht verstand. Und auch nicht verstehen wollte. Hinter dem strikten Umgangsverbot steckte im Grunde Birgitta, Rogers Mutter, die Marit bereits vorher das Leben schwer gemacht hatte. Die junge Viebeke war nur Spielball ihrer herrschsüchtigen Art, und offenbar hatte sie nichts dagegen. Noch. Marit schnaubte innerlich. Strohdumm hatte Lukas sie genannt. Balsam für Marits geschundene Seele, doch das würde sie im Beisein der Kinder niemals zugeben. Obwohl die Stimme da anderer Meinung war.

»Und was ist mit dem Haus?«, stocherte Margaretha gleich in der nächsten wunden Stelle herum. »Ich will keine nervigen Nachbarn! Neben Gunilla und Paul sind welche aus Malmö eingezogen, nur Ärger, sag ich dir!«

»Du weißt doch, dass mir das Geld fehlt«, knurrte Marit und überlegte ernsthaft, ob sie das nächste Mal auf ihrer Runde schnurgerade bei Margaretha vorbeilaufen sollte.

Margaretha biss herzhaft in ihre Stulle und beobachtete Marit berechnend. »Mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?«, fragte sie doch ernsthaft.

»Ich?« Marit hielt im Kauen inne und starrte die Alte an. »Schau mal in den Spiegel!«, meinte sie dann aufgebracht.

Es zuckte um Margarethas Mundwinkel. »Sei nicht so frech, sonst überlege ich es mir nochmal, dir mein Erspartes zu leihen.«

Wieder starrte Marit die Alte an. Dieses Mal sprachlos. »Was redest du da?«, brachte sie schließlich hervor. »Was für ein Erspartes und: Leihen? Mir? Weshalb?«

»Hast du nicht zugehört?«, tadelte Margaretha. »Ich will keine nervigen Nachbarn! Wasch dir mal die Ohren, Kleines!«

Marit blinzelte. War sie hier im falschen Film? Margaretha genoss ihre Verwirrung sichtlich. Sie schmunzelte vor sich hin und ließ Marit nicht aus den Augen.

»Ich habe 200.000 Kronen«, platzte sie endlich heraus. »Das reicht für eine Anzahlung. Ich habe schon mit Karl gesprochen. Er wäre einverstanden. Er schuldet mir noch was und wäre bereit, mit der Zahlung der restlichen Summe ein Jahr zu warten!«

Marit klappte die Kinnlade hinunter. »Was?«, wisperte sie völlig überfordert.

»Sei nicht so begriffsstutzig«, schnaubte Margaretha. »Ich leihe dir die Anzahlung – ein zinsloses Darlehen – und du hast ein Jahr Zeit, den Rest aufzutreiben. Bis dahin wirst du ja wohl Arbeit haben, sodass die Bank dir Geld leiht. Und ich bürge so lange für dich.«

»Du bürgst …« Marit fehlten immer noch die Worte. Sie blinzelte erneut und schüttelte die Verworrenheit ab, die sie umsponnen hatte.

»Du willst mir Geld leihen?«, fragte sie ungläubig.

Margaretha verdrehte die Augen. »Und sowas will Polizistin sein. Wenn diese Begriffsstutzigkeit üblich ist, wundert mich gar nichts mehr.«

Eine Pfundsfrau, sagte die Stimme anerkennend. Wenn die ein paar Jahre jünger wäre …

Marit schob die Stimme vehement beiseite. Eine Stimme, die übrigens männlich war. Eine bizarre Tatsache, die Marit schleierhaft war. Ihre unterdrückte männliche Seite? Hätte sie eigentlich ein Mann werden sollen? Hatte ihr leiblicher Vater, an den sie sich genauso wenig erinnern konnte, wie an alles andere vor dem Unfall, sie wie ein Junge behandelt? Oder lieber einen Jungen gehabt?

Sei nicht albern, tadelte die Stimme. Konzentriere dich. Die Alte will dir eine Stange Geld geben, greif zu!

Das war das Stichwort. Marit schluckte. »Das ist so lieb von dir, Margaretha«, brachte sie endlich hervor. »Aber das kann ich nicht annehmen.« Und genau so war es auch. Wie konnte sie auch nur in Erwägung ziehen, das Geld zu nehmen? Margaretha war nicht mehr die Jüngste. Und sie hatte keine lebenden Verwandten. Sobald sie nicht mehr alleine leben konnte, würde sie jede Krone brauchen, um sich in einem Heim ein schönes Leben zu machen und nicht nur ein durchschnittlich abhängiges Dasein. Oder sie könnte jemanden bezahlen, der sie in ihrem geliebten Haus betreute. Niemals würde Marit ihr die Möglichkeit nehmen, in Würde ihren restlichen Lebensweg zu gehen.

Margaretha hob die Augenbrauen. »Ich bin nicht lieb, ich bin egoistisch«, erklärte sie selbstsicher. »Ich will, dass du meine Nachbarin wirst, damit du auf mich aufpassen kannst. Es ist ein Deal. Du bekommst ein Haus und ich jemanden, der später mit Argusaugen darüber wacht, dass mich zukünftiges Pflegepersonal wie eine Königin behandelt. Ich habe eine gute Rente. An Geld mangelt es mir nicht. Aber ich habe niemanden, der sich für mich stark macht, wenn ich es einmal nicht mehr kann.« Sie machte eine Kunstpause. »Und ich will dich dafür, Marit. Du bist nicht auf den Kopf gefallen, bist ehrlich und bekommst im Allgemeinen, was du willst. Du wirst das Pflegepersonal und alle Behörden in den Wahnsinn treiben.«

Das schafft sie auch ganz allein, feixte die Stimme.

Marit blinzelte ein drittes Mal. »Du willst, dass ich für deine Rechte sorge und dafür willst du mich bezahlen?«, fasste sie treffend zusammen.

»Na endlich hat sie‘s!«, rief Margaretha aus.

»Ich würde niemals Geld dafür verlangen, dir zu helfen!«, empörte sich Marit. »Du hast mein Wort, dass ich eventuelles Personal zurechtstutzte, auch ohne Geld!« Für den Fall, dass du jemals jemanden brauchen wirst, dachte sie für sich. Margarethas Verstand war schärfer als der der meisten im Ort. Wer auch immer Margaretha pflegen würde, tat ihr jetzt schon leid.

»Aber du bist dann vielleicht nicht in der Nähe«, stellte Margaretha nüchtern fest. »Ich will, dass jeder weiß, dass du jederzeit vorbeischauen und nach dem Rechten sehen kannst.«

»Du willst tatsächlich in deinem Haus alt werden?«, fragte Marit und sah sich um. Ja, sie verstand Margaretha. Es war schön hier – ruhig, Natur pur, und doch ortsnah.

»Alt werden?«, schnaubte Margaretha. »Hast du was an den Augen? Ich bin schon alt. Ich will hier sterben, wenn es so weit ist.«

Marit unterdrückte ein Augenrollen. Genau das hatte sie gemeint, hatte es aber nur nicht so direkt ausdrücken wollen.

Marit kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Aber dann brauchst du das Geld, um jemanden zu bezahlen. Sowas ist teuer … Zumindest, wenn man nicht nur den üblichen Pflegedienst haben will, der einmal am Tag nach dem Rechten schaut.«

»Wie gesagt, ich habe eine sehr gute Rente. Von sowas kann die heutige Generation nur träumen. Und wenn du mal alt bist, gibt‘s wahrscheinlich gar nichts mehr.«

Dazu sagte Marit nichts. Jedes Wort wäre überflüssig. Rente? Viel würde dabei sicher nicht rüberkommen. Und nun war sie auch noch gekündigt und würde niemals wieder als Polizistin arbeiten können.

»Also?« Margaretha schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass Marit zusammenzuckte. »Was ist nun? Du hast dich doch in das Haus verliebt, das weiß ich genau!«

 

Das Haus.

Lugnet.

Es bedeutete Ruhe.

Oh ja, sie hatte sich in den kleinen Hof verliebt, der nicht weit von Margarethas Häuschen völlig alleine mitten im Wald lag.

Marit stand an der Grundstücksgrenze und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen des Tages über den verwilderten Garten und das idyllische Häuschen fielen.

Märchenhaft. Das hatte sie schon öfter gedacht.

Konnte sie Margarethas Angebot annehmen? Sie verstand den Standpunkt der alten Frau. Je näher jemand Vertrautes lebte, desto sicherer wurde für einen gesorgt.

Marit hatte sich, nach einem ausgiebigen Frühstück und noch einigem Hin und Her und stichhaltigen Argumenten von Margaretha, mit den Worten verabschiedet, dass sie darüber nachdenken würde.

»Aber nicht zu lange«, hatte Margaretha mit blitzenden Augen gesagt. »Ich werde nicht gerade jünger!«

Marits Blick fiel auf den weißen Stein, der in der Hofeinfahrt lag.

Lugnet war darauf eingemeißelt. Eine kurze, mit Kies befüllte Auffahrt führte direkt zu einem typisch schwedischen Haus – rot, mit weißen Ecken und Fensterumrahmungen. Um das Haus herum lag der Garten mit einer kleinen Wiese und vielen verschiedenen Obstbäumen und Sträuchern. Marit sah bereits einen kleinen Gemüsegarten vor ihrem geistigen Auge. Sie schüttelte sich und seufzte. Sie sollte sich nur keine Hoffnungen machen, die Enttäuschung wäre dann umso größer. 600.000 Kronen wollte Karl Torstensson für das Haus haben. Bei 200.000 von Margaretha müsste sie immerhin noch innerhalb eines Jahres 400.000 Kronen auftreiben, denn ohne eine sehr gut bezahlte Festanstellung gaben die Banken keinen Kredit. Und mit einer Anstellung sah es für Marit mit ihrer Klage im Nacken schlecht aus. Geschweige denn mit einer festen Stelle. Auch wenn Karl bereit war, ein Jahr lang auf sein Geld zu warten, würde Marit das Problem nur hinausschieben. Und letztendlich würde Margaretha darunter leiden und bezahlen müssen, denn genau das beinhaltete eine Bürgschaft.

Marit seufzte erneut und wandte sich bewusst ab, um ihren Weg nach Hause fortzusetzen.

Zuhause. Was für ein Hohn.

Nach dem ausgiebigen Frühstück bei Margaretha ging sie zurück in den Ort, anstatt zu laufen und sich Seitenstechen zu holen. Sie konnte sich den kleinen Umweg nicht verkneifen, der sie an Rogers Haus vorbeiführte. Ihrem ehemaligen Zuhause.

Es war niemand zu sehen. Sie klopfte bei Siv, der Nachbarin gegenüber. Eine zierliche Frau in Marits Alter mit kurzem Haar und Brille öffnete die Tür. Sie lächelte, als sie Marit sah. »Na? Wieder sportlich unterwegs?«, fragte sie mit einem Blick auf Marits Joggingsachen.

»Nur halbwegs«, gab Marit zu. »Ich war bei Margaretha frühstücken.«

»Das ist wirklich lieb von dir, dich um Margaretha zu kümmern«, sagte Siv anerkennend. Dann verdüsterte sich ihre Miene. »Roger ist echt ein Idiot, der weiß gar nicht, was er an dir hatte. Willst du reinkommen?«, fragte sie dann, als ihr bewusst wurde, dass sie Marit den Weg ins Haus blockierte.

Marit warf einen Blick auf die Uhr. Wo war die Zeit hingerannt? »Geht leider nicht, ich habe einen Termin.«

»Oh! Ein neuer Job? Ein Vorstellungsgespräch? Du findest bestimmt schnell was Neues, das sagt Pål auch. So wie du kämpfen kannst, könntest du Bodyguard werden, oder Wachmann, sagt er oder Wachfrau? Oder wie heißt das bei Frauen?«

Marit unterdrückte ein Augenrollen. Siv war nett, aber etwas naiv und simpel gestrickt. Doch sowohl sie als auch ihr Mann hielten nach der Trennung von Roger zu Marit. Und sie konnte ein paar nette Freunde gut gebrauchen. Marit ließ Siv im Glauben, es handele sich um einen neuen Job und nickte einfach nur. »Ich wollte nur mal horchen, ob du was von drüben gehört hast«, fragte Marit und nickte zur anderen Straßenseite hinüber. Siv folgte ihrem Blick.

»Leider nicht. Aber ich sagte dir ja schon, dass er länger wegbleiben wollte.« Siv verdrehte die Augen. »Birgitta scharwenzelt da herum, als gehöre ihr das Haus. Sie ist jeden Tag da und werkelt im Garten. Sie hat bald alles, das du gepflanzt hast, rausgerupft und Neues gepflanzt.«

Marit unterdrückte die Wut, die bei Birgittas Erwähnung jedes Mal in ihr hochkochte. »Verstehe«, sagte sie nur durch zusammengepresste Zähne.

Siv nickte. »Ich melde mich, wenn ich was höre«, versprach sie erneut. »Pål sagt, der ist zu feige, um ganz zu verschwinden. Der taucht bald wieder auf, der kann ohne seine Mutter nicht leben.«

In dieser Hinsicht waren sich offenbar alle einig. Roger war ein Feigling.

Marit grinste und verabschiedete sich. »Bis dann, Siv. Und danke!«

»Aber gern«, winkte Siv ab. Sie stand noch in der Tür, als Marit an Rogers Haus vorbeiging und Birgitta aus dem Gebüsch schoss, wie ein Hund, der auf den Postboten wartete.

»Was willst du hier?«, keifte sie. »Roger hat dir verboten, in die Nähe der Kinder zu kommen!«

Marit kniff die Augen zusammen und musterte Birgitta von oben herab. Ihre hagere Gestalt trog. Die Frau war mit ihren 63 Jahren zäh wie sehniges Fleisch. Ihre Gesichtszüge verrieten ihren Charakter – Zornesfalten und mürrisch herabgezogene Mundwinkel. Marit trat einen Schritt auf sie zu und fixierte ihre boshaft funkelnden Augen.

»Erstens darf ich entlanggehen, wo ich will. Das hier ist ein freies Land«, sagte sie ruhig. »Und zweitens geht es dich gar nichts an, was ich hier mache.« Und damit wandte sie sich ab und ging weiter, ohne der Schrabnelle noch eines einzigen Blickes zu würdigen.

»Lass dich hier ja nicht wieder blicken«, keifte Birgitta ihr hinterher. »Ich ruf die Polizei!«

Hexe, spuckte die Stimme in Marits Kopf.

»Halt die Luft an, Birgitta!«, rief Siv ungehalten. »Marit darf mich besuchen, so oft sie will! Und dazu muss sie hier vorbeigehen! Ruf doch die Bullen, du wirst schon sehen, was du davon hast!«

Marit warf Siv einen Blick zu und mimte das Wort Danke. Siv grinste breit. Gar nicht so übel und recht mutig von Siv, das musste Marit zugeben. Obwohl sie davon ausging, dass die liebe Siv nur wieder etwas wiederholte, das Pål gesagt hatte. Zumindest konnte einer der beiden denken.

Pål hatte im Übrigen recht, überlegte Marit, als sie zur Hütte zurückkehrte, sich ein Handtuch schnappte und zu den Gemeinschaftsduschen schlenderte. Sie würde wahrscheinlich tatsächlich einen Job als Türsteher oder so etwas Ähnliches bekommen. Halb Schweden hatte sie in diesem auf YouTube veröffentlichten Video wie eine Furie kämpfen sehen. Sie hatte vier Männer im Handumdrehen zerlegt. Sie hatte nur nicht die geringste Ahnung, wie sie es gemacht hatte. Sie hatte niemals derart kämpfen gelernt. Und diese unnatürliche Schnelligkeit …

Sie seufzte. War das ihre Zukunft? Türsteher? Zumindest könnte sie sich damit etwas dazu verdienen, bis ihr eigentlicher Plan Früchte trug. Marit hatte die Hoffnung, als Privatdetektivin Fuß zu fassen. Sie war Polizistin – Recherchearbeit hatte sie gelernt, und ein gutes Gespür für Menschen besaß sie auch. Sie wäre zumindest ihr eigener Boss, auch wenn Detektivarbeit meist bedeutete, hinter mutmaßlichen Ehebrechern herzuschnüffeln.

Es war ein Plan. Zumindest für den Fall, dass sie nicht im Gefängnis landete. Die Anklage der Staatsanwaltschaft lautete auf schwere Körperverletzung. Falls das Opfer starb, würde es schwere Körperverletzung mit Todesfolge sein.

Opfer.

Das Opfer, das ihren Freund und Partner auf dem Gewissen hatte. Würde der Mann sterben und die Staatsanwaltschaft kam mit der vollen Anklage durch, dann warteten auf Marit mindestens drei Jahre Gefängnis. Wie sollte sie dann bitte ein Haus abbezahlen?

Marit schnaubte und versuchte, das unbehagliche Gefühl von Haltlosigkeit abzuschütteln. Es gelang ihr nur mäßig. Ihr Leben hing im Moment einfach zu sehr in der Luft – ohne Fangnetz und doppelten Boden.

 

 

Ende der Leseprobe