Leseprobe überarbeitete Fassung

Die Erben der alten Zeit - Der Thul

1. Asgârd

 

Eine finster drein blickende Gestalt stürmte durch die dunklen Gänge der Festung, die sich auf einer kleinen Felseninsel vor Vanaheims und Godheims Nordküsten erhob. Ein dunkelblauer Mantel flatterte bedrohlich um die Beine des Mannes. Seine kleinen, blauen Augen funkelten vor unterdrückter Wut und vor noch etwas viel Schlimmerem: Hass. Hass, der zu jeglicher Grausamkeit fähig war.

Wie war es nur möglich? Diese verzogene, kleine Hexe! Er würde ihr schon noch zeigen, wo es lang ging!

Voller Zorn fuhr sich Od durch sein Haar.

Aber wie? Wie sollte er es anstellen? Welche Kraft umgab diese kleine, rothaarige Hexe? Sie besaß keine magischen Fähigkeiten, das war ihm aus sicherer Quelle bestätigt worden …

Er verzog sein bärtiges Gesicht zu einer qualvollen Grimasse. Die Scham fraß ihn förmlich von innen heraus auf.

Niemand durfte es je erfahren! Solch eine Schwäche …

Wie hatte ihm das nur passieren können? Er hatte es bisher erfolgreich geheim gehalten. Es war schlau von ihm gewesen, so zu tun, als liefe alles zu seiner Zufriedenheit, als hätte er die Hexe fest im Griff. Aber die Gefahr, durchschaut zu werden, wuchs. Vielleicht sollte er vortäuschen, das Interesse an seinem Spielzeug verloren zu haben? Dann bräuchte er sich nicht mehr so oft in ihrer Nähe aufhalten … am liebsten hätte er ihr den Hals umgedreht! Od biss hart die Zähne zusammen, als eine weitere Welle von Hass sein Inneres durchströmte. Er steckte in der Klemme. Oden hatte Gefallen an der kleinen Hexe gefunden, und das auch noch aufgrund von Ods eigener Dummheit! Er konnte sie nicht so einfach beseitigen … Er hatte sie angepriesen, sie Oden sozusagen serviert, und alles nur, um in seiner Gunst zu steigen.

Wie konnte er nun zugeben, dass er einen Fehler gemacht hatte? Wie konnte er nun zugeben, dass mit diesem Mädchen etwas nicht stimmte?

Oden würde ihn auf der Stelle zermalmen und wie einen alten, unbrauchbaren Putzlappen entsorgen. Vorher würde er ihn aber grausam bestrafen.

Schonungslos und vermutlich zu Recht …

Pure Angst floss plötzlich durch Ods Adern. Die dunklen, steinernen Gänge von Asgârd schienen immer enger zu werden. Gleich würden sie ihn zerquetschen! Die Wände kamen ständig näher! Od rang nach Luft und fummelte panisch an seinem Umhang herum, um den Druck auf seiner Brust zu lindern.

Angsterfüllt eilte er den nie enden wollenden Gang hinauf, der sich nun steil, dunkel und schmal emporwand. Fackeln warfen flackernde Schatten an die Wände. Gleich würde er da sein.

Nur noch diesen Turm hinauf, dann würde er wieder atmen können.

Seine Gedanken kehrten zu seinem Problem zurück.

Wie kam es nur, dass dieses Mädchen solch unbeschreibliches Unbehagen in ihm hervorrief?

Es war, als wäre sie verflucht. Er konnte sie nicht berühren, er hielt es nicht einmal in ihrer Nähe aus! Allein ihre Anwesenheit löste Ekel und Abscheu in ihm aus. Aber da war noch etwas. Etwas viel Schlimmeres. Ihre Nähe fügte ihm seelische Schmerzen zu! Entsetzliche Qualen, die ihn all sein Selbstvertrauen verlieren ließen. Er wurde zu einem Nichts!

Er hatte sie nie wieder berührt, nach dieser allerersten Nacht in seinem Schlafgemach. Er war voller Vorfreude gewesen, wollüstig und erregt. Er war sich so sicher gewesen, dass es so wie immer laufen würde. Vielleicht noch besser, denn dieses Mädchen hatte Feuer. Sie war nicht zurückhaltend und unterwürfig wie die anderen. Er würde sie zähmen müssen, diese entzückende, wilde Hippolektrionstute mit den hübschen, blauen Augen, den unübersehbaren fraulichen Rundungen und den rotblonden Haaren. Aber dann war alles ganz anders gekommen. Sie hatte in seinem Zimmer gestanden, mit zerrissener Bluse und mit diesem trotzigen, extrem abweisenden Gesichtsausdruck. Das hatte seine Lüsternheit fast zur Ekstase getrieben. Doch kaum hatte er sie gepackt und zu sich herangezogen, hatte ihn ein Blitzschlag getroffen!

Entsetzliche seelische Qualen, Angst, die bis in sein Innerstes kroch und ihn fast zerrissen hätte, zwangen ihn, sie loszulassen.

Völlig überrumpelt zog er sich zurück und beobachtete sie aus dem hintersten Winkel seines Schlafgemachs. Sie stand nur da, mit einem leicht verwunderten, spöttischen Gesichtsausdruck und wartete regungslos ab. Nach einer Weile ging sie zur Tür und entfernte sich unaufgefordert mit einem letzten Blick auf ihn.

Mit ihr verschwanden auch die Qualen wie von Geisterhand. Unbändige Wut ergriff ihn. Er würde es ihr schon zeigen, hatte er sich geschworen. Kaum zur Tür hinaus, krachte er fast mit Oden zusammen, der belustigt hinter dem Mädchen hersah.

»Na, dieses Ding muss dir ja ordentlich gefallen haben, wenn du sie dir gleich noch einmal vornehmen willst!«, hatte Oden mit zynischem Ton von sich gegeben. Od hatte sich kerzengerade aufgerichtet, die Brust vorgestreckt und mit vollster Überzeugung gelogen: Sie wäre das Beste, das ihm je untergekommen wäre, heißblütig und wild.

Od hätte vor Oden niemals seine gerade erlittene Schmach zugeben können. Nun wünschte er fast, er hätte es getan. Wünschte, er hätte sie doch als die Hexe dargestellt, die sie war, denn dann hätte er sie sofort beseitigen können. Aber nun war es zu spät. Er hatte sich in den letzten Wochen viel zu sehr in sein eigenes Netz versponnen, es gab kein Zurück.

Nein, er durfte nichts riskieren. Es war das Beste, weiterhin alles zu verschweigen.

Er würde so tun, als hätte er das Interesse an dem Mädchen verloren. Zumindest vorübergehend. Er hatte schon immer wechselnde, junge Dinger auf sein Zimmer geholt. Deshalb besaß er ja schließlich das Haus Vingolf – seinen Harem. Oden würde wohl kaum Verdacht schöpfen, wenn Od tat, was er immer getan hatte.

Ja, so würde er es machen.

Der Druck auf Ods Brust ließ ein wenig nach, er atmete tief durch. Inzwischen hatte er sein Ziel fast erreicht. Der lange, Gang öffnete sich und ging in eine kleine Vorhalle über. Od hielt kurz inne, um tief Luft zu holen und seine Sinne zu besänftigen. Nur wenige Meter entfernt befand sich die verschlossene, hohe Holztür, die zu Odens Gemächern führte.

Die Vorhalle wurde von allen – ob Dienerschaft oder Besucher – für eine Verschnaufpause genutzt. Zum einen aufgrund des steilen Wendelganges und zum anderen – und das war wohl der eigentliche Grund – um sich auf die Begegnung mit Oden vorzubereiten. Doch sich Mut zuzusprechen fiel den meisten Besuchern angesichts der makabren Gestaltung der rußverschmierten, steinernen Wände nicht leicht. Fein säuberlich aufgereiht hingen dort nämlich etwa zwei Dutzend Exemplare von Odens herausragender Phönixsteinsammlung. In verschiedene Größen und Formen gegossen, schlossen die Phönixsteine, die unterschiedlichsten Kreaturen ein. Aus dem roten Gestein blickten den Besuchern im Tode erstarrte Käfer, Spinnen und Vögel entgegen. Aber auch menschlichere Wesen hingen dort zur Schau ausgestellt. Ein libellenartiges, kleines Mädchen, nur wenige Zentimeter groß, ein nixenähnlicher, in bunten Farben schillernder Meeresbewohner mit langen lila Haaren und ein kleines, kartoffelähnliches Wesen mit spitz zulaufenden Ohren, großer Knubbelnase und viel zu kurzen Beinen – ein Schwarzelf. Die Atmosphäre in der Vorhalle war von Tod und Schrecken geprägt, eine bewusste Einschüchterungsmaßnahme des Hausherrn.

Sich für eine Begegnung mit Oden zu wappnen war für Od heute nicht nötig, denn Oden war fort und das schon seit geraumer Zeit. Od war lediglich in den Turm herauf gekommen, um Hugin und Munin Bericht zu erstatten.

Eine Formsache nur. Kein Grund zur Besorgnis.

Od atmete noch einmal tief durch und schob seine beunruhigenden Gedanken weit fort. Dann ging er mit üblich hartem Gesichtsausdruck auf die Tür zu, klopfte einmal kurz an und zog sie entschlossen auf

Der Raum lag im Halbdunkel. Die wenigen Fackeln an den rußverschmierten, einst schneeweißen Steinwänden, warfen flackernde Schatten über reichverzierte Schränke und Kommoden. Ein mit Ornamenten versehenes Bücherregal lehnte neben der Tür. In Leder gebundene Bücher mit fremdartigen Schriftzeichen reihten sich, ordentlich nebeneinander sortiert, in den staubfreien Regalfächern und erweckten, genauso wie der Rest des Raumes, den Eindruck von pedantischer Ordnung und Genauigkeit.

Am entgegengesetzten Ende war ein prunkvoll geschnitzter Thron zu erkennen. Sein elfenbeinfarbenes, poliertes Material schimmerte matt im Schein der Fackeln. Links und rechts des majestätischen Sitzes ragten pechschwarze Stangen empor, die auf Kopfhöhe in Podeste übergingen. Darauf saßen zwei ebenfalls pechschwarze Raben, die den Besucher regungslos anstarrten

Od trat auf den leeren Elfenbeinthron zu und deutete eine kurze Verbeugung an.

»Ich bringe die gewünschte Nachricht«, sagte er hart. Ansatzlos flog einer der Raben auf Od zu und verwandelte sich direkt vor seinen Augen in einen bärtigen, dunkelhaarigen Mann mit schwarzen Koteletten und kräftigem Körperbau. Seine blauen, kalten Augen sahen Od abschätzend an, dann wandte er sich ihm ab und schritt zu einem kleinen Ausschank hinüber.

Verwesungsgeruch stieg in Ods Nase. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Er würde sich nie an diese unheimlichen Kreaturen gewöhnen, die solch beklemmende Gefühle auslösten. Wie eine Warnung vor etwas unbegreiflich Bösem stellten sich Ods Nackenhaare auf, während er beobachtete, wie sich Hugin eine milchige Flüssigkeit aus einem Fass in einen Kelch goss.

Der Rabenzwilling fragte mit dem Rücken zu Od gewandt:

»Nun, was hast du uns zu berichten?«

Seine Stimme war tief und hatte einen bedrohlichen Unterton. Od war das gewohnt. Unbeeindruckt fuhr er fort, denn er überbrachte, wie fast jedes Mal, gute Nachrichten. Die von Oden beherrschten Länder Godheim und Vanaheim wurden von seinen Bärsärkern unter tyrannischer Kontrolle gehalten, es gab selten Schwierigkeiten. Das letzte Problem war vor einigen Wochen aus dem Weg geräumt worden, und nun hatte Od auf Odens Wunsch einen geeigneten Nachfolger ernannt.

Ull, einer von Odens neun Bärsärkern, die die Ländereien in Godheim verwalteten, hatte sich hinter Odens Rücken an der Elfenmilchernte bereichert. Natürlich war es Oden zu Ohren gekommen, so wie Oden eben irgendwann alles erfuhr, was er wissen musste. Seinem Spürsinn und seiner magischen Größe entging nichts. Er herrschte mit unnachgiebiger Gewalt und Unbarmherzigkeit. Der mächtigste Magier aller Zeiten …

Der Hauch eines Zweifels regte sich.

Weshalb bemerkte Oden dann nicht die seltsamen Kräfte dieser kleinen, rothaarigen Hexe? ...

Nein, Oden war unbesiegbar! Es musste eine andere Erklärung dafür geben, dass Od derart heftig auf das Mädchen reagierte. Wäre die Ursache magischer Natur, hätte Oden etwas bemerkt.

Wie dem auch sei, Od hatte einen würdigen Nachfolger für Ull ausgewählt. Er wusste, dass Oden mit seiner Wahl zufrieden sein würde, hatte er doch selbst den jungen Mann und dessen Werdegang wohlwollend verfolgt.

Lodurs ältester Sohn Heimdall würde die Grafschaft in Godheim übernehmen. Zumindest vorübergehend, denn der Erbfolge nach stand ihm das Herzogtum Bilskirne mit den Ländereien Trudvang und Trudheim zu, sobald sein Vater Lodur das Zeitliche segnete und in Vallhalls ewigen Jagdgründen aufgenommen wurde.

Bilskirne war das größte der drei Herzogtümer Vanaheims. Die kleine Grafschaft Ydalir in Godheim würde Heimdall auf seinen Posten vorbereiten, denn wollte er in die ehrenwerten Fußstapfen seines Vaters treten und dessen Platz in der Triade einnehmen, hatte er noch einiges zu lernen. Heimdall die Grafschaft Ydalir zu übertragen, war eine gute Entscheidung, war Od überzeugt.

»Heimdall wird seinen neuen Posten als Ulls Nachfolger antreten. Ich habe Vile und Ve nach Bilskirne geschickt, um ihn darüber zu unterrichten und um ihn nach Ydalir zu begleiten. Die beiden sollen ihn auch in die wichtigsten wirtschaftlichen Angelegenheiten der Grafschaft einweisen.«

Hugin nickte zufrieden und nahm einen kräftigen Schluck aus dem großen Kelch.

»Eine gute Entscheidung. Oden wird zufrieden sein«, brummte er, während sich ein seliger Ausdruck in seinem Gesicht breit machte. Die berauschende Wirkung des Odrörers, ein Met mit Elfenmilch als Zusatz, war unübersehbar. Od schielte sehnsüchtig auf das vollgefüllte Fass, das auf der kleinen, reichverzierten Schänke auf Odens Rückkehr wartete. So einen Schluck glückseliges Vergessen könnte ihm auch gut gefallen. Er dachte grimmig an die rothaarige Hexe. Dann riss er seine Augen von Odens Lieblingsgetränk los.

»Des Weiteren kann ich berichten, dass die Elfenmilchernte dieses Jahr von überdurchschnittlicher Qualität ist und einen exzellenten Odrörer abgeben wird. Der Gärungsprozess ist so gut wie abgeschlossen. Heute wird Kvaser die Elfenmilch hinzugeben und somit füllen wir in etwa einer Woche auf Fässer ab. Er lässt ausrichten, dass der Met jetzt schon einer der besten seit langem ist. Die hervorragende Qualität der Elfenmilch lässt auf einen Odrörer von selten dagewesenem Aroma hoffen. Möglicherweise ist er sogar dem Jahrgang des Großen Rennens von vor 21 Jahren in Geschmack und Wirkung überlegen.«

Od war sich der Wirkung seiner Worte bewusst. Ein guter Odrörer war für Oden äußerst wichtig und würde seine ohnehin schon gute Laune – die er seit der Gefangennahme dieses Jungen aus Mannaheim hatte – noch um einiges heben. Ein gut gelaunter Oden war für ganz Asgârd ein Segen.

Möglicherweise würde seine Großzügigkeit sogar so weit gehen, dass er den Bärsärkern von Valhall ein Fass überließ. Er tat dies gelegentlich, um die Moral der Krieger von Asgârd aufrecht zu erhalten. Gewöhnlichen Met erhielten sie als Leibwache Odens natürlich so oft und so viel ihr Herz begehrte. Odrörer war allerdings eine Klasse für sich. Od sah dem entgegen und dachte bei sich, dass er und seine Krieger sich die Belohnung wirklich verdient hätten. Immerhin waren sie es gewesen, die den entscheidenden Tipp zur Ergreifung des von Oden gesuchten Verdächtigen erhalten hatten.

Oden hatte lange nach ihm gesucht. Eigentlich hatte keiner so genau gewusst, wonach Oden Ausschau hielt. Dies führte zu vielen Gefangennahmen, Verhören und Folterungen. Bis die Bärsärker letztendlich die Nachricht erhielten, dass ein Junge und ein Mädchen beim Jagen auf Gymers Berg beobachtet worden waren. Ein Mädchen auf der Jagd! So etwas war in Odens Reich strengstens verboten und somit sehr verdächtig gewesen.

Od überkam wieder dieses Unbehagen, das ihn seit längerem quälte.

Das Mädchen auf der Jagd, die rothaarige kleine Hexe …

Er hatte sie unbedingt haben wollen. Während Oden gefunden hatte, wonach er gesucht hatte – einen weißen Stein mit blutroten Linien – und den schwarzhaarigen Jungen dann eigenhändig vergiftet hatte, hatte Od sich auf sein neues Spielzeug gefreut …

Hugins bärtiges Gesicht nickte anerkennend.

»Ein Odrörer von überragender Qualität. Das ist nun wirklich eine Nachricht nach Odens Geschmack!«

Das Unbehagen, das Od für den Bruchteil einer Sekunde gelähmt hatte, verließ ihn genauso schnell, wie es gekommen war. Er war wieder er selbst – selbstsicher und überlegen. Er sah mit fast geifernder Vorfreude, wie Hugin einen weiteren Kelch voll Odrörer zapfte und ihm das Getränk reichte.

»Darauf sollten wir einen trinken! Solche Nachrichten hören wir hier oben immer gerne!«

Hugin erhob seinen Kelch zum Prost und nahm einen weiteren kräftigen Schluck.

Od tat es ihm gleich. Der Odrörer floss durch seine Kehle, warm, herzhaft und wohlschmeckend. Seine Sinne wurden sanft berührt und seine Gesichtszüge glätteten sich. Noch einige Schlucke mehr und das Glücksgefühl würde vollkommen sein. Vergessen die kleine, rothaarige Hexe, vergessen seine Probleme – was für ein Tag …

Noch bevor er den Kelch von seinen Lippen nahm, tauchte aus dem Nichts eine dicke Nebelwand auf. Od hatte das Schauspiel schon einige Mal erlebt, aber verschluckte sich trotzdem voller Schreck. Aus dem Nebel schälten sich die Konturen einer dunklen Gestalt heraus, die mit einem langen Umhang bekleidet war. Als nächstes machte der Bärsärker eine vor Gicht verknöcherte Hand aus, die aus dem Mantel ragte und die mit langen Fingern einen fast zwei Meter langen Speer umklammerte.

Oden ist wieder da, schoss es Od durch den Kopf.

Der Bärsärker trat – den Blick gesenkt und mit unterwürfiger Geste – einige Schritte zurück. Hugin blickte seinem Herrn erwartungsvoll entgegen und schien keineswegs überrascht über Odens plötzliches Auftauchen.

Der zweite Rabe, der während Ods Aufenthalt kaum Notiz von den Geschehnissen im Raum genommen hatte, streckte nun sein Gefieder und ließ sich von seinem Podest herabgleiten. Im Anflug verwandelte auch er sich in einen Mann, der seinem Bruder Hugin zum Verwechseln ähnlich sah. Zumindest fast, denn die Augenfarbe machte den Unterschied deutlich. Im Gegensatz zu den kalten, blauen Augen seines Bruders waren Munins Augen schmutzig grün.

Die beiden standen Oden gegenüber und warteten auf seine Befehle.

»Ich sehe, hier ist eine kleine Feier im Gange. Das lässt auf gute Nachrichten schließen … Hoffe ich!«, sagte er. Ein kaltes Lachen kam aus den Tiefen des dunkelblauen Umhanges und ließ die knochige Hakennase erbeben, die unter der breiten Hutkrempe hervorstach.

»So ist es, mein Herr«, antworteten Hugin und Munin im Chor.

Unwillkürlich trat Od noch einen weiteren Schritt zurück. Er diente Oden nun schon eine halbe Ewigkeit, und obwohl er selten Anlass zur Klage gab, flößte ihm die Nähe seines Gebieters seit der Anwesenheit dieser kleinen Rothaarigen Unbehagen ein.

»Od, mein treuer Diener!«, rief Odens bedrohliche Stimme. Od zuckte unmerklich unter seinem Umhang zusammen, fing sich aber rasch wieder und trat einen Schritt vor. Er hob seinen bärtigen Kopf.

»Ja, mein Herr?«

Oden reichte Hugin seinen Speer und nahm auf dem elfenbeinfarbenen Thron Platz.

»Einen großen Krug Odrörer, schnell!«

Od eilte zur Schänke hinüber und begann das begehrte Getränk zu zapfen, während Hugin den Speer an seinen angestammten Platz brachte. Ein kunstvoll verziertes Gestell nahm die Waffe in sich auf. Im Fackelschein traten magische Runen auf der Speerspitze zum Vorschein. Gungner war kein gewöhnlicher Speer. Es handelte sich um eine von Schwarzelfen geschmiedete Waffe. Ein Gegenstand aus der alten Zeit, der im guten Glauben hergestellt worden war, dann aber durch Hinterhältigkeit und Verrat zum Mordswerkzeug geworden war.

Gungner traf immer sein Ziel. Damals wie heute konnte ihm niemand entkommen. Und Gungner hatte noch eine außergewöhnliche Eigenschaft. Wie ein Bumerang kehrte der magische Speer immer zu demjenigen zurück, der ihn schleuderte. Eine verheerende Kombination, die in falschen Händen nur Tod und Leid bringen konnte.

»Nun?«, fragte Oden. »Mein eigenes kleines Projekt läuft zu meiner vollen Zufriedenheit. Können eure Nachrichten mich noch mehr erfreuen?«

Hugin berichtete von Ulls Nachfolge und von dem verheißungsvollen Odrörer-Jahrgang. Oden ließ ein zufriedenes Grunzen hören und trank in großen Zügen aus dem Kelch, den Od ihm gereicht hatte. Sein langer, schwarzer Bart, den er zu zwei Zöpfen geflochten trug, hob und senkte sich. Seine eingefallenen Wangen bildeten einen makabren Kontrast zu den spitzen, stark hervortretenden Wangenknochen.

»Es könnte kaum besser laufen«, brummte Oden und wischte sich den Odrörer aus dem Bart.

Im nächsten Augenblick versteifte sich sein Körper. Oden schien in sich hineinzuhorchen. Ods Muskeln spannten sich. Er wartete misstrauisch auf die Reaktion seines Gebieters, denn diese Geste war ihm nur allzu gut in Erinnerung. Unzählige Male hatte Oden im letzten Jahr auf diese Weise in sich hinein gesehen.

Er war auf der Suche gewesen, hatte etwas gespürt und letztendlich hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte.

Aber es hatte lange gedauert. Sehr lange und es hatte viele Wutausbrüche von Oden gegeben. Sehr viele. Ganz Asgârd hatte in dieser Zeit in Angst und Schrecken gelebt, in der Ungewissheit, was Oden in seiner Wut und Frustration anrichten würde und wen es als nächstes treffen würde.

Ods Nerven waren zum Zerreißen gespannt, während er Odens regungslose Gestalt beobachtete. Plötzlich begannen Odens Bartzöpfe zu zucken. Ein grausames Flüstern durchbrach die Stille.

»Es ist hier … es ist tatsächlich hier … es muss so sein …« Oden sprach abwesend, seine Worte richteten sich eindeutig nach innen, in sich selbst hinein. Od hatte das beklemmende Gefühl, ungebetener Zeuge zu sein, als ob er eine intime Grenze überschritten hätte. Er merkte, wie sich seine roten Nackenhaare sträubten.

»Es ist hier … endlich ist es hier …«, flüsterte Oden. »Jetzt spüre ich es …«

Doch warum erst jetzt?, fragte er sich, wo er doch seine Sinne unzählige Male über Mannaheim hatte schweifen lassen.

In letzter Zeit hatte er mehrmals die lange verschollenen Weidegründe Mannaheims betreten. Hätte er diese Anwesenheit nicht auch dort spüren müssen? Wann war es durch den Nebel gekommen? Wie lange war es bereits hier? Aber ohne magische Fähigkeiten konnte niemand es von Mannaheim fortbringen … Es – das dritte und letzte Bruchstück des Amuletts, das Oden unbedingt in seine Hände bekommen musste.

Dieser schwarzhaarige Junge … hatte er gelogen? Hatte er doch beide Teile mitgebracht?

Zum ersten Mal seit jenem Tag auf Bilskirne bereute Oden, den Jungen sofort getötet zu haben. Nun war es zu spät, er konnte ihn nicht mehr befragen. Odens lange, knochige Finger umfassten krampfhaft die Armlehne des Throns, so dass die Gebeine totenweiß hervortraten. Er begann zu zittern.

Od registrierte es mit wachsender Unruhe. Odens gute Laune war vorüber und ein Donnerwetter konnte jeden Moment losbrechen. Od kannte die Vorzeichen nur allzu gut: Das Mahlen der Kiefer, das Zähneknirschen …

Mit einem Schluck leerte er den Odrörer-Kelch und richtete sich zur vollen Größe auf. So gewappnet, wartete er die Befehle seines Herrn ab, die unweigerlich kommen würden.

Falls dieser Junge tatsächlich beide fehlenden Teile mitgebracht hatte, dann …, dachte Oden unterdessen bei sich. Der Junge musste beide Teile besessen haben. Das würde erklären, warum Oden auf Mannaheim die Präsenz des fehlenden Amulett-Stücks nicht verspürt hatte.

Das letzte fehlende Teil war bereits seit Jahren hier auf Godheim!

Vermutlich in Händen eines einfachen Menschen, der nun magische Fähigkeiten erlangt hatte. Oder aber das Amulett war nun an einen Magier ausgehändigt worden. Das würde erklären, weshalb Oden erst jetzt seine Gegenwart spürte.

Wer besaß dann aber nun den letzten Teil des Steines?

Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt. Es konnte jeder sein. Falls der Träger des Amuletts erst kürzlich magische Fähigkeiten erlangt hatte, war er wahrscheinlich jung.

Aber falls er den Stein an einen Magier weitergegeben hatte? ...

Oden ballte seine knochige Hand zu einer Faust und ließ sie auf die Lehne des Throns niedersausen. Od zuckte unmerklich zusammen, während Hugin und Munin regungslos verharrten.

Odens Gedanken eilten weiter.

Wo sollte er seine Suche beginnen? Trug ein Mann oder eine Frau das Amulett? War der Träger jung oder alt? Wen hatte der Junge gekannt? Wen außer … ja, vielleicht … obwohl sie nichts über das Amulett zu wissen schien … aber natürlich wäre es möglich … sie könnte zumindest wissen, mit wem der Junge verkehrte …

Oden schien in seinem Thron zu wachsen. Unter der breiten Krempe des schwarzen Hutes ertönte seine kalte, bedrohliche Stimme:

»Od, bring mir die kleine Rothaarige her!«

Od stockte der Atem. Mit allem hatte er gerechnet, alles hätte er sofort zu Odens Zufriedenheit erledigt.

Aber die kleine Hexe? Er konnte sich doch nicht einmal in ihrer Nähe aufhalten!

Od nickte hastig und eilte zur Tür.

Draußen verfiel er mit einem Schlag. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht, sodass er einem Nidhögg aus der Schattenwelt ähnelte. Die berauschende Wirkung des Odrörers verflog, er fühlte sich schwach und ausgemergelt. Er sah sich einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber, die ihm die Kehle zuschnürte.

Aus allen Richtungen starrten ihn leblose Gestalten von den Wänden an. Sie stiegen aus ihren Phönixsteinsärgen und kamen näher. Sie lachten ihn aus und bedrohten ihn. Hals über Kopf floh Od aus Odens makabrer Vorhalle hinaus in die dunklen Gänge von Asgârd.

 

In einem anderen Teil der Burg betrat ein junges Mädchen mit einem Korb im Arm einen der vielen Innenhöfe. Sie trug ein bodenlanges Arbeitskleid aus braunem, fließendem Stoff. Die Flecken auf ihrer hellbeigen Schürze zeugten von harter Arbeit. Strahlend blaue Augen leuchteten aus ihrem Gesicht. Ihre einst modisch geschnittenen Haare fielen ihr weich über die Schultern. Ihre ursprünglich blondierte Frisur war kräftig nachwachsenden, rotblonden Haaren gewichen die in der Mittagssonne wie pures Gold glänzten.

Hanna strich sich eine Strähne hinters Ohr und lief den schmalen, gepflasterten Weg entlang, der schnurgerade auf den Kräutergarten zuführte. In der Küche wurden Rosmarin und Thymian sowie einige andere Gewürze benötigt. Die Köchin hatte sie außerdem darum gebeten, im Obstgarten noch ein Dutzend Hexennasen zu ernten.

Die Arbeit in den sonnigen Gärten von Asgârd war eine willkommene Abwechslung zu der düsteren Atmosphäre der alten Burg.

Hanna ließ sich Zeit. Sorgfältig suchte sie die besten Kräuter aus und jätete nebenbei noch ein wenig Unkraut. Sie kniete in der dunklen, fruchtbaren Erde des Kräutergartens und genoss die wärmenden Strahlen der Sonne. Der aus Rinde geflochtene Korb füllte sich langsam mit den gewünschten Kräutern.

 

Sechs Wochen befand sich Hanna nun schon auf Asgârd. Sie erinnerte sich nur zu gut an den verhängnisvollen Tag, an dem sie und Charlie gefangen genommen worden waren. Oden hatte irgendetwas gesucht und dieses Etwas bei ihr oder Charlie vermutet. Sie wusste bis heute nicht, was es war, hatte aber später erfahren, dass Oden wohl bei Charlie fündig geworden war.

Und sie hatte noch etwas vernommen. Sie hatte es zunächst nicht glauben wollen. Sie konnte es einfach nicht glauben. Es war zu grausam, aber Oden und seine Bärsärker waren grausam, das hatte sie in den letzten sechs Wochen gelernt.

Charlie war tot. Von Oden ermordet!

Und sie selbst? Sie war dem Tode entkommen, da sie Ods lüsternes Interesse geweckt hatte.

Nachdem Lodurs Diener sie auf Ods Befehl hin aus der großen, steinernen Halle von Bilskirne getragen hatten, war sie reisefertig gemacht worden. Während sie angekleidet wurde, flüsterten ihr einige Dienstboten gut gemeinte Ratschläge zu. Sie sollte sich ruhig verhalten und gehorsam und willig sein. Od wäre ein grausamer Mensch und sie täte gut daran, sich seinem Willen zu fügen.

Sie hörte natürlich nicht auf diese Ratschläge. Als Od kam und befahl, sie zur Kutsche in den Hof zu bringen, wehrte sie sich mit allen Mitteln. Sie biss, trat um sich und schrie und tobte. Es half nichts. Sie erinnerte sich noch gut an Ods lüsternen Gesichtsausdruck.

»Rollt sie in den Teppich dort ein!«, hatte er mit einem amüsierten Grinsen befohlen. So kam es, dass Hanna in einem Teppich verpackt nach Asgârd verschleppt wurde.

Das nächste, was sie zu sehen bekam, waren die Räumlichkeiten von Ods Harem Vingolf, der sich im Ostturm von Asgârd befand. Aber erst, nachdem die vielen jungen Frauen, die dort hausten, Hanna aus dem Teppich befreit hatten.

Dann begann der Kampf. Gleich am selben Abend unternahm Hanna ihren ersten Fluchtversuch. Weit kam sie natürlich nicht. Bereits am Ende des ersten, dunklen Ganges wurde sie von dem Diener aufgegriffen, der von Od den Befehl erhalten hatte, Hanna umgehend zu seinem Schlafgemach zu führen. Sie wehrte sich selbstverständlich, schon wieder, doch vergebens.

Wenig später stand sie mit aufgerissener Bluse und zerzausten Haaren in Ods Räumlichkeiten. Sie versuchte, ihn so hochmütig wie möglich anzublicken. Innerlich zitterte sie vor Angst wie ein kleines Kind, das beim Stehlen erwischt worden war und nun nicht genau wusste, was es zu erwarten hatte. Allerdings hatte sie durchaus entsetzliche Vorahnungen.

Mit gierigem Blick zog Oden Hanna zu sich heran, doch ehe sie sich wehren konnte, geschah etwas überaus Merkwürdiges. Od stieß sie von sich, als hätte er sich an ihr verbrannt!

Seinen entsetzten Gesichtsausdruck sah sie noch jetzt vor sich. Zu Hannas Überraschung zog sich Od panisch in die hinterste Ecke seines Schlafgemachs zurück und beobachtete sie von dort aus – wie ein geprügelter Hund seinen Herrn.

Hanna wartete regungslos ab. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, warf sie ihm einen letzten Blick zu und ging.

Eine ganze Weile irrte sie ziellos durch die dunklen Gänge der Burg und versuchte zu verstehen, was da gerade eben geschehen war. Als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte und zufällig an der Tür zu einem der Innenhöfe vorbeikam, startete sie ihren zweiten Fluchtversuch.

Leider kam sie auch hier nicht weit, denn sie landete ausgerechnet dort, wo Dutzende von Odens Bärsärkern Zweikämpfe trainierten.

 

Hanna schauderte es bei der Erinnerung an das abrupte Ende ihrer Flucht.

Sie stand auf und klopfte sich die Erde von der Schürze. Dann griff sie nach dem Korb mit den frischen Kräutern und schlug den Weg zum Obstgarten ein, der in einem weiter entfernten Innenhof lag. Beide Gärten lagen im Ostflügel. Hier befanden sich – außer dem Turm Vingolf – auch der Küchentrakt sowie die Schlafräume der Angestellten.

Hanna steuerte geradewegs auf einen hohen Torbogen zu, von dem aus sich einer von mehreren langen Gängen quer durch die Burg schlängelte. Diese bildeten eine Art Sechseck und mündeten jeweils in einem neuen, großen Innenhof.

 

Schon nach wenigen Tagen auf der Burg musste Hanna feststellen, dass sie sich auf einer Insel im Meer befand. Das Festland war wohl zu sehen, aber es war für alle Sklaven von Asgârd unerreichbar. Hannas Aufsässigkeit wurde mit Prügelstrafen geahndet – für die Göre von der Erde eine ungemein schmerzhafte und demütigende Erfahrung.

Die Frauen aus Ods Harem betrachteten sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid.

Hanna erzählte niemandem von Ods merkwürdigem Verhalten ihr gegenüber. Od ließ sie noch einer paar Mal holen, offensichtlich fest entschlossen, sie in die Menge seiner Gespielinnen einzureihen und ihr ein angemessenes, demütiges Verhalten aufzuzwingen. Aber aus irgendeinem Grund war es Od unmöglich, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Er schien ihre Gegenwart zu fürchten und Hanna war schlau genug, diese Tatsache für sich zu nutzen und sich eine den Umständen entsprechende, akzeptable Nische im Alltag von Asgârd zu sichern.

Obwohl Od seine Unzulänglichkeit in Hannas Nähe offenbar zu rächen versuchte, indem er das Personal anwies, sie hart ranzunehmen und jede Aufmüpfigkeit aufs Strengste zu bestrafen, hütete sich Hanna davor, Od bloßzustellen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass ihr das mehr als nur Prügel einbringen würde. Od würde es niemandem verzeihen, seine Machtstellung als engster Vertrauter Odens zu untergraben. Und dass er Oden fürchtete, war ihr durchaus bewusst.

Immerhin verschwieg Od seinem Herrn etwas, das er weder einordnen noch beherrschen konnte – und das durchaus zu einer Gefahr für Asgârd werden konnte. Nicht, dass Hanna tatsächlich dachte, dass sie für Oden ein wirkliches Problem war, aber es würde wohl ausreichen, wenn Od oder Oden selbst dies glaubten. Bereits geringster Widerstand wurde in Odens Nähe mit Aufenthalt im Kerker Gnipahâl oder gar mit dem Tode bestraft.

Od hatte sich also durch sein Schweigen in eine missliche Lage gebracht und sein Bestreben, Oden zu gefallen, hatte Hanna einen kleinen, nicht zu verachtenden Vorteil verschafft. Denn anstatt sich sofort ihrer zu entledigen, hatte Od sie vor Oden in den höchsten Tönen gelobt. Nun schwieg er aus Angst vor den Konsequenzen seiner Lüge.

Um nicht durchschaut zu werden, ließ Od Hanna in regelmäßigen Abständen in seine Gemächer rufen, hielt sich aber selbst von ihr fern. Meist befand er sich in einem der hinteren Räume und befahl ihr, nach angemessener Zeit wieder zu gehen. Für Hanna war es ein recht befremdendes Arrangement, mit dem sie sich aber schnell anfreundete.

Da sie neben ihrer Bestimmung als Haremsdame hauptsächlich in der Küche und zum Putzen eingesetzt wurde, kamen Od ihre eigentlichen Qualitäten rasch zu Ohren. Denn Hanna legte großen Wert auf Sauberkeit und Hygiene, was in der mittelalterlichen Kultur von Godheim und Vanaheim keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Od nutzte dies, um seiner Lüge ein Fundament zu verschaffen und servierte Oden Hannas Vorzüge als Reinigungskraft sozusagen auf dem hochglanzpolierten Silbertablett.

Odens pedantische Neigungen waren jedem auf Asgârd bekannt. Hannas Vorliebe für Ordnung und Sauberkeit fiel bei ihm daher auf fruchtbaren Boden. Hanna wurde zu seiner persönlichen Putzfrau befördert und erledigte ihre täglichen Arbeiten in Odens Gemächern zu seiner höchsten Zufriedenheit.

Od hatte sich mit diesem Zug allerdings völlig ins Schachmatt gesetzt. Nun war es ihm unmöglich, Hanna auf einfache Weise und ganz nebenbei verschwinden zu lassen.

 

Hanna schlenderte den langen Gang entlang und trat im nächsten Innenhof ins Freie. Obstbäume aller Art reihten sich in schönster Ordnung aneinander.

Es war Skörde-Monat und die Obsternte stand kurz bevor. Die Chefköchin von Asgârd verlangte für ihre Desserts reife Früchte. Hanna streifte durch die Baumreihen und prüfte mit geübtem Griff die Reife des Obstes.

Sie war zu einer mustergültigen Dienstbotin mutiert. Zumindest nach außen hin. Wohl darauf bedacht, keine sichtbaren Fehler zu begehen, begann Hanna bereits nach kurzer Zeit, im Verborgenen zu handeln. Systematisch erkundete sie seit einigen Wochen die Burg und ihre Geheimnisse. Falls sie hier jemals wieder fortkommen wollte, musste sie eine brillante Lösung finden – und die gab es ganz bestimmt nicht in der Küche.

Hanna pflückte die bestellten Hexennasen und machte sich ohne Eile auf den Rückweg. Sie hatte gerade den Gang mit dem Torbogen hinter sich gelassen, als ihr ein Küchenjunge durch den Kräutergarten entgegen rannte. Hanna lächelte ihm zu.

»Aslak! Du hast es aber heute eilig!«

Er schaute besorgt drein.

»Od lässt dich suchen. Du sollst auf der Stelle zu Oden in den Nordturm kommen«, sagte er.

»Jetzt sofort?«

Aslak nickte wieder und schielte auf den Korb mit Obst und Kräutern.

»Od schien nervös. Ich habe ihn noch nie zuvor so gesehen. Ich bringe den Korb für dich in die Küche, dann kannst du sofort loslaufen.«

Hanna reichte ihm nachdenklich ihren Korb und sah an sich hinunter.

»Ja, danke Aslak. Aber ich sollte mir schnell noch eine saubere Schürze holen.«

Er sah Hanna zweifelnd an.

»Ich glaube, du solltest sofort gehen. Es schien sehr dringend.«

Hanna nickte, aber sie wusste es besser. Gerade ihre Sauberkeit und Ordnungsliebe waren der Grund dafür, dass Oden sie in seine Gemächer ließ.

Aslak sah ihr sorgenvoll nach, als sie in der Burg verschwand. Ods seltsames Verhalten hatten ihn mehr als nur beunruhigt. Irgendetwas stimmte nicht.

Hoffentlich hat sich Hanna nichts zu Schulden kommen lassen.

Sie spielte zwar die gezähmte Stute, aber Aslak war sich keineswegs sicher, dass sich Hanna tatsächlich untergeordnet hatte.

 

Hanna band sich eine frische, hellblaue Schürze um, obwohl dies einige Minuten Verzögerung bedeutete. Nun lief sie die, dunkle Treppe hinauf, die sich in Odens Turm emporwand – dem Nordturm Asgârds. Vereinzelte Fackeln erleuchteten an ihren Wandplätzen den steinernen Pfad, doch die seltsam rußigen Wände schienen das wenige Licht auf gespenstische Weise zu verschlucken, so dass man sich den Weg zwischen den kleinen Lichtinseln denken musste.

Was wollte Oden von ihr?

Er war mit ihrer Arbeit stets zufrieden gewesen, und obwohl er fast nie da gewesen war, hatte sie täglich in seinen Gemächern geputzt und Staub gewischt. Um genau zu sein, war Hanna Oden seit ihrer Ankunft auf Asgârd vor sechs Wochen erst zweimal begegnet.

Das erste Mal, als sie auf Ods Empfehlung hin in Odens Gemächer zitiert worden war. Oden hatte ihre Arbeit peinlichst genau und kommentarlos verfolgt. Sie fühlte heute noch, wie seine Blicke jeden Handgriff bewerteten, obwohl seine Augen unter der breiten Krempe seines schwarzen Hutes verborgen blieben. Oden besaß eine ansehnliche Sammlung an uralten Musikinstrumenten. Natürlich sollte sie auch diese Staubfänger säubern. Zu ihrer Überraschung erwachte ein kleines Zupfinstrument sofort zum Leben und begann eine hektische Melodie zu spielen, als sie es berührte. Hanna stolperte rücklings über ihre eigenen Füße, während Oden lauthals lachte. Nachdem er seinen Spaß gehabt hatte, erklärte er ihr, dass es nicht nötig war, magische Instrumente abzustauben, da diese – wie alle von Schwarzelfen hergestellten Gegenstände – sich von selbst reinigten. Der Schabernack liebende Elf Eitre hatte zu Lebzeiten an solch magischen Spielereien Spaß gefunden. Oden besaß Eitres komplette Sammlung.

Zum Glück hatte Oden Hannas Arbeit trotz des Missgeschicks mit einem äußerst zufriedenen Grunzen anerkannt. Ihr wurde daraufhin befohlen, zweimal täglich nach dem Rechten zu sehen und Odens Turm blitzblank zu halten.

Dies gelang ihr spielend, denn Oden schien seine Gemächer selten zu nutzen und die beiden Raben machten wenig Unordnung. Sie hielten sich fast immer im ersten Empfangsraum auf, wo sich auch Odens elfenbeinfarbener Thron befand. Nur ihr Verwesungsgestank ließ sich auch mit viel Lüften nicht vertreiben.

Einmal versuchte Hanna die verrußten Wände zu reinigen, aber das stellte sich als unmöglich heraus. So hart sie auch schrubbte, diese schwarze Verfärbung wollte einfach nicht weichen – und das, obwohl Hanna deutlich erkennen konnte, dass die steinernen Wände einst weiß gewesen sein mussten. Da Odens Turm glänzte wie niemals zuvor, konnte ihre Arbeit also nicht der Grund dafür sein, dass er jetzt nach ihr verlangte.

Es war erst eine Woche her, dass Hanna Oden zum zweiten Mal gesehen hatte. Da schien er gerade von einer Reise zurückgekehrt zu sein, denn seine Kleidung war in Unordnung und Hugin und Munin erstatteten ihm gerade Bericht über die vergangenen Wochen. Als Hanna am betreffenden Nachmittag zu ihrem zweiten Rundgang in den Turm gekommen war, war der Hausherr bereits wieder abgereist und auch die Raben offensichtlich ausgeflogen. Denn wie immer, wenn Odens Zwillinge nicht zugegen waren, stand eines der Turmfenster ein wenig offen.

 

Hanna war in der Vorhalle zu Odens Gemächern angelangt. Sie warf noch einmal hastig einen prüfenden Blick an sich hinunter und ordnete ihre Haare. Die Wesen in der makabren Wanddekoration schienen Hanna mit ihren toten Augen zu folgen, als sie an die schwere Holztür klopfte. Sie betrat den Raum und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

 

Oden betrachtete Hanna von oben bis unten, dann blieb sein Blick an der frischen Schürze hängen und er grunzte wohlwollend. Dieses Mädchen gefiel ihm, legte sie doch ähnlich Wert auf Ordnung wie er selbst. Täglich erschien sie pünktlich jeweils vormittags und abends und erledigte ihre Arbeit zur größten Zufriedenheit. Sie putzte sauber und gewissenhaft, aber – was noch viel wichtiger war – sie hielt Odens Ordnung aufrecht. Nicht ein einziges Mal hatte er Gegenstände verschoben oder gar woanders wiedergefunden. Oden hatte sich nie über Hanna beschwert.

Während Hanna schweigend und abwartend vor ihm stand, stellte Oden fest, dass er so gut wie gar nichts über sie wusste. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Die Dienerschaft wurde von Od ausgesucht,

Sklaven in ihre Schranken zu weisen war keine so wichtige Angelegenheit, dass Oden sie nicht delegieren konnte. Seine Bärsärker wussten sich Gehorsam zu verschaffen Oden selbst traf alle wichtigen Entscheidungen persönlich. So wie er die Ordnung in seinen Gemächern liebte, so hielt er auch pedantische Ordnung in seinem System.

Oden hatte für jede Aufgabe den richtigen Bärsärker.

Bisher war er zufrieden mit seiner Streitmacht, die von seinem treuen Diener Od hart und schonungslos befehligt wurde.

 

Hanna sah auf den Boden und ließ die Musterung über sich ergehen. Trotz seines wohlwollend klingenden Grunzens wuchs ihr Unbehagen. Odens knochige Finger lagen bleich und ekelerregend auf den Armlehnen des Elfenbeinthrons. Sie spürte die Kälte, die von diesem alten Mann ausging. Sie schien sich durch Hannas Körper zu arbeiten und es fröstelte sie.

Aslak hatte recht. Irgendetwas war nicht in Ordnung.

Hanna konnte Od nirgends entdecken.

Ob er vielleicht um sein Geheimnis fürchtete? Er konnte sich nicht in ihrer Nähe aufhalten. War Oden dem Doppelspiel auf die Schliche gekommen?

Oden beugte sich vor und begann sein Verhör. Seine kalte, berechnende Stimme bewirkte, dass sich Hannas Nackenhaare sträubten.

»Ich bin mir sicher, dass du mir alles sagen wirst, was du weißt«, begann er mit selbstgefälligem Tonfall. »Du weißt ja, wie es deinem jungen Freund erging … Gift ist eine wunderbare Sache …« Oden lachte leise und grausam in sich hinein.

Hanna schluckte und wartete angespannt ab. Es fuhr ihr siedend heiß über den Rücken.

Er wusste es! Er wusste, dass Od sie nicht berühren konnte. Deshalb war Od auch so merkwürdig gewesen!

Sie schwieg, denn ihre Kehle war ohnehin wie zugeschnürt.

Hugin und Munin flankierten ihren Herrn und hielten ihre kalten Blicke starr auf Hanna gerichtet. Munin schüttelte eine kleine, Ampulle aus dem Ärmel, so dass Hanna sie unweigerlich sehen musste. Mit einer Handbewegung befahl Oden den anderen Zwilling hinaus.

»Eine kleine Demonstration scheint mir angebracht«, zischte er bösartig. »Leider konntest du das Ableben des Jungen nicht miterleben, da Od Gefallen an dir gefunden hatte …«

Oden hob den Kopf.

»Wo ist der Weiberheld überhaupt? Solch eine Befragung versäumt er doch sonst nicht freiwillig!«, wunderte er sich über Ods Abwesenheit.

Hanna zuckte zusammen.

»Nun gut«, murmelte Oden. »Hugin!«

Hugin kam aus dem Dunkeln der Gemächer zurück. In seinen Händen hielt er ein rattenähnliches Wesen, das sich in seinem Griff wand wie eine fette Schlange.

»In der Ampulle ist der Tod verkorkt, meine Liebe!« Odens Stimme war voll von unterdrückter Vorfreude.

Munin öffnete das kleine Gefäß und goss eine klare Flüssigkeit in den Rachen des Tieres, das gleich darauf mit einem Satz auf dem steinernen Fußboden sprang und davon rannte. Doch weit kam es nicht. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sah Hanna, wie das Tier plötzlich stocksteif wurde und leblos umfiel!

Oden hatte sich begierig weiter vorgebeugt.

»Es ist gelähmt. Der eigentliche Todeskampf setzt in wenigen Minuten ein. Unerträgliche Schmerzen«, erklärte Oden mit unverkennbarer Erregung in der Stimme. »Es muss es erdulden, ohne etwas dagegen tun zu können. Das Biest kann sich nicht einmal vor Schmerzen krümmen!« Oden lachte grausam auf. Er lehnte sich in seinem Thron zurück und klopfte mit seinen Fingern auf der Armlehne. »So, mein Mädchen. Ich glaube, nun können wir uns in aller Ruhe unterhalten. Ich denke nicht, dass du Schwierigkeiten machen wirst, nicht wahr? Ich würde ungern so ein tüchtiges und zuverlässiges Hausmädchen verlieren! Ich habe mich an deine Dienste gewöhnt. Also enttäusche einen alten Mann nicht!« Odens Mundwinkel verzogen sich zu einem makabren Lächeln.

Hanna riss sich von dem Anblick des leblosen Tieres los und sah zu Oden auf. Seine Hakennase stach scharf aus dem Schatten der Hutkrempe hervor. Hanna zitterte am ganzen Körper.

War Charlie so umgekommen?

Ihre Gedanken kreisten um Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit. Sie spürte, wie sie Oden unwillkürlich zunickte, während sie krampfhaft um Fassung rang.

»Gut!« Oden grunzte zufrieden

»Dann fangen wir doch gleich mit deinem jungen Freund an.«

Oden machte eine kurze Pause.

»Wie und wo hast du ihn kennen gelernt?«

Oden wusste offenbar nicht, dass auch sie von der Erde stammte. Es hatte sie auch niemand nach ihrer Herkunft gefragt, und Hanna hatte es nicht für eine gute Idee gehalten, zu viel von sich preiszugeben.

Was sollte sie jetzt tun?

Sie entschied instinktiv, die Wahrheit zu sagen. Zumindest teilweise. Hanna holte tief Luft und wappnete sich innerlich Hoffentlich würde die Tatsache, dass sie nicht von hier kam, sie nicht das Leben kosten.

Sie warf einen schnellen, verzweifelten Blick auf das rattenähnliche Wesen, das mit weit aufgerissenen Augen im stummen Todeskampf starr auf dem Boden lag. Sie räusperte sich.

»Ich habe ihn auf der Erde getroffen«, sagte sie leise. Ihre Stimme war brüchig und kaum hörbar, doch Oden hob erstaunt den Kopf.

»Du stammst von der Erde?«, fragte er überrascht. Hanna nickte.

Charlie war schon tot, ihm konnte sie nicht mehr schaden.

Aber sie wollte die einzigen Freunde, die sie auf diesem Planeten hatte, schützen, und das war nur möglich, wenn sie diese aus dem Spiel ließ. Oden durfte keine Verbindung zu Tora, Kunar oder Biarn herstellen können. Am besten war es, wenn Hanna sie erst gar nicht erwähnte. Wenn Oden ihr glaubte, dass sie von der Erde stammte, würde er ihr sicherlich viel eher abnehmen, dass sie außer Charlie hier niemanden kannte.

Hanna wusste nichts von dem Amulett und dessen Kräften und sie wusste auch nichts von Odens Verdacht, dass der dritte und letzte Teil des Steines sich jetzt irgendwo in Vanaheim befand. Somit wusste sie auch nicht, dass sie sich soeben ungewollt in größere Gefahr gebracht hatte, als sie ohnehin schon vermutet hatte. Odens Augen wurden unter seiner Krempe zu Schlitzen. Ein harter Zug ließ seine spitzen Wangenknochen noch weiter hervortreten.

»Wie alt bist du?«, fragte er lauernd. Hanna war überrumpelt.

»Was?«, fragte sie verwirrt. Odens knochige Finger ballten sich zur Faust.

»16«, antwortete sie schnell und versuchte einen Sinn in dieser Frage zu finden.

»Hm …«, ließ Oden hören. »Zu jung … Außerdem erinnere ich mich an braune Augen… Kanntet ihr euch gut?«, fragte er plötzlich laut. Hanna schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Wir kannten uns gar nicht. Ich bin sozusagen aus Versehen hierher geraten.« Sie zuckte mit den Schultern und dachte an den Tag vor nicht ganz vier Monaten zurück. Sie hatte Tora beim Stehlen der Kontaktlinsen erwischt und war ihr dann gefolgt.

War das wirklich schon so lange her?

»Ich habe Charlie verfolgt, weil er so seltsam in seiner Seidenspinnerkleidung aussah«, log sie. »Er schien es eilig zu haben, zum Fluss zu kommen. Ich wusste ja nicht, dass er auf der Suche nach Nebel war.« Sie erinnerte sich daran, wie Charlie vor ihren Augen Nebelfetzen zu einer dichten Nebelwand zusammengezogen hatte. »Er hat versucht mich abzuschütteln, aber ich habe ihn am Arm gepackt und dann plötzlich waren wir hier …«

»Hier?«, fragte Oden.

»Na auf dem Berg, auf dem ihr uns auch gefunden habt«, erklärte sie und hoffte inständig, dass Oden nicht Gedanken lesen konnte, denn sie sah immer wieder Tora und Kunar vor sich, die ja auch dabei gewesen waren.

Oden nickte.

»Ja, der Fluss«, murmelte er vor sich hin. Er war selbst vor kurzem dort gewesen, also sprach die kleine Rothaarige vermutlich die Wahrheit.

Von der Erde …

»Von der Erde … so, so«, zischte Oden vor sich hin. Hanna schluckte. Hugin und Munin standen wieder regungslos neben ihrem Herrn, der sich räusperte und sich mit seinen Fingern über den geflochtenen Bart fuhr.

»Mit wem hattet ihr hier Kontakt?«, fragte Oden. Hanna konnte den lauernden Unterton in seiner Stimme gut erkennen. Jetzt kam es darauf an.

»Mit niemandem«, log sie. Odens Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. Hanna beeilte sich zu erklären.

»Also ich habe zumindest niemanden hier kennengelernt. Charlie war sehr darauf bedacht, sich zu verstecken. Natürlich haben wir ab und an Menschen gesehen und Charlie muss auch Leute gekannt haben, da er Kleidung, Jagdwaffen und auch anderes aus Vanaheim besaß. Aber er hat mich niemals jemandem vorgestellt.«

Oden machte eine herrische Handbewegung.

»Er hat nie Namen genannt oder über jemanden gesprochen? Findest du das nicht etwas sehr unwahrscheinlich?«, fragte er zynisch.

Hanna musste ihm innerlich recht geben, aber sie log tapfer weiter.

Was blieb ihr auch anderes übrig?

»Er hat wirklich niemals Namen genannt«, flüsterte Hanna und schenkte Oden einen koketten Augenaufschlag. »Er sagte, es wäre zu meiner eigenen Sicherheit«, fuhr sie mit nicht nur gespieltem Zittern in ihrer Stimme fort. »Und … und zur Sicherheit seiner Bekannten auch …. Bitte, Ihr müsst mir glauben, mein Herr. Ich kenne wirklich keinen Namen, aber er hat einmal von einem älteren Mann gesprochen …«, sprudelte sie hervor, in der Hoffnung Oden mit ihrer Vorstellung zu überzeugen. Oden horchte auf.

»Ein Mann sagst du?«

Hanna triumphierte innerlich.

Oden hat angebissen.

Sie nickte heftig und machte große, ehrfurchtsvolle Augen.

»Charlie sagte etwas von magischen Kräften«, hauchte sie gespielt hervor, aber innerlich war sie zum Zerreißen angespannt.

Oden lehnte sich nachdenklich zurück.

»Ein älterer Magier …«, murmelte er in sich hinein. Hanna schielte ängstlich zu dem todgeweihten Wesen hinunter und bettelte innerlich darum, endlich gehen zu dürfen. Die Anspannung und Ungewissheit darüber, was Oden mit ihr machen würde, war kaum noch zu ertragen. Plötzlich schien Oden zu einem Entschluss gekommen zu sein.

»Durchsucht sie!«, befahl er Hugin und Munin. Hanna starrte ihn starr vor Schreck an. Oden beobachtete sie aufmerksam. Mit überheblicher und fast gelangweilter Stimme sagte er:

»Falls du nichts zu verbergen hast, hast du auch nichts zu befürchten.« Er war in Gedanken mit den spärlichen Informationen über den möglichen Träger des Steins beschäftigt.

Ein alter Magier …

Hanna versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging.

Sie durchsuchen? Was glaubte Oden bei ihr zu finden? Hatte er nicht bereits bei Charlie gefunden, wonach er gesucht hatte?

Verwirrt sah sie sich um und dann wurde sie auch schon von Hugin und Munin gepackt und spürte, wie ihr die Kleider vom Leib gerissen wurden. Sekunden später stand sie nackt vor Oden, der gedankenverloren vor sich hin starrte. Dann fing etwas seinen Blick auf.

»Was ist das?«, fragte er scharf und schoss flink wie eine Schlange aus seinem Thron hervor. Mit drei Schritten war er bei Hanna. Odens ekelerregende Finger schnellten vor und berührten ihre Brust, als sie nach dem roten Stein griffen. Hanna zuckte zurück, das Blut schien in ihren Adern zu gefrieren.

»Woher hast du das?«, fragte Oden mit einer Stimme, die fast wie das Zischen einer Schlange klang. Hanna zitterte am ganzen Körper.

Der Phönixstein mit der Schutzrune Algiz!

An ihn hatte sie nicht gedacht. Sie hatte ihn von Biarn bekommen, sozusagen als Abschiedsgeschenk und laut Tora war er sehr wertvoll. Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung. Woher konnte sie so einen kostbaren Gegenstand bekommen haben? Oden umschloss den Stein und riss ihr die Kette vom Hals.

»Ich … ich …«, stotterte sie verzweifelt hervor.

»Woher!« Odens Stimme war eine einzige Drohung.

»Ich … ich ...«, brachte sie wieder hervor. »Geschenk … von Charlie …«, stotterte sie zusammenhanglos.

»Und woher hatte dieser Junge den Stein?«

Hanna zuckte hilflos mit den Schultern.

»Von diesem Magier?« Oden war beunruhigt.

Lag ein Zauber auf dieser Schutzrune?

Nur ein Raidho konnte Flüche oder Galder an Gegenstände binden.

War der alte Mann, von dem das Mädchen erzählt hatte, ein Raidho? Er musste den Stein überprüfen. Wenn ein Zauber darauf lag, musste er ihn enthüllen.

»Ich … ich …«, unterbrach Hanna seine Gedanken. »Ich glaube er hat ihn gestohlen«, flüsterte sie. Innerlich bat sie Charlie um Verzeihung. »Auf dem Markt von Bragesholm«, sagte sie mit hängendem Kopf. »Ich weiß, dass es falsch ist zu stehlen, mein Herr, er wollte mir etwas schenken … ich … ich glaube er war in mich verliebt …«

Oden grunzte amüsiert.

Ja, das war natürlich möglich. Er konnte es dem Jungen nicht einmal verdenken. Ein hübsches Mädchen, so wie sie da vor ihm stand.

Aber er musste sicher gehen.

»Nun, dann gehört der Stein wohl eigentlich mir«, sagte Oden spöttisch. »Immerhin hätte er mit Oden-Talern bezahlt werden müssen.«

Er ließ den roten Stein in seinem Ärmel verschwinden. Es versetzte Hanna einen Stich ins Herz. Ohne dass es ihr bewusst geworden war, hatte ihr Biarns Geschenk ein Gefühl von Geborgenheit gegeben. Erst jetzt, wo der Stein weg war, wurde ihr das schmerzlich bewusst. Oden wandte sich ab und ließ sich wieder in seinen Thron fallen.

»Od soll ihr Zimmer durchsuchen und – wenn nötig – seinen gesamten Harem auf den Kopf stellen!«, sagte er an die Zwillinge gewandt. »Wo ist er überhaupt«, murmelte er ärgerlich. »Er sollte das Mädchen herholen und nicht herschicken!«

Hanna konnte sich denken, weshalb Od sie nicht persönlich hergebracht hatte. Er tat gut daran, nicht aufzutauchen, bevor sie selbst wieder verschwunden war.

Oden hat also keine Ahnung von Ods Qualen. Aber was – um Himmels Willen – sucht Oden dann so dringend?

Oden machte es sich auf dem Thron bequem und musterte Hanna.

»So, so. Er war also in dich verliebt, der Kleine. Auf Diebstahl steht die Todesstrafe. Wie schade, dass er bereits tot ist.«

Oden lachte über seinen makabren Scherz.

»Du hast ihn wohl dazu verleitet, was? Seine Zuneigung schamlos ausgenutzt? So ein kleines, verschlagenes Weibsstück …«

Hanna zuckte mit den Schultern und blickte zu Boden.

»Ha!«, lachte Oden auf und schlug mit seiner Faust auf die Armlehne des Elfenbeinthrons. »Habe ich`s mir doch gedacht, du kleines Luder!«

Noch immer stand Hanna entblößt und fröstelnd vor Odens Thron. Sie schielte zu ihrem Kleid hinüber, das die Zwillinge achtlos zur Seite geworfen hatten, aber sie wagte nicht, es zu holen. Odens Gedanken waren offensichtlich weiter gewandert.

»Aus Mannaheim, was?«, sagte er laut und ließ seine Blicke über sie wandern. Er beugte sich wieder vor und nickte vor sich hin.

Auch wenn die Kleine in Bezug auf das Amulett keine große Hilfe war, konnte sie vielleicht doch noch nützlich sein.

»Munin! Benachrichtige Od. Er soll sich an die Arbeit machen! Ich werde mich noch eine Weile mit unserer Nebelreisenden unterhalten … Und schaff das da weg!« Bei diesen Worten machte Oden eine vage Handbewegung in die Richtung des Rattenwesens, das immer noch stocksteif auf dem kalten Steinfußboden lag. Dann wandte er sich an Hugin.

»Setze Lodur in Kenntnis! Du weißt, was zu tun ist!«

Hugin nickte. Er ging zum Turmfenster und öffnete es weit. Dann schlug er seinen schwarzen Umhang mit beiden Armen auseinander und verwandelte sich vor Hannas Augen in den pechschwarzen Raben mit den kalten, blauen Augen. Mit einigen kräftigen Flügelschlägen flog er davon und ließ das Fenster, wie üblich, leicht geöffnet zurück.

Munin griff sich das arme, halbtote Wesen und verließ den Raum. In Kürze würden sie Hannas kleine Kammer in Vingolf gründlich auf den Kopf stellen, denn Oden wollte sichergehen. Nichts wäre für ihn schlimmer, als dass sich das letzte Teil des Amuletts womöglich unbemerkt direkt unter seiner Nase befand.

Oden erhob sich und schlurfte in seine Gemächer Ohne sich umzudrehen, sagte er:

»Wir haben viel Zeit, um uns zu unterhalten, mein Mädchen. Ich möchte alles erfahren. Soviel wie möglich … über deine Welt, die Erde … über Mannaheim …« Seine Stimme war bedrohlich, hungrig und voller Vorfreude. Hanna blieb allein zurück.

Was hat dies alles zu bedeuten? Warum will Oden über die Erde Bescheid wissen?

Verwirrt sah sie ihm nach.

Eine kühle Meeresbrise drang durch das offene Fenster. Hanna, die vor Kälte bibberte zog sich ihr Kleid in Windeseile über. Sie sortierte ihre Haare und strich sich die Schürze glatt. Dann setzte sie sich auf einen der harten Stühle, die für Besucher vorgesehen waren, und wartete.

 

 

2. Die Erde; Südschweden kurz vor zwölf Uhr

 

In der Bibliothek von Storby, einer Stadt in Südschweden, saß Jonas, ein Bär von einem Mann, an einem runden Holztisch, der viel zu klein für ihn war.

Seine Stirn und Teile seiner Glatze waren in runzlige Falten gelegt, sein zum Zopf geflochtener Bart zuckte hin und her, während er mit dem Zeigefinger Zeile für Zeile verfolgte. Dabei murmelte er leise vor sich hin.

Vor ihm stapelten sich unzählige Bücher – alle mit demselben Thema: Nordische Mythologie und Runen, sowie Fabeltiere aller Welt.

Völlig vertieft in seine Lektüre streckte er seine stämmigen Beine unter dem Tisch aus. Außer der Bibliothekarin Eva merkte niemand, dass seine klobigen und schlammverschmierten Schuhe langsam trockneten und sich die Dreckskrusten unter dem Tisch verteilten. Die kleine, zierliche Frau seufzte leise, schüttelte resignierend den Kopf und ging schweigend ihrer Arbeit weiter nach.

Wie Jonas war auch die Lehrerin Âsa ein regelmäßiger Besucher der kleinen, aber gut bestückten Bibliothek von Storby. Âsa unterrichtete Kinder mit Autismus und anderen Behinderungen. Das Autistenzentrum lag direkt neben der öffentlichen Schule.

Sie und Linus kamen einmal pro Woche in die Bibliothek – wie auch heute. Linus war ein neunjähriger, stämmiger kleiner Junge mit einer extremen Vorliebe für Autos. Er brauchte die regelmäßigen Besuche, wie jeder andere die Luft zum Atmen. Abweichungen in seinem Tagesablauf konnte er nicht einordnen und reagierte deshalb mit Protest und Panik.

Eva winkte Âsa, die gerade einen enormen Stapel Hefte und Bücher mit Autos aller Art auf den Tisch fallen ließ, freundlich zu. Linus’ braune Augen strahlten, sein Oberkörper wippte aufgeregt vor und zurück, während er seine Hände schüttelte, als wollte er etwas Lästiges loswerden.

Âsa, eine sportliche Frau mittleren Alters mit kurzen, braunen Haaren und Brille, grüßte zurück und reichte dem ungeduldigen Linus das erste Heft. Er begann voller Freude zu blättern und aufgeregt auf Fotos zu zeigen.

Abgesehen von Jonas, Âsa und Linus gab es lediglich zwei weitere Besucher. Eine ältere Dame und ein junger Student, der konzentriert an einem der bibliothekseigenen Computer saß und mit Kopfhörern über das Internet die Berichtserstattung über die Katastrophe verfolgte, die vor wenigen Stunden Salzburg dem Erdboden gleich gemacht hatte.

Wahrscheinlich war die Bibliothek der einzige Ort in Storby – wenn nicht in ganz Schweden – in dem kein Fernseh- oder Radiogerät über das unvorstellbar dramatische Ereignis berichtete.

Eva warf Jonas einen weiteren kritischen Blick zu. Er hatte seine Beine unter dem Tisch hervorgezogen und keilte die dreckverkrusteten Stiefel nun hinter den Stuhlbeinen fest. Weitere Drecksbrocken fielen ab und garnierten jetzt auch den Boden um den für Jonas viel zu kleinen Stuhl herum. Er hatte sich vornüber gebeugt und stützte seinen kahlen Kopf auf einer seiner riesigen Hände.

Nordische Mythologie! Eva schüttelte wieder den Kopf.

Jonas las so ziemlich alles, am liebsten allerdings Kriminalromane. Am Vortag hatte er für Charlie und die beiden anderen Jugendlichen die Bücher Nordische Mythologie und Fabeltiere ausgeliehen. Und heute, gleich kurz nach Öffnung der Bibliothek um 10 Uhr, waren zwei der seltsam gekleideten Kinder noch einmal dagewesen. Jonas wusste nichts davon. Er reagierte auch sehr überrascht, als Eva ihm davon erzählte.

Nun saß Jonas bereits mehr als eine Stunde an diesem Tisch und studierte alles, was die Bibliothek über das Thema hergab. Jonas blätterte zur nächsten Seite und kratzte sich geistesabwesend am Oberarm, um den sich das Tattoo eines feuerspeienden Drachen wickelte.

Nachdem Charlotta, genannt Charlie, und ihre merkwürdigen Begleiter am frühen Morgen bei der kleinen Jagdhütte am Trollsee im Nebel verschwunden waren – einfach verschwunden! Wie vom Erdboden verschluckt! – hatte Jonas noch lange am See gesessen und nachgedacht. Charlie hatte ihm von einer anderen Welt erzählt. Einer Welt namens Godheim. Er hatte ihr natürlich nicht geglaubt. Aber jetzt ...? Nun saß er hier und suchte in der nordischen Vergangenheit nach möglichen Anhaltspunkten.

Falls all das Unglaubliche stimmte, was Charlie ihm erzählt hatte ... Nicht auszudenken!

In welche Gefahr hatte sie sich da begeben? Sie war doch erst 14 Jahre alt. Jonas seufzte. Falls das mit dem unterschiedlich schnellen Zeitablauf, von dem Charlie erzählt hatte, ebenfalls stimmte, war sie zum jetzigen Zeitpunkt bereits 15 Jahre alt und in ein paar Erdentagen würde sie in der seltsamen anderen Welt erwachsen sein. Jonas hätte dann Charlies Jugendjahre verpasst.

Seine Charlie, wie er sie immer nannte. Eigentlich waren sie nicht einmal verwandt. Aber Jonas hatte nach dem tödlichen Unfall von Per und Lena eine Patenrolle übernommen. Er hatte sich gewünscht, mehr für sie tun zu können. Anstatt sie bei ihm wohnen zu lassen, hatten die Behörden sie von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht. Dabei musste Charlie furchtbare Dinge erleben. Vor zwei Tagen war sie endgültig davongelaufen, hatte sich ihre schönen, langen Locken abgeschnitten und sich dank ihres knabenhaften Körperbaus als Junge ausgegeben.

Jonas versuchte, sich wieder auf das Buch zu konzentrieren. Er las gerade einen Abschnitt über den Fimbulwinter, der gemäß der nordischen Mythologie dem Raknarök, dem Untergang der Welt, wie wir sie kennen, vorausging. Eine Art Armageddon oder Jüngstes Gericht.

Der Fimbulwinter wurde als ein furchtbar langer, kalter Winter beschrieben. Der Fenriswolf würde die Sonne verschlingen, und eine unerträgliche Kälte und markerschütternde Winde sollten der Sage nach alle Welten befallen.

Draußen vor der Bibliothek braute sich unterdessen ein Sturm zusammen. Den Frühnebel hatte er längst verjagt und es wurde zunehmend kälter.

Der Wind zerrte an den Ziersträuchern und eine heftige Windböe ließ den mächtigen Ahorn am Parkplatz erzittern. Erste Schneeflocken fielen ...

Jonas registrierte die ungewöhnlichen Vorgänge draußen erst, als etwas laut zu Boden krachte. Eva schrie auf und sprang hinter ihrem Tresen hervor.

»Das gibt's doch nicht!«, rief sie und starrte entsetzt durch die Glastür auf den Parkplatz. »Mein Auto!«.

Ein dicker Ahornast hatte den einzigen Wagen begraben, der auf dem Parkplatz stand: Evas alten Saab 9000.

»Der ist platt!«, brummte Jonas, der an Evas Seite getreten war und ihr nun tröstend eine Hand auf die Schulter legte. »Da ist nicht mehr viel zu retten!«

»Ich glaube das einfach nicht!«, jammerte sie. Wo kommt dieser Sturm überhaupt so plötzlich her? Davon hatten sie im Wetterbericht gar nichts gesagt.«

Jonas schüttelte den Kopf. Dann betrachtete er den immer stärker werdenden Sturm.

»Sag mal, ist das etwa Schneefall?«, fragte er und trat näher an die Glastür heran. Diese öffnete sich automatisch – der kalte Wind wirbelte Schneeflocken herein. Eine Böe erfasste die Zeitschriften und ließ die dünnen Seiten nur so flattern.

Eva zerrte Jonas zurück, damit sich die Tür wieder schloss und das Unwetter aussperrte.

»Das ist tatsächlich Schnee!«, sagte Eva und blickte auf das Chaos. Sie fuhr sich durch ihre kurzen, blonden Haare, eilte hinter den Tresen und schaltete das kleine Radio ein.

»Ich dachte zunächst, es wären Blütenblätter ...«, murmelte sie, während sie einen Sender suchte.

Jonas nickte. Das wäre naheliegend gewesen, immerhin hatten sie Ende Mai.

Âsa kam herbeigeeilt und blickte kopfschüttelnd nach draußen.

»Also, nach Gudrun sollten sie es doch wirklich gelernt haben, rechtzeitig Sturmwarnungen herauszugeben! Wie soll ich denn mit Linus bei dem Wetter zurück zur Schule kommen«, rätselte sie.

Sie warf einen Blick ans andere Ende der Bibliothek. Da saß Linus freudestrahlend vor seinem Stapel Bildbände. Für ihn war die Welt in Ordnung. Er würde noch mindestens eine Stunde dort sitzen bleiben, egal ob nun da draußen ein Sturm wütete oder gar die Welt aus den Angeln gehoben wurde.

Âsa seufzte.

»Vielleicht legt der Wind sich wieder. Wenn nicht, werde ich wohl ein Taxi bestellen müssen.«

Gudrun. Seit Januar 2005 kannte jedes Kind in Schweden diesen Namen. Der Orkan Gudrun hatte vom Nachmittag des 8. Januar bis zum späten Vormittag des folgenden Tages über ganz Südschweden gewütet und weit über 200.000 Hektar Wald dem Erdboden gleichgemacht. Mehr als 340.000 Haushalte waren ohne Strom und Telefon gewesen, manche für Monate. Dächer waren abgedeckt, Lkw umgestoßen und Scheunen, Häuser und Autos unter Bäumen begraben worden. Viele verloren ihr ganzes Vermögen. Die Aufräumarbeiten dauerten Jahre.

Zwei Jahre später fegte erneut ein schwerer Sturm über die Region. Per richtete ebenfalls Schäden an, das Ausmaß der Zerstörung kam jedoch nicht annähernd an jenes von Gudrun heran. Abgesehen davon war Per rechtzeitig angekündigt worden, was vielen Menschen half, sich auf das Unwetter vorzubereiten. Falls dieser Sturm, der nun wütete, nicht bloß ein kurzes Schauspiel war, würde die Bevölkerung dieser Region erneut unvorbereitet getroffen werden.

Jonas lauschte gespannt dem Rauschen des Radios in Evas Händen. Doch ihr gelang es nicht, einen Sender zu finden.

»Darf ich helfen?«, fragte höflich der Student, der sich neugierig zu ihnen gesellt hatte.

Eva reichte ihm wortlos das Gerät. Der junge Mann drehte und wendete das Radio und fing an, in der Bibliothek umher zu spazieren.

Musik ertönte.

»Empfang haben wir schon einmal«, murmelte er vor sich hin. Plötzlich wurde das Musikstück ausgeblendet und eine Männerstimme ertönte:

»Wir unterbrechen unser Programm für eine weitere Eilmeldung. Aus unbekannten Gründen breitet sich ein Wirbelsturm mit Zentrum über Storby immer weiter aus. Das Meteorologische Institut hat eine allgemeine Sturmwarnung herausgegeben. Sichern Sie Fenster und Türen und riskieren Sie nicht ihr Leben, indem Sie unnötig ins Freie gehen. Es liegen bereits Meldungen über umgestürzte Bäume und blockierte Straßen rund um Storby vor. In Schulen und Gemeindezentren werden Notunterkünfte eingerichtet. Im Notfall wählen Sie bitte 112 oder kontaktieren Sie die zuständige Polizeibehörde, die mit der Katastrophenhilfe in ständigem Kontakt steht. Machen Sie, falls vorhanden, Notstrom-Aggregate bereit und treffen Sie Vorkehrungen gegen die extreme Kältewelle, die der Sturm mit sich führt. Ich wiederhole ...«

Eva, Âsa, Jonas und der junge Student sahen einander besorgt an.

»Ich muss mal telefonieren«, murmelte Âsa und zückte ihr Handy. »Kein Empfang!«, stellte sie sofort fest.

»Ich auch nicht«, meldete sich der junge Student zu Wort und sah sich suchend um. Dann eilte er hinter den Tresen und hob den Hörer des Bibliothekstelefons ab.

»Ich habe ein Freizeichen. Welche Nummer soll ich wählen?«

»Oh, Gott sei Dank!«, rief Âsa. »Ich möchte ein Taxi rufen, um mit Linus zur Notunterkunft in der Schule meiner Kinder zu fahren«. Inzwischen war es draußen richtig finster geworden. Jonas wandte sich Eva zu.

»Habt ihr hier ein Notstrom-Aggregat?«.

»Ja ...«, sagte sie verwirrt. »Ich glaube, ja. Im Keller. Da hinunter«, fügte sie hinzu, als sie sich wieder im Griff hatte.

Jonas eilte mit ihr im Schlepptau die Treppe hinunter. In einem der vielen Kellerräume befand sich tatsächlich ein Notstrom-Aggregat, daneben ein Kanister mit Treibstoff.

»Ich schaue mal, was hier sonst noch so zu gebrauchen ist«, sagte Eva. Jonas nickte und hob den Kanister hoch.

»Geh nur, ich mach das hier schon«, murmelte er, ohne den Blick zu heben.

Kurze darauf flackerte das Licht ein paar Mal und dann wurde es stockdunkel.

»Verflixt!«, brummte Jonas und tastete über die Konsole. Ein langgezogener Kinderschrei drang zu ihm herab und lautes Trampeln war zu hören.

Ein Lichtkegel erschien in der Kellertür.

»Das ist Linus«, sagte Eva und leuchtete mit einer Taschenlampe den Raum aus, bis sie auf Jonas’ breiten Rücken stieß.

»Ich hab's gleich«, brummte Jonas, während die Linus-Sirene über ihnen an Stärke zunahm.

»Die plötzliche Dunkelheit muss ihm entsetzliche Angst bereiten«, erklärte die Bibliothekarin.

Jonas versuchte, sich trotz des Geschreis zu konzentrieren. Endlich lief das Aggregat lärmend an und das Licht ging an. Gleichzeit verstummte Linus’ Geschrei.

»Alle unnötigen Stromverbraucher sollten wir jetzt abschalten«, sagte Jonas und stand schnaufend auf. Eva nickte und knipste das Licht hinter ihnen aus, als sie gemeinsam den Kellerraum verließen.

Oben hatte sich Linus wieder beruhigt und blätterte lachend in seinen Zeitschriften.

Âsa eilte auf Eva und Jonas zu.

»Das Festnetz funktioniert jetzt auch nicht mehr. Die Verbindung ist mitten im Gespräch abgerissen. Und es kommt auch kein Taxi. Der Mann am Telefon hat mich bloß gefragt, ob ich mal aus dem Fenster geschaut hätte«, klagte sie.

Wie auf Kommando wendeten sich alle der breiten Glastür zu. Schneeflocken wirbelten umher. Obwohl es Vormittag war, war es dunkel. Der Sturm fegte die vielen Flocken zu Schneewehen vor der Bibliothekstür zusammen.

Auf einmal war ein lautes Trommeln auf dem Dach zu hören. Es hatte zu hageln begonnen! Tennisballgroße Eisbrocken schossen an der Glastür vorbei und zerbarsten auf dem Asphalt.

»Das dürfte deinem Auto den Rest geben«, brummte Jonas und erntete dafür einen giftigen Blick von Eva.

»Es ist wirklich sehr schnell kalt geworden«, äußerte sich eine fremde, aber freundliche Stimme im Hintergrund. Es war die ältere Dame, die sich zu Beginn des Sturms ebenfalls in der Bibliothek befunden hatte. Sie hatte nicht nur eine freundliche Stimme, sondern auch ein freundliches Gesicht mit kleinen, runden Augen.

»Wie es scheint, sitzen wir hier erst einmal fest«, sagte sie und rieb sich dabei ihre Hände. »Wenn ich irgendwie helfen kann?«

»Ja, wenn Sie bitte im Konferenzraum dort drüben die Heizung aufdrehen würden, wäre das sehr nett«, antwortete Eva. »Ich werde inzwischen alles überflüssige Licht löschen. Die Bibliothek muss ja nicht unbedingt hell erleuchtet sein.«

Dann lief Eva zu Âsa hinüber.

»Wir werden den Konferenzraum heizen. Kannst du bitte mit Linus dorthin umziehen? Ich werde im Rest der Bibliothek das Licht löschen«, sagte Eva.

Jonas starrte indes nachdenklich aus dem Fenster.

Was war hier nur los?

So ein Wetter war nun wirklich nicht normal für diese Jahreszeit. Im April, ja, da konnte vielleicht einmal der Winter kurz zurückkehren, das kam vor. Aber Ende Mai sollte der Frühling den Kampf gegen Eis und Schnee endgültig gewonnen haben. Und was hatte der Nachrichtensprecher gesagt? Ein Wirbelsturm? Hier in Smâland? Ein seltsamer Sturm, der sein Zentrum ausgerechnet hier über Storby hatte und sich auf unerklärliche Weise ringförmig auszubreiten schien ...

Und wenn es kein normaler Sturm war?

Unter anderen Umständen wäre Jonas niemals auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Unwetter da draußen nicht um einen normalen Sturm handeln könnte. Aber die Ereignisse der vergangenen Tage, die zu Charlies plötzlichem Verschwinden im Nebel geführt hatten, ließen Jonas in ungewohnten Bahnen denken.

Was also, wenn es kein gewöhnlicher Sturm war? War es möglich, dass Charlies Reisen zu anderen Planeten oder anderen Dimensionen oder wohin auch immer, etwas mit diesem Unwetter zu tun hatten?

Offensichtlich waren Charlie und ihre beiden merkwürdigen Freunde noch einmal hier gewesen. Nachdem sie frühmorgens am Trollsee im Nebel verschwunden waren, hatten sie sich einige Stunden später in der Bibliothek von Storby weitere Bücher ausgeliehen. Falls Charlies Geschichte stimmte, und somit auch diese seltsamen Zeitverschiebungen existierten, waren sie vermutlich Wochen oder gar Monate fort gewesen.

Was mag in dieser Zeit passiert sein? Weshalb benötigt Charlie Bücher über die nordische Mythologie und Runenmagie? Gab es da einen Zusammenhang?

Jonas’ Gedanken schlugen Purzelbäume. Ihm fiel das Gespräch über die Augenfarben ein, das er mit Charlie beim Off-Road fahren geführt hatte. Was hatte es damit auf sich? Und auch der Name Oden flatterte durch Jonas Gehirn. Hatte Charlie nicht erzählt, dass ein mächtiger, böser Magier namens Oden dort herrschte?

Dort ... Wo war dort?

Charlie hatte es Vanaheim genannt. Sie hatte von Fabeltieren und Magie gesprochen ...

Das ergab doch alles keinen Sinn. Wie sollte Charlies Geschichte mit diesem Sturm zusammenhängen?

Jonas wurde aus seinen Gedanken gerissen. Der Student hatte das Radio lauter gedreht. Die Stimme des Nachrichtensprechers hallte durch die Bibliothek. Jonas stapfte zu dem jungen Mann hinüber, der mit halboffenem Mund und ungläubigem Gesichtsausdruck lauschte. Ab und an schüttelte er den Kopf, als könnte er dadurch die Glaubwürdigkeit des Gesagten in Frage stellen.

»Die ungewöhnliche Wetterfront, die eine extreme Kälte mit sich führt, hat sich mittlerweile über ganz Südschweden ausgebreitet und wächst weiter, verkündete der Sprecher mit nüchterner Stimme. »Nachbarländer wie Dänemark, Norwegen und Deutschland verfolgen das Geschehen mit größter Besorgnis. Wächst dieser Sturm in gleichbleibender Geschwindigkeit weiter, wird er in Kürze Kopenhagen erreichen. Die Behörde der dänischen Hauptstadt hat den Notstand ausgerufen, doch wie hier in Südschweden wird das Unwetter die meisten Menschen unvorbereitet treffen. An den Küsten führt der Sturm zu ungewöhnlich hohem Wellengang. Jeglicher Schiffsverkehr wurde eingestellt. Sturmflutwarnungen bestehen für die gesamte Ost- und Westküste Südschwedens«, berichtete der Nachrichtensprecher und fuhr fort:

»Die merkwürdigen Wetterverhältnisse hier in Schweden sind für die Wissenschaftler ebenso rätselhaft wie die Katastrophe, die sich vor wenigen Stunden in Österreich zugetragen hat. Nachdem sich der bei Salzburg liegende Untersberg um mehrere Kilometer verschoben und dabei die Stadt dem Erdboden gleich gemacht hatte, sind die Bergungsarbeiten voll im Gange. Berichten zufolge umhüllt den ursprünglichen Standort des Bergmassivs mittlerweile eine mysteriöse Nebelfront. Im Inneren des bläulichen Nebels seien schemenhaft fünf Felsformationen zu erkennen, heißt es in den Berichten aus dem Katastrophengebiet. Über die Herkunft der als säulenartig beschriebenen Strukturen ist nichts bekannt. Den Einsatzkräften ist es bisher nicht gelungen, in das Innere des Nebels vorzudringen. Wie es weiter heißt, verhindere eine Art Kraftfeld eine nähere Untersuchung. Über weitere Entwicklungen und Erkenntnisse halten wir Sie selbstverständlich unterrichtet und informieren Sie umgehend auf allen offenen Frequenzen.«

Der Nachrichtensprecher machte eine kurze Pause.

»Zurück zum Sturm, der unser Land in Atem hält«, fuhr er dann zögerlich fort. Man konnte mittlerweile einen beunruhigten Unterton in seiner Stimme deutlich erkennen.

»Das Unwetter breitet sich weiter aus und hat mittlerweile unsere Hauptstadt Stockholm sowie Oslo und Berlin erreicht ...«

Jonas und der junge Student starrten sich ungläubig an. Vor ein paar Minuten stand der Sturm doch noch gerade erst vor Kopenhagens Toren! Wenn sich diese unerklärliche Wetterfront so schnell ausbreitete, dann …

Der Nachrichtensprecher fuhr fort:

»Breitet sich das Unwetter mit gleichbleibender Geschwindigkeit aus, hat es in wenigen Minuten ganz Europa erfasst. Was das auch für die Rettungsmannschaften und Überlebenden in Österreich bedeutet, ist nicht auszudenken. Das Zentrum des Sturmes hat sich allerdings nicht verschoben und befindet sich immer noch direkt über Storby. Politiker aus aller Welt fordern eine Stellungnahme Schwedens. Offenbar wird vermutet, dass unser Land in der Nähe von Storby ein geheimes Experiment gestartet hat, das nun aus dem Ruder läuft. Der Druck auf unsere Regierung wächst, doch diese beteuert nichts getan zu haben, was zu solch einer Katastrophe hätte führen können. In wenigen Minuten findet eine hastig einberufene Videokonferenz mehrerer Länder statt, von dem sich alle eine Klärung erhoffen. In der Zwischenzeit können wir nur weitere Warnungen aussprechen und zur Vorsicht aufrufen ...«

Weitere Warnungen, Tipps und Sicherheitsvorkehrungen folgten, doch Jonas starrte nur ungläubig auf das Radio, während sich seine Gedanken überschlugen.

Der Fimbulwinter!

Ein endloser Winter, der alle Welten befiel. Ein Winter, der dem Raknarök vorausgehen sollte, dem Untergang der Welt, wie wir sie kennen. Gerade hatte er darüber gelesen! Was, wenn dies nun tatsächlich gerade geschah?

Hatte Charlie mit ihren Weltenreisen etwas in Gang gesetzt? Würde der Sturm aufhören, wenn sie wieder zur Erde zurückkäme?

»Ich habe Decken und Kerzen gefunden!«, wurde Jonas jäh aus seinen Spekulationen gerissen. Eva kam auf ihn zu und drückte ungefragt ein Bündel in seine tätowierten Arme.

»Bring alles in den Konferenzraum! Ich besorge uns noch etwas zu essen«, sagte sie und eilte in Richtung Café.

»Ich helfe dir«, sagte der junge Mann und lief Eva hinterher. Jonas stapfte zum Konferenzraum hinüber und informierte Âsa über den Stand der Dinge. Linus blätterte währenddessen unbeirrt in seinen Magazinen.

»Kaisa ist auch in der Küche. Sie meinte wir würden bestimmt bald Hunger bekommen und sollten uns deshalb mit Vorräten eindecken bevor alles einfriert«, sagte Âsa.

Jonas, der annahm, dass es sich bei Kaisa um die ältere Dame handelte, ging quer durch den Raum und ließ Decken und Kerzen in eine Ecke fallen.

»Ich bin gleich wieder da«, murmelte er, verschwand in der Bibliothek und raffte dort alles zusammen, was er über Runen und nordische Mythologie gelesen hatte Als er in den warmen Konferenzraum zurückkehrte, waren Kaisa und Âsa gerade dabei, den Tisch zu decken. Eva stellte Kerzen auf, während der Student mit dem kleinen Radio unentwegt umher lief.

»Wir haben hier keinen Empfang. Wenn wir Nachrichten hören wollen, können wir das offenbar nur im Bibliothekssaal«, stellte er fest.

»Dann muss wohl jemand ab und an dorthin gehen. Ich übernehme das gerne. Ich muss sowieso nach dem Aggregat schauen«, sagte Jonas.

»Nein, nein«, wehrte der Student ab. »Kein Problem. Ich mache das schon.«

Jonas war sich sicher, dass der junge Mann genauso wie er selbst über die dramatischen Ereignisse ohne Verzögerungen informiert werden wollte, anstatt sie von anderen zu erfahren. Er widersprach ihm deshalb nicht, ging zum Fenster hinüber und starrte in den tobenden Sturm. Schnee und Hagelkörner türmten sich bereits einen halben Meter auf dem Vorplatz, an manchen Stellen gab es noch höhere Verwehungen.

Wo sollte dies nur hinführen?

Was konnte man dagegen tun? Was konnte er dagegen tun? Konnte sein Verdacht tatsächlich der Wahrheit entsprechen? Wie sollte er das herausbekommen? Als erstes einmal musste er unbedingt nachlesen, was die nordische Mythologie über Fimbul und Raknarök zu sagen hatte.

Vielleicht fand sich dort etwas Brauchbares.

Jonas’ Magen knurrte. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Kaisa fing seinen Blick auf und lachte.

»Hier! Bediene dich. Es ist genug da.« Jonas griff nach einem belegten Brot und schnappte sich eines der vielen Bücher über die nordische Mythologie.

Draußen wütete weiter der Schneesturm. Gegen dieses Unwetter war Gudrun ein schwacher Windstoß gewesen. So wie in Schweden jedes Kind den Namen Gudrun kannte, so würde die ganze Welt später den Namen dieses Sturmes niemals vergessen.

Es ahnte allerdings noch keiner dass dieser Sturm mit dem Namen Oden in die Geschichte eingehen würde.

 

 

3. Der Schwanz der Bestla

 

Charlie saß im Schneidersitz auf einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete einen Trainingskampf. Obwohl schon Mitte Blot, also etwa Anfang November, war es ungewöhnlich mild für diese Jahreszeit. Charlie schwitzte sogar, was natürlich auf ihren eigenen – soeben beendeten – Trainingskampf mit Tora zurückzuführen war.

Tora, 15 Sommer alt, mit langem, sehr dichtem, dunklem Haar, das sie für das Training zu einem dicken Zopf geflochten trug, saß neben Charlie und atmete schwer. Sie verfolgte jeden Schritt ihres Bruders Kunar, der soeben einen gekonnten Angriff von Biarn geschickt abwehrte.

Die Waffen, etwa 1,5 Meter lange Holzstöcke, schlugen hart aufeinander, und beide Männer kämpften darum, die Oberhand zu gewinnen. Den Altersunterschied von etwa zwei Jahren sah man Kunar kaum an. Nur wenig kleiner als Biarn, war er durchtrainiert, sehnig und sehr schnell. Das Leben in der freien Natur hatte ihn früh zu einem Mann geformt. Von den schlaksigen, unproportionierten Formen, die man oft bei Jugendlichen im Alter von 16 Jahren fand, war bei Kunar nichts zu sehen. Er kämpfte konzentriert und zielbewusst, was es auch einem erfahrenen Mann wie Biarn durchaus schwer machen konnte.

»Erholt euch!«, hatte Biarn zu Tora und Charlie gesagt, bevor er und Kunar den Kampf aufnahmen. Charlie sah an sich herab. Sie zählte mindestens zehn neue blaue Flecken, die ihr Tora mit dem Stock verpasst hatte. Der einzige Trost war, dass Tora genauso bunt aussah wie sie selbst. Charlie rieb sich den Ellenbogen, der wie nach einem elektrischen Schlag kribbelte. Dann widmete sie sich wieder dem Zweikampf, der soeben eine Wendung nahm.

Biarn schnellte herum, traf Kunar hart in die Kniekehlen, so dass dieser das Gleichgewicht verlor und sich mit einem verzweifelten Hechtsprung nach vorne zu retten versuchte. Biarn nutzte diesen Moment, wirbelte herum, presste Kunar den Stock in den Nacken und griff sich mit einer schnellen Handbewegung das Tau, das aus Kunars Hose hing. Der Kampf war beendet. Kunar stützte sich keuchend auf sein Kampfholz und strich sich seine halblangen, dunklen Haare zurück. Er rieb sich die Kniekehle und forderte grimmig eine Revanche.

Biarn lachte und warf Kunar das Tau zu. Biarn war ein Raidho, ein Magier der vier Elemente. Er war groß, stattlich, hatte lange, blonde Haare, eine markante Kieferpartie und einige Sommersprossen auf der etwas zu großen Nase.

»Das war wirklich gut gekämpft«, sagte er, während Kunar sich das Tau in seinen Hosenbund steckte und sich für die zweite Runde bereit machte. »Du hattest ein paar sehr gute Paraden, die ich nicht erwartet hatte.«

Kunar nickte kurz. Er war bereit. Nach einem Händedruck und einer knappen Verbeugung nahmen sie ihre Kampfpositionen ein. Bald darauf krachten die Stöcke aufeinander.

Charlie versuchte die verschiedenen Techniken zu verfolgen und zu verstehen, um sie später nutzen zu können. Gar nicht einfach, denn die Bewegungsabläufe waren schnell und oft überraschend.

Dafür, dass Charlie vor nicht einmal vier Monaten beinahe die Pforte zu Hels Reich durchschritten hätte, war sie erstaunlich fit. Vor zwei Monaten war sie aus dem heilenden Schlaf erwacht, in den die Schwarzelfen sie versetzt hatten. Sobald sie ohne Stock gehen konnte, bestand Biarn auf täglichem Training. Nichts wäre besser geeignet, die Lebensgeister neu zu erwecken als körperliche Anstrengung, sagte er. Und was konnte da besser sein als regelmäßige Zweikämpfe, die Geschicklichkeit, Ausdauer und Kraft erforderten?

Biarns Training nannte sich Glimakampf. Er wurde seit Urzeiten in der nordischen Kultur ausgetragen. Glima bedeutete so viel wie Freude. Ursprünglich bestand der Glimakampf laut Biarn lediglich aus Tors Ringkampf, eine Art Sumoringen ohne Kampfzirkel. Zu Tors Ringkampf hatten sich so nach und nach eine Vielzahl anderer Zweikämpfe gesellt, die schließlich alle unter dem Namen Glimakämpfe zusammengefasst wurden. Bei dem Kampf mit den Hölzern ging es darum, dem Gegner den Schwanz abzujagen – ein aus Seidenspinnergarn hergestelltes Stück Tau.

Dieser Zweikampf nannte sich der Schwanz der Bestla. In den vergangenen Wochen hatte Charlie hart trainiert, und so waren ihre Kräfte zurückgekehrt. Bevor Oden sie fast umgebracht hatte, war sie in Höchstform gewesen. Genauso wie bei Kunar hatte die tägliche Jagd mit ihren ausgedehnten Pirschgängen sie in Top-Form gebracht. Eine gute Voraussetzung, schnell wieder zu Kräften zu kommen.

Die lange Zeit, die sie und ihre Freunde im Schutze der Schwarzelfen verbracht hatten, war mit Arbeit ausgefüllt gewesen. Diese bestand nicht nur aus Kampftraining. Biarn setzte auch Charlies Unterricht fort.

Charlie besaß magische Fähigkeiten. Das war ihr noch vor einem Jahr völlig unbekannt gewesen. Hätte ihr damals jemand erklärt, dass sie sich wenige Monate später mit magischen Kräften befassen würde, die sie aus den Elementen der Erde – Bjarka – und des Wassers – Lagu – schöpfen würde, hätte sie denjenigen für komplett verrückt erklärt!

Charlie war nämlich bis zu ihrem 14. Lebensjahr ein vollkommen normales Erdenmädchen gewesen. Bis auf ihre unterschiedlichen Augenfarben natürlich. Sie hatte ein grünes und ein blaues Auge. Und dann war sie hier in Vanaheim gelandet! Mit Hilfe eines Amuletts, das nun Oden besaß, hatte sie das Nebeltor in diese andere Welt durchquert. Eine Welt so grundverschieden von der Erde, wie man es sich selbst in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen konnte. Eine Welt, in der Fabeltiere und Magie so normal waren, wie Hunde und Elektrizität auf der Erde.

Magie ...

Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Charlie auf Vanaheim seltsame Fähigkeiten entwickelt. Sie konnte plötzlich die Energien der Pflanzen um sich herum verstehen und entwickelte ein Gespür für Regen. Genau diese magischen Fähigkeiten hatte sie in den letzten Wochen erweitert, zum Teil mit Biarns Hilfe. So beherrschte Charlie den Dreifingerschutz zur Abwehr von magischen Angriffen nun schon fast wie einen angeborenen Reflex.

Jeden Tag hatte sie geübt, ihre Energie zu bündeln. Sie sollte das Symbol Algiz als Schutzrune verwenden, hatte ihr Biarn erklärt. Dafür spreizte man drei Finger ab und verband Algiz mit der Macht der Tursen, indem man Thurisaz rief.

Bis vor zwei Wochen hatte Charlie bei ihren Übungen lediglich ein Kribbeln in der Hand verspürt, doch auf den großen Durchbruch vergeblich gewartet. Dann, als sie schon fast aufgeben wollte, passierte es.

Charlie hatte sich auf einen großen, bemoosten Findling in der Nähe des Schwarzelfenlagers zurückgezogen, um nachzudenken. Kunar war wieder einmal extra abweisend gewesen. Seit Charlie ihm gebeichtet hatte, dass sie die ganze Zeit nur vorgegeben hatte, ein Junge zu sein, tat er so, als ob Charlie nicht existieren würde. Anfangs war er sehr wütend gewesen. Er hatte sie als Betrügerin bezeichnet, die seine und Toras Freundschaft und Vertrauen ausgenutzt hätte. Er meinte, sie hätte zudem Godheims Bräuche missachtet und somit ihrer aller Lebensweise mit Füßen getreten.

Später, als er bemerkte, dass Tora bereit war, Charlie zu verzeihen, hatte er sich zurückgezogen – er fühlte sich auch von seiner Schwester verraten. Seitdem strafte er Charlie mit feindseliger Nichtachtung. Wenn er gezwungen war, mit ihr zu kommunizieren, geschah dies mit einer erzwungenen Gleichgültigkeit, die Charlie noch härter traf, als seine Feindseligkeit.

Tora versuchte zu vermitteln. Doch als dies nicht half, erklärte sie Charlie, dass Kunar tief verletzt sei und Zeit brauche. Als ob Charlie das nicht selbst gewusst hätte!

Natürlich war Kunar verletzt!

Er fühlte sich an der Nase herumgeführt, und Charlie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Allerdings hatte sie die Hoffnung gehegt, dass Kunar – ebenso wie Tora – alles verstehen würde, sobald er die ganze Wahrheit kannte. Die Wahrheit über das Amulett und seine Geschichte.

Kunar musste doch das unglaubliche Abenteuer sehen, das auf sie alle wartete! Würde er denn keine Antworten auf alle ihre Fragen haben wollen?

Tora war sich sicher, dass ihr Bruder für diese Aussichten seinen Groll vergessen würde. Leider schien sie sich getäuscht zu haben. Und insgeheim hatte Charlie genau davor Angst. Kunar war ein stolzer junger Mann, dessen Ehre gekränkt worden war. Seine tiefe Freundschaft zu Charlie basierte auf Gleichberechtigung und Respekt. Genau das hatte sie nun in seinen Augen verloren. Frauen waren auf Godheim nicht gleichberechtigt, und auch wenn Kunar für Godheimer Verhältnisse tolerant war, so waren die Normen seiner Kultur zu sehr in ihm verankert.

Würde er je über seinen Schatten springen können? Und wenn ja, auf welcher Basis würde ihre zukünftige Beziehung stehen? Würden sie je wieder so ungezwungen miteinander umgehen können wie vor ihrem Geständnis?

Charlie hatte sich also an diesem Tag vor zwei Wochen auf den großen Steinblock zurückgezogen. Sie brauchte etwas Abstand von Kunars unterdrückter Feindseligkeit und nutzte die Ruhe, um den Dreifinger-Schutz zu üben. Immer und immer wieder hob sie die Finger, konzentrierte sich darauf, alle ihre Energie in ihrer Hand fließen zu lassen und sagte laut Thurisaz. Es kribbelte – mehr aber auch nicht. Charlie starrte missmutig vor sich hin.

Einige grüne Rennspinnen huschten über den Waldboden und eine junge Wichtelfichte summte leise vor sich hin. Die Geräusche des Waldes waren Charlie mittlerweile so vertraut, dass sie sie kaum noch wahrnahm. Ihr Kopf leerte sich von allen Gedanken, und ihr Geist schwebte davon. Sie war eingenickt. Sie träumte.

Ein alter Mann saß pfeiferauchend vor einem Steinbruch und grübelte. Das grüne Gestein, der Pfeiler Godheims, brach hier aus dem Untergrund hervor. Irminsul…

Ein lauter Knall ließ Charlie hochfahren. Den Kopf voll grünem Licht hob sie schützend ihre Hand empor und schrie: »Thurisaz!«

Es war, als würde Strom durch ihre Hand fließen! Entsetzt blickte Charlie umher und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.

Was war passiert? Hatte es nicht geknallt?

Da sie nichts erkennen konnte, beschlich sie ein leicht verschämtes Gefühl. Sie zog ihren immer noch hochgestreckten Arm zu sich und sah sich noch einmal verstohlen um. Offensichtlich hatte sie geträumt und dabei mächtig überreagiert.

Doch dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie es geschafft hatte! Sie wusste es einfach, genauso wie Biarn es vorausgesagt hatte. Sie hatte soeben ihren allerersten Abwehrzauber ausgeführt, wenn auch nicht ganz bewusst und keinesfalls kontrolliert. Charlie bewegte verblüfft ihre Finger. Ein schiefes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Sie hatte es tatsächlich geschafft!

Aufgeregt sprang sie von ihrem Hochsitz. Sie musste zu Biarn! Charlie umrundete den mächtigen Stein und blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihrer Nase rappelte sich gerade ein kleiner Schwarzelf auf und rieb sich verwirrt seinen angeschlagenen Kopf.

»Bivor!«, brach es aus Charlie heraus. »Was machst du hier? Was ist passiert?«

Der Schwarzelf taumelte vor und zurück und schielte Charlie an. Dann schüttelte er sich und kam laut fluchend auf seine viel zu kurzen Elfenbeine.

»Wenn es unseren Schutz nicht will«, wetterte Bivor, »dann kann es uns dies auch einfach mitteilen!«

Charlie blicke Bivor mit offenem Mund an.

»Was ...«, begann sie. Der kleine Elf hatte sich beruhigt und sah nun seinerseits zu Charlie auf.

»Oh ... Bivor versteht ...«, grinste er dann breit.

Charlie verstand nicht. Bivor rieb sich seinen Kartoffelschädel und nickte dabei auf und ab.

»Es war unbeabsichtigt?«, stellte Bivor eine eher rhetorische Frage.

»Nun denn, wenn es genehm ist ...«, sagte er und drehte sich plötzlich ein paar Mal hastig und lustig im Kreis. Es knallte laut.

»Verdammt! Dieses Weib bringt mich noch in Lokes Küche!«, fluchte der Elf vor sich hin und runzelte seine ohnehin schon faltige Stirn. »Nun ja, der Zweck heiligt die Mittel«, brummte er und sah zu Charlie auf. »Nun kann es gefahrlos auf seinem Felsen schlafen!«, verkündete Bivor und machte eine einladende Handbewegung. »Bitte sehr!«

Charlie ging ein Licht auf. Betreten beugte sie sich zu dem kleinen Elf herab, der seit ihrer Ankunft in Svartalfheim gemeinsam mit seiner Frau Bil für Charlies Wohlergehen sorgte.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Herr Bivor«, sagte sie zerknirscht. Und als Erklärung fügte sie hinzu: »Der Knall hat mich erschreckt und ich hatte zuvor den Dreifinger-Schutz geübt. Es ging alles ganz automatisch ...« Sie zuckte schuldbewusst mit den Schultern.

»Offensichtlich waren seine Übungen erfolgreich«, grummelte Bivor und griff sich noch einmal an den Kopf. Charlie lächelte entschuldigend.

»Ja, offensichtlich«, sagte sie zerknirscht. Doch innerlich jubelte sie!

Sie hatte einen echten Zauber abgewehrt!

Bivor hatte offensichtlich sie und ihren Stein verbergen wollen. Die Schwarzelfen konnten ganze Landstriche um sich herum für die Umwelt unsichtbar machen.

»Dieses Knallen gehört eigentlich auch nicht zur Kunst der Illusionsmagie«, gab Bivor unwillig zu. »Ich habe ein wenig Probleme mit der Zauberei, wenn ich ... ähm ... aufgebracht bin ...«

»Weshalb?«, fragte Charlie und verstand sofort, dass ihr diese Frage wohl eigentlich nicht zustand.

Bivor schnaubte und kratzte verlegen mit dem Fuß im Waldboden herum.

»Manchmal bringt mich Bil wirklich auf die Wichtelfichten ... die Gute ...«, fügte er hastig hinzu. Charlie verkniff sich ein Grinsen.

»Ich verstehe ...«, antwortete sie und setzte ein Gesicht auf, das Verständnis und Mitgefühl ausdrücken sollte. Offensichtlich war sie erfolgreich.

Bivor schlug mit den Ärmchen aus.

»Dann wird es ihr nichts erzählen?«

»Selbstverständlich nicht. Ehrenwort!«, schüttelte Charlie den Kopf.

Bivor atmete erleichtert durch.

»Will es mit zum Essen kommen? Bil zaubert herrliches Wurzelgemüse!«

Wer konnte zu solch einem Angebot schon nein sagen?

Nachdem Biarn amüsiert von den Umständen ihres ersten Abwehrzaubers erfahren hatte, ließ er keinen Tag aus, an dem er nicht mindestens einmal einen Überraschungsangriff auf Charlie startete – er hatte unglaublichen Spaß daran.

Anfangs hatte Charlie so ihre Schwierigkeiten, doch nach und nach wurden ihre Reaktionen schneller, und jetzt konnte sie aus dem Stand heraus einen magischen Angriff abwehren.

 

Der Kampf zwischen Kunar und Biarn dauerte nun schon mehrere Minuten. Tora war wieder zu Atem gekommen, und Charlies angeschlagener Ellenbogen schmerzte noch leicht. Sie streckte ihren Arm ein paar Mal in alle Richtungen und fragte sich, wie viele blaue Flecken ein Mensch wohl ertragen konnte.

Als sie wieder zu den beiden Kämpfern hochschaute, schwenkte Biarn Kunars Tau vor sich durch die Luft. Er hatte gewonnen. Sie hatte das Ende verpasst.

Obwohl er wusste, dass er gut gekämpft hatte, war Kunar unzufrieden. Seine Siege über Biarn ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen.

»Man kämpft ja schließlich, um zu gewinnen!«, hatte Kunar vor einigen Tagen nach einer neuerlichen Niederlage zu Tora gesagt, die tröstende Worte für ihn bereithielt.

Natürlich wollte auch Charlie gewinnen. Aber sie sah die Kämpfe in erster Linie als gutes Training und Spaß am Kräftemessen. Nur wenige Minuten später sollte sich ihre Einstellung zum ersten Mal gründlich ändern.

»So«, sagte Biarn, der seine Puste viel zu schnell wieder erlangt hatte. Charlie notierte es mit einem leichten Anflug von Unwillen. So wie er sie alle antrieb, hätte er ruhig auch einmal außer Atem sein können ...

»Und nun zu Tors Ringkampf«, fuhr Biarn fort. »Charlie, kommst du bitte her?« Charlie hüpfte von dem Baumstamm und betrat den Glimaplatz. »Wir gehen erst einmal gemeinsam die verschiedenen Wurftechniken und die Beinarbeit durch«, verkündete Biarn ernst. Charlie band sich das Seidenspinnertau als Gürtel um die Hüfte und ging in Gedanken durch, was sie bereits erlernt hatte.

Tors Ringkampf war ein Duell, das wirklich auf Tuchfühlung ging. Ähnlich wie beim Sumoringen fasste man den Gegner am Gürtel, um ihn dann mit diversen Bein- und Wurftechniken zu Fall zu bringen. Die Kämpfer umkreisten ständig einander, in der Hoffnung, ein geeignetes Überraschungsmoment nutzen zu können. Wer als erster mit irgendeinem anderen Körperteil als mit den Füßen den Boden berührte, hatte verloren.

Charlie war fast einen Kopf kleiner als Biarn, doch mit Hilfe der verschiedenen Techniken war sie durchaus in der Lage, Biarn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und das, obwohl Biarns Bizepse eher mit Charlies Oberschenkeln zu vergleichen waren. Vor allem Würfe über die Hüfte gelangen ihr nahezu perfekt. Damit sie üben konnte, verteidigte sich Biarn natürlich kaum.

Charlie machte sich offenbar gut, denn nach einigen Würfen und Paraden verkündete Biarn:

»Gut so! Kunar?«

Kunar schaute zu ihnen hinüber, widerwillig, das konnte Charlie deutlich spüren.

»Du wirst gegen Charlie kämpfen!«, verkündete Biarn.

»Niemals!«, presste Kunar hervor. »Ich kämpfe nicht gegen Frauen! Das habe ich bereits klar und deutlich gesagt!«

Kunar hatte sich mehrfach vehement geweigert, gegen Charlie zu kämpfen. Er wollte einfach nichts mit ihr zu tun haben und erklärte seine Entscheidung damit, dass er keine Gewalt gegen Frauen anwenden würde. Daraufhin sagte Tora wütend und gekränkt, dass sie gegen solch einen verbohrten Holzkopf ohnehin nicht antreten würde. So ergab es sich, dass Kunar ausschließlich gegen Biarn kämpfte.

Der hatte Kunars Eigenwilligkeit bisher geduldet, wusste er doch ganz genau, woher der Wind wehte. Doch er hatte Kunar immer wieder zur Rede gestellt. Offensichtlich hatte Biarn nun beschlossen, den Druck zu erhöhen.

Auch gut.

Charlie war bereit. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und wartete.

»Du wirst kämpfen, Kunar!« Biarns Stimme war fest und duldete keinen Widerspruch. »Sollte Charlie verlieren, brauchst du nie wieder gegen sie anzutreten. Ich werde es dir jedenfalls nicht noch einmal nahelegen.«

Charlies Fäuste lösten sich wieder.

Gewinnen? Sie gegen Kunar? Wie stellte sich Biarn das denn bitte vor?

Kunar dagegen schien einen inneren Kampf auszutragen, der deutlich in seinem ovalen Gesicht zu sehen war. Einmal gegen Charlie kämpfen und dann nie wieder behelligt werden. Das schien verlockend.

Tora saß kerzengerade auf dem schuppigen Stamm der Wichtelfichte und wartete gebannt.

Würde sich jetzt endlich etwas tun?

»Also gut«, brummte Kunar mit angespanntem Kiefer. »Ein Kampf ... Aber mit den Stöcken! Und jammere nicht, wenn du verletzt wirst!«, sagte er und sah dabei demonstrativ zu einer Wichtelfichte direkt am Übungsplatz.

Charlie verstand, dass sie gemeint war. Sie schnaubte und ballte erneut die Fäuste.

Jammern?

Wut stieg in Charlie hoch. Dieses Gefühl war ganz neu und strömte wie eine reinigende Kraft durch ihren Körper.

Bisher hatte sie Verständnis für Kunar gehabt. Sie war beschämt über ihr eigenes Fehlverhalten und hatte Gewissensbisse. Doch nun wurde sie zornig!

Wie konnte er sie nur für weich halten? Hatte sie sich jemals ohne triftigen Grund beklagt? Sie gehörte ja nun wirklich nicht zu der zimperlichen Sorte Mensch!

Sie stopfte sich den Seidenspinnerschwanz in die Hose, griff sich ihr Kampfholz und starrte Kunar grimmig an.

»Na los!«, knurrte sie. Kunar trat widerwillig in ihre Nähe.

»Gebt euch die Hände!«, befahl Biarn. »Und dann will ich einen fairen Kampf sehen!«

Kunar und Charlie umkreisten sich. Und dann ging es los. Die Stöcke krachten aufeinander. Angriffe und Paraden folgten in rasender Geschwindigkeit. Charlie kämpfte verbissen um ihre Ehre. Niemals hätte sie gedacht, dass solch wütende Entschlossenheit in ihr steckte. Sie kämpfte, um zu gewinnen! Für nichts anderes war in ihrem Kopf Platz. Sie vergaß alles andere um sich herum und konzentrierte sich einzig auf ihren Gegner. Ihn galt es zu bezwingen!

Beide steckten Treffern ein, doch Charlie spürte die Schläge nicht. Pures Adrenalin floss durch ihre Adern.

Und dann passierte es!

Die Erde unter ihnen begann zu beben! Tora sprang hoch. Kunar und Charlie ließen unbeirrt ihre Hölzer wirbeln, bis direkt unter ihnen der Boden aufbrach.

Was um alles in Godheims Welt geschah hier gerade?

Zeitgleich mit Biarn griff Charlie nach Kunar, der das Gleichgewicht verloren hatte und in die Erdspalte stürzte. Charlie erwischte Kunars Arm, doch er glitt wie Seife durch ihre Finger! Tora schrie verzweifelt.

Dann packte Biarn mit beiden Händen zu! Gemeinsam zogen sie Kunar ans Licht. Am Rande der Spalte blieben sie liegen –schwer atmend und wie gelähmt.

Charlie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein beängstigendes Gefühl überkam sie, als sie in die Spalte starrte, die Kunar hatte verschlingen wollen. Abgerissene Wurzeln der umliegenden Wichtelfichten schwebten in der Luft. Erde und Sand rieselten in die Tiefe. Charlie zitterte. Und dann dämmerte es ihr.

Sie selbst war es gewesen … diese unbändige Kraft …

Sie hatte Charlie plötzlich erfasst und mit sich fortgerissen …

»Ich …«, begann Charlie. »Das wollte ich nicht …«

Sie zitterte nun am ganzen Körper.

»Verzeih mir, Kunar …«, hauchte sie.

Nur Biarn schien zu verstehen, was Charlie zu sagen versuchte. Er kam auf die Beine und zog Kunar mit sich. Er räusperte sich. So hatte er sich den Kampf der beiden nicht vorgestellt.

»Mir scheint, es ist mehr als überfällig, dass du deine Kräfte beherrschen lernst, Charlie«, sagte Biarn leise. Charlie schwieg. Sie war viel zu schockiert, um etwas zu erwidern. Tora sah Charlie ungläubig an. Sie begann zu verstehen.

»Du ...«, flüsterte sie und ballte die Fäuste. Charlie stand regungslos da. Ihr Kopf schien mit Watte gefüllt zu sein, und alles um sie herum begann sich zu drehen.

Weit, weit entfernt hörte sie, wie Tora sprach.

»Wie konntest du nur! Er ist mein Bruder! Du hättest ihn fast umgebracht!«

Dann hörte sie Biarn.

Tora wetterte weiter, doch Charlie blickte nur zu Kunar. Er hatte bisher noch nichts gesagt. Er hatte sich noch nicht einmal gerührt. Seine Augen waren starr auf Charlie gerichtet. Sie sah ihn flehend an, stumm bat sie um Vergebung, um Verständnis. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis Kunar den Blick senkte und sich wortlos abwandte. Charlies Augen füllten sich mit Tränen. Sie hörte Toras aufgebrachte Worte nicht. Sie sah Kunar verzweifelt nach und wandte sich dann ebenfalls um. Ihre Beine trugen sie automatisch vorwärts. Weiter und immer weiter …

 

Charlie konnte sich nachher nicht mehr erinnern, wie lange sie auf diese Weise ziellos umhergeirrt war. Ihr Kopf war seltsam leer und alles schien trostlos und unfassbar aussichtslos. Dann kamen die Gedanken zurück. Ich hätte ihn beinahe umgebracht! Meinen besten Freund!

Charlies Magen drehte sich um. Während sie auf allen Vieren auf dem Waldboden kniete, übergab sie sich direkt auf eine kleine Wichtelfichte, die laut schimpfend ihre Wurzeln aus der Erde riss und davon hüpfte.

»Charlie?«

Charlie hob den Kopf und sah Biarn auf sich zukommen. Sie starrte auf ihre Füße. Biarn setzte sich zu ihr.

»Wie geht es dir?«, fragte er nach einer Weile.

Sie schwieg.

»Tora hat sich wieder beruhigt«, fuhr Biarn fort. Dann rieb er sich seinen Schädel und verzog das Gesicht. »Allerdings erst, nachdem sie mir ihren Stock an den Kopf geschleudert hat … magisch natürlich…«, sagte er und wartete, bis seine Worte zu Charlie durchgedrungen waren. Sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Charlies Augen wanderten von ihren Füßen zu Biarns Kopf. Er lächelte schief.

»Du hast richtig gehört. Eigentlich wollte sie dich treffen. Als du dich einfach abgewandt hast, ist Tora förmlich explodiert. Ich wollte sie zurückhalten und dann ... dann flog das Ding auch schon durch die Luft!«

»Soll das heißen, dass Tora Dinge fliegen lassen kann?«, fragte sie. Biarn nickte und musterte Charlie.

»Und jetzt soll ich glauben, dass es gar nicht mehr so schlimm ist, dass ich den Boden unter uns aufgerissen habe, weil es jedem von uns passieren kann?« Biarn schüttelte langsam den Kopf.

»Ich habe ihn fast umgebracht. Du dagegen hast nur einen Stock an den Kopf bekommen!«, brüllte Charlie, auf die Füße springend. »Ich habe die Beherrschung verloren! Das hätte niemals passieren dürfen! Er ist mein Freund! Wie konnte das nur geschehen? Wie konnte es mir passieren?«

Biarn sah Charlie dabei zu, wie sie im Kreis ging.

»Ja, du hast die Kontrolle verloren«, sagte er dann. »Und Tora ebenfalls. Das soll keine Entschuldigung sein. Du hättest ihn töten können, aber du bist rechtzeitig wieder zu dir gekommen. Das ist mehr als die meisten schaffen. Du musst lernen, deine magischen Kräfte zu beherrschen und zu kontrollieren. Du musst lernen, sie bewusst einzusetzen.«

Charlie stampfte wütend auf. Biarn fuhr unbeirrt fort:

»Menschen mit magischen Fähigkeiten werden normalerweise getauft, tätowiert und zu einem Raidho in die Lehre geschickt. Dies geschieht nicht nur, um andere Nichtmagier davor zu warnen, mit wem sie es zu tun haben, oder um die Magier von der Masse abzuheben, sondern hauptsächlich zum Schutz des Lehrlings und seiner Umgebung. Magie ist kompliziert und kann falsch ausgeführt zu großem Unglück führen. Beschwörungen, Verhexungen und Zauberei wollen gut durchdacht sein. So sollte man zum Beispiel niemals ein Wesen mit einem Fluch belegen, denn was du anderen antust, kommt dreifach zu dir zurück. Verlangst du auf magischem Weg, dass jemand verschwindet, kann es durchaus passieren, dass er für immer fort ist oder auf der Stelle tot umfällt. Du solltest dir immer genau bewusst sein, was du mit einem Zauber bewirkst.«

»Und wie stellst du dir das vor?«, schrie Charlie. »Wie soll ich mir bewusst sein, was ich bewirke, wenn ich nicht einmal weiß, dass ich etwas tue!«

Biarn blieb die Ruhe in Person.

»Ich spreche von Zeremonieller Magie. Intuitive Magie ist selten so stark ausgeprägt, dass sie Schaden anrichten kann. Hauptsächlich zeigt sie sich bei Wut oder Freude«, sagte er.

Charlie schnaubte verächtlich. Immerhin hatte sie gerade die Erde dazu gebracht, sich unter Kunar zu öffnen! Biarn verstand.

»Deine intuitive Magie ist enorm, Charlie. Ich habe noch niemals von solchen Kräften gehört. Nicht einmal bei den mächtigsten Raidhos. Auch wenn du bei jemandem anderen in die Lehre gegangen wärest, hätte dich niemand auf so etwas vorbereiten können, denn keiner würde solche Kräfte erwarten. Du kannst erst reagieren, wenn es geschieht, deshalb werden solche Dinge erst dann eingehend besprochen, wenn man ein wenig Erfahrung gesammelt hat. Tora hat es soeben am eigenen Leib erfahren. Erst jetzt wird sie annähernd begreifen, was mit Beherrschung gemeint ist. Etwas, das ihr noch niemals wirklich leicht gefallen ist.«

Charlie widersprach nicht. Tora hatte sich mit ihrem Temperament bereits mehrmals in Schwierigkeiten gebracht. Sie selbst dagegen verlor selten die Kontrolle.

Um nicht zu sagen nie …

Als ob Biarn ihre Gedanken gelesen hätte, fuhr er fort.

»Es musste früher oder später geschehen. Es ist dir auch zuvor bereits passiert, Charlie.« Sie schüttelte den Kopf. Biarn nickte. »Doch. Du erinnerst dich sicher an den Nebel, den du plötzlich zusammengezogen hast. Du hast mir davon erzählt.«

Richtig. Hanna.

Charlie war auf Hanna wütend gewesen und ihre Energie war in den Versuch geflossen, genügend Nebel für den Rückweg nach Vanaheim zu erzeugen. Überrascht hielt sie inne und starrte ins Leere. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie es nicht als gefährlich wahrgenommen, dass sich ihre Kräfte verselbstständigten.

»Es geht darum, die eigenen Kräfte zu kanalisieren. Ich habe es dir schon ein paar Mal erklärt, Charlie. Doch es bedarf viel Übung. Und wie ich schon sagte, hat man es meist nur mit schwach ausgeprägten intuitiven Kräften zu tun.« Charlie nagte an ihrer Unterlippe.

»Und was soll ich nun tun? Wie kann ich verhindern, dass ich euch alle in Gefahr bringe?«

»Du wirst dich kontrollieren müssen. Beherrschung ist die einzige Möglichkeit. Wenn du Wut spürst, solltest du sie zielgerichtet ableiten. Ich werde versuchen, es mit dir zu üben, aber es wird nicht einfach werden. Trotzdem glaube ich, dass du gute Voraussetzungen hast. Wir können von Glück sprechen, dass es nicht Tora ist, die solche Kräfte besitzt …«, fügte er besorgt hinzu. »Das hoffe ich zumindest«, fuhr er fort. »Denn bis heute wusste ich nicht einmal, dass sie überhaupt magische Fähigkeiten besitzt.«

Er knurrte und rieb sich noch einmal den Kopf.

»Diese Geheimhalterei ist problematischer als ich gedacht habe. Normalerweise gibt sich jeder Bürger Godheims sofort als Magier zu erkennen, da er dann in der Gunst der Gesellschaft steigt. Auf diese Weise hat es solche Probleme bisher kaum gegeben und wenn ja, dann nur im Beisein erfahrener Ausbilder, die sich zur Wehr setzen konnten. Tora muss schon länger mit ihrer Magie experimentieren, sonst hätte sie nicht so zielsicher treffen können.«

»Sie hat noch niemals etwas fliegen lassen«, versicherte Charlie.

»Wenn das so ist, dann hat sie eine andere Linie ihrer Ass Fähigkeiten verfolgt … Hat sie mit dir darüber gesprochen?«

Charlie schwieg. Sie wusste genau, welche magische Fähigkeit Tora bereits äußerst kontrolliert beherrschte. Immerhin hatte sie bereits seit geraumer Zeit telepathischen Kontakt zu ihren beiden Sphinx-Schützlingen Dag und Natt, die nun selbstständig auf Gymers Berg jagten. Charlie und Tora hatten es geheim gehalten, um die beiden Großkatzen zu schützen. Biarn und auch Kunar sahen große Gefahr in ihnen, denn sie vermuteten, dass die beiden ihre wilde Sphinx-Verwandtschaft in Godheim alarmieren könnten, die dann unbarmherzig Jagd auf sie alle machen würde.

Tora hatte zwei süße Katzenbabies von einem ihrer Ausflüge zur Erde mit nach Vanaheim gebracht. Diese waren hier zu Großkatzen mutiert – zu Sphinxen. Charlie hatte sogar einen Drachen nach Vanaheim eingeschleppt. Ursprünglich eine fette Fliege, die auf Charlies Schulter von der Erde mit durch den Nebel gekommen war und sich bei der Ankunft auf Gymers Berg in einem Lindwurm verwandelt hatte. Warum Tiere von der Erde auf Godheim zu Fabelwesen mutierten, leuchtete ihr noch immer nicht ein

Plötzlich begriff Biarn.

»Telepathie!«, rief er und sprang auf die Beine. »Verdammt, Charlie! Wie lange, schon?«

Charlie antwortete nicht. Sie hatte Tora ihr Wort gegeben.

Konnte Biarn Gedanken lesen? Es war nicht das erste Mal, dass Charlie dieses Gefühl befiel.

»Schon eine Weile«, gab sie dann widerwillig zu.

Biarn begann nun seinerseits im Kreis zu laufen.

»Sie kommuniziert mit ihnen, habe ich recht?«

Charlie zuckte mit den Schultern.

»Was ist mit Kunar?«, fragte sie, denn das Sphinx-Problem kümmerte sie zurzeit herzlich wenig.

Biarn ließ von Toras telepathischen Fähigkeiten ab.

»Ich weiß es nicht so genau«, sagte er. »Ich wollte das Eis brechen, daher der Kampf. Ich dachte, wenn er merkt, wie gut du bist – er aber dennoch gewinnt – wird seine Ehre gerettet sein und er könnte großzügig zugeben, dass Frauen würdige Gegner sind.«

»Oh, danke«, sagte Charlie verärgert. »Du bist also davon ausgegangen, dass ich verliere. Sehr nett von dir.«

Biarn winkte ab.

»Kunar kämpft sehr gut. Abgesehen davon ist er um einiges größer und kräftiger als du – und er hat mehr Erfahrung. Vor allem aber ist er nicht erst vor kurzem Hels Reich um Haaresbreite entkommen.«

Charlie wusste, dass ihr Gegenüber recht hatte. Trotzdem gefiel es ihr nicht. Biarn lächelte sie an.

»Ich sagte, dass du eine würdige Gegnerin bist. Reicht dir das nicht?«

Charlie knurrte irgendetwas Unverständliches.

Biarn griff nach ihren Schultern und drehte sie zu sich herum.

»Jetzt hör mir mal gut zu, Charlie. Du hast enormes Potenzial. Du bist zäh und ehrlich.« Charlie wich seinem Blick aus. Sie dachte an Kunar.

»Ja, ehrlich«, wiederholte Biarn. »Ehrlichkeit ist eine deiner Stärken! Hinterhältigkeit und Verrat sind dir völlig fremd! Du lernst außerdem schnell, und mutig bist du auch. Du hättest die Herausforderung, gegen Kunar zu kämpfen, nicht annehmen müssen. Genauso wenig wie die Rätsel des Orakels. Du willst Antworten und du bist bereit, dafür Risiken einzugehen. Du bist mutig.«

Charlie war unwohl zu Mute. Soviel Lob war ihr gar nicht recht. Sie versuchte, sich aus Biarns Griff zu winden. Er hielt sie aber fest.

»Ich bin mir sicher, dass Kunar all das bewusst ist. Und ich bin auch sicher, dass er dich sehr schätzt und dich respektiert. Kunar hat sich meiner Ansicht nach in etwas verrannt. Er versucht mit aller Kraft an den alten Wertvorstellungen festzuhalten, Ich hoffe wirklich, dass er möglichst bald seinen verdammten Stolz hinunterschluckt. Nur leider habe ich da so meine Zweifel. Da wäre nun auch noch Tora …«

Er schüttelte skeptisch den Kopf.

»Ich nehme an, dass Kunar auch nichts von Toras Fähigkeiten wusste?«

Es war mehr eine Äußerung als eine Frage. Ein Blick in Charlies Gesicht bestätigte ihn. Er ließ ihre Schultern endlich los. Sie schmerzten etwas.

Noch mehr blaue Flecken…

 

Es sollte sich zeigen, dass Biarn mit seiner Befürchtung richtig lag. Kunar zog sich vollends zurück. Er hatte seine innere Ruhe verloren, fühlte sich gekränkt und verraten, und dass er nun als einziger keine magischen Fähigkeiten besaß, machte die Situation keineswegs besser. Denn auch die Kunde von Toras Fähigkeiten drang zu ihm durch. Offensichtlich hatten einige Schwarzelfenkinder Kunars und Charlies Glimakampf beobachtet und von den erstaunlichen Ereignissen erzählt, die sich dort zugetragen hatten. Obwohl sie Magie gewöhnt waren, erlebten sie nicht alle Tage, wie sich das Tor zu Hels Reich öffnete. Auch fliegende Kampfstöcke waren offensichtlich nicht alltäglich, zumindest nicht, wenn sie einem Magier an den Kopf sausten.

Kunar hatte offenbar Schwierigkeiten, seinen Platz in dieser neuen Welt zu definieren. Er schien seine Führungsrolle in Frage zu stellen. Was Tora unbegreiflich erschien, da ihrer Meinung nach die Rolle der Frau oder auch magische Kräfte nichts mit dem grundlegenden Charakter eines Menschen zu tun hatten.

Charlie sah dies natürlich genauso, doch sie war nun nicht gerade die richtige Person, um Kunar so etwas klarzumachen. Biarn war der Ansicht, dass sein Freund allein dahinterkommen musste. Kunar würde jegliche Einmischung als weitere Kränkung auffassen und nicht als willkommene Hilfe, war er überzeugt. Charlie hatte nicht die geringste Ahnung, ob Biarn recht hatte.

 

Biarn reiste kurz nach diesem furchtbaren Tag nach Bilskirne, um sich dort sehen zu lassen und seinen Pflichten als Lodurs Sohn nachzukommen. Trotz der vielen Schwarzelfen im Lager fühlte sich Charlie ziemlich allein. Das erging nicht nur ihr so. Kunar kapselte sich ab und auch Tora hatte Charlie den magischen Angriff auf Kunar noch nicht ganz verziehen – obwohl sie nach ihrer eigenen, unbeabsichtigten Attacke auf Biarn begriff, wie es passiert war.

Doch Kunar war nun einmal ihr Bruder und sie hielt zu ihm – und das, obwohl sich Kunar ihrer Meinung nach seltsam verhielt. Tora war hin und hergerissen zwischen Verständnis und Ärger über sein störrisches Verhalten gegenüber Frauen und Magie. Sie hielt ihm vor, dass er ihr ganzes Leben lang größere Macht, Kraft und Erfahrungen hatte als sie – und nun nicht damit umgehen konnte, dass seine kleine Schwester ihm endlich einmal einen Schritt voraus war.

Tora war davon überzeugt, dass sich bald auch bei ihrem Bruder magische Kräfte zeigen würden. Im Gegensatz zu Kunar selbst, der offenbar gerade an allem zweifelte. So kam es, dass die drei Freunde in den nächsten Wochen umeinander herum kreisten, ohne aufeinander zuzugehen.

Charlie streifte oft durch die tiefen Wichtelwälder. Sie war auf der Suche nach weiteren, unbekannten Gewächsen mit heilender Wirkung. Abgesehen davon trainierte sie bei jeder Gelegenheit ihre magischen Fähigkeiten. Wenn es regnete, experimentierte sie mit den vielen kleinen Tropfen.

So konnte sie nun ohne Probleme Wassertropfen in der Luft zu großen, schwabbeligen Ballons sammeln. Hanna hatte einmal einen solchen Ballon auf den Kopf bekommen. Charlie konnte den Regen teilen, so dass er rechts und links zur Seite flog und Charlie auf diese Weise trockenen Fußes durch Vanaheims Wälder spazieren konnte.

Biarn beobachtete dies wohlwollend und anerkennend. Er beschloss daraufhin, Charlie eine weitere Zeremonielle Magie zu lehren. Und zwar, wie man aus Wasser Eis machte. Er hatte drei Schüsseln mit Wasser gefüllt und diese zwischen ihnen abgesetzt.

»Zeremonielle Magie besteht, wie du weißt, aus zwei Stufen«, erklärte er. »Aus einem Bewegungsritual« – er machte einige Handbewegungen und das Wasser in der ersten Schüssel gefror augenblicklich zu Eis – »… verstärkt durch verbale Zeremonielle Magie.«

Er bewegte seine Hände noch einmal und rief »Isaz!«

Das Wasser in der zweiten Schüssel gefror und sprengte diese in die Luft.

»Also gut, Charlie. Nun bist du an der Reihe. Du ritzt die Rune Iss in die Luft. Für jede Himmelsrichtung eine.«

Da die Rune Iss nur aus einem senkrechten Strich bestand, war dies nicht weiter schwer.

»Und nun ritzt du die Rune Iss einmal in die Richtung des Wassers, das gefrieren soll.« Charlie machte einen Strich in die Luft in Richtung Schüssel.

»Und gleichzeitig rufst du Isaz. Isaz ist in der uralten Sprache der Magie das Wort für Eis«, erklärte Biarn.

Charlie rief »Isaz«. Doch nichts geschah.

»Du musst die magische Energie durch deine Hände in die Rune fließen lassen«, klärte Biarn sie auf. »Wie bei dem Dreifinger-Schutz.«

Charlie versuchte es erneut. Sie konzentrierte sich. Sie ritzte Iss in alle Himmelsrichtungen und in Richtung Schüssel und rief »Isaz!«.

Wieder geschah nichts, obwohl sie ein leichtes Kribbeln in ihrer Hand verspürte. Sie war auf dem richtigen Weg. Nach drei weiteren Versuchen kräuselte sich das Wasser zum ersten Mal, und nach weiteren drei entstand schon eine hauchdünne Eisschicht auf der Wasseroberfläche.

Biarn war sehr zufrieden mit ihr und trug ihr auf, alleine weiter zu üben, während er fort war.

Biarn blieb immer nur für einige Tage in Svartalfheim, denn er hatte auch noch andere Pflichten und Pläne, von denen Charlie, Tora und Kunar nichts erfuhren. Doch jedes Mal, wenn er da war, brachte er Charlie etwas Neues bei. Nach dem Ereignis mit dem Kampfholz wollte Biarn auch Tora unterrichten.

Die Eisübungen waren nun schon einige Wochen her, und Charlie beherrschte das Schockgefrieren von Wasser fehlerfrei. Sie war sogar dazu übergegangen, an ihren Regentropfen zu üben und konnte bereits einzelne Tropfen anhalten, magisch mit der Rune Iss markieren und so als Hagelkorn zu Boden fallen lassen. Jetzt arbeitete sie daran, mehrere fallende Tropfen gleichzeitig gefrieren zu lassen. Es sollte richtig hageln.

Charlie versuchte auch, Nebel zu machen. Doch das war schwieriger als gedacht. Sie war der Meinung gewesen, dass sie die Regentropfen lediglich teilen musste, aber je kleiner sie wurden, desto problematischer wurde es. Sie gab ihr Ziel nicht auf, sondern legte es lediglich auf Eis – im wahrsten Sinne des Wortes.

Obwohl Charlie nun nicht mehr von Oden gesucht wurde (da der sie ja für tot hielt), war sie vorsichtig, wenn sie durch den Wald streifte. Biarn war eines Tages zurückgekehrt und hatte verkündet, dass Oden nun nach einem älteren Magier Ausschau halten ließ.

Charlie und Biarn vermuteten, dass Oden die Präsenz des dritten Teil des Amuletts verspürte. Weshalb er allerdings einen alten Magier suchen ließ, war Charlie schleierhaft. Sie war sich sicher, dass die junge, dunkelblonde Frau mit den braunen Augen den dritten Teil besaß. Sie hatte sie eindeutig aus dem Nebel treten sehen – vermutlich in Godheim, denn enorme Bergketten hatten sich hinter der Frau erstreckt.

Oden schien dagegen nicht zu wissen, wo er seine Suche beginnen sollte, er spürte offenbar lediglich die Anwesenheit des weißen Steins mit den blutroten Linien. Also sah sich Charlie vor, wenn sie das Lager der Schwarzelfen verließ.

Der Illusionszauber der Elfen, der das Lager für andere Wesen unsichtbar machte, erstreckte sich nur einige hundert Meter im Umkreis. Falls sie ständig unsichtbar herumlaufen wollte, hätte ein Schwarzelf sie begleiten oder sich zumindest ständig auf sie konzentrieren müssen. Das war natürlich nicht immer möglich.

Es war nicht die richtige Jahreszeit für blühende Gewächse. Die meisten Heilkräuter lagerten ihre Heilkräfte allerdings in der Staude oder im Wurzelstock, so dass Charlie bei ihren Wanderungen immer wieder neue Entdeckungen machte. In der Nähe des Lagers wuchs auch an einigen Stellen Blaukraut – ein unscheinbares Gewächs mit lila Blüten, das eine völlig neue Form von Energie enthielt.

Badete man die winzig kleinen Blüten des Reginkrautes – wie Charlie und Tora es auch nannten – einen Tag lang in der Sonne, konnte man mit der so gewonnenen Flüssigkeit Angst- und Schockzustände lindern.

Das hatte Tora am eigenen Leib ausprobiert, nachdem sie in der Nornenvision den grausamen Tod ihrer Mutter hatte mit ansehen müssen. Zu Charlies Leidwesen blühte das Blaukraut nicht um diese Jahreszeit, genauso wenig wie alle anderen Pflanzen Vanaheims.

Vielleicht gab es auch andere Blütenwässerchen, die Emotionen wie Ärger und Schuldgefühle heilten?

Obwohl Charlie nicht wirklich daran glaubte, so spät im Jahr noch ein blühendes Gewächs zu finden, streifte sie umher und berührte jede noch so unscheinbare Pflanze. Ihre Ausdauer wurde nur wenige Tage vor dem Opferfest Alvablotet belohnt. In zweierlei Hinsicht.

Charlie war weiter gewandert als je zuvor. Der dichte Wichtelwald mit den uralten, schuppigen Stämmen brach unversehens vor ihr auf und gab den Blick auf eine große Wiese frei, in deren Mitte ein massiver Fels aus dem Boden wuchs. Die Wiese glich einem Meer aus verschiedenen, bereits vergilbenden Gräsern, aus dem in fast gleichmäßigen Abständen etwa 1,5 Meter hohe Pflanzen emporragten. Sie erinnerten Charlie an Staubwedel mit knallgelbem Stiel. Als sie näher heranging, sah sie, dass ebenfalls knallgelbe, lanzenförmige Blätter am Fuße des Stiels wuchsen. Charlie bahnte sich einen Weg durch das Gräsermeer und ließ dabei in alter Gewohnheit ihre Hände über die Pflanzen gleiten.

Ein großer, gelb gepunkteter Tausendfüßler schlängelte sich in rasantem Tempo auf den schützenden Wald zu. Als Charlie den ersten Staubwedel erreicht hatte, sah sie deutlich, dass diese Pflanze noch nicht annähernd verwelkt war.

Offenbar ein später Blüher.

Sie hob die Hand und berührte den knallgelben Stängel. Ein durchaus bekanntes Gefühl von Übelkeit übermannte Charlie, so dass sie rückwärts taumelte. Überrascht starrte sie den Pinselwedel an. Dann griff sie in ihre Manteltasche und leerte aus einem sandbraunen Beutel zerkleinertes Lindwurmblutskraut in ihre Handfläche.

Charlie hatte es auf dem Markt von Bragesholm von der alten Kräuterhexe Fulla erhalten. Damals hatte sie noch nichts von ihren eigenen Bjarka-Fähigkeiten gewusst, doch die Alte hatte eine Kraft in Charlie gespürt und ihr den Beutel aus Seidenspinnergarn mit den Worten ausgehändigt: »Du wirst schon herausbekommen, welche Kraft in diesem Kraut wohnt«.

Und Charlie hatte es herausgefunden. Lindwurmblutskraut war ein extrem starkes und giftiges Heilmittel, das aber in der richtigen Dosierung bei Vergiftungen durch Fisch und Fleisch helfen konnte.

Das Gras auf ihrer Hand hatte exakt dieselbe Schwingungsenergie wie der Staubwedel.

Das war also Lindwurmblutskraut! So sah es aus.

Charlie schüttete das Gras in den Beutel zurück und ließ ihn wieder in ihrer Manteltasche verschwinden. Sie beschloss, einen dieser Pinsel mit zurück ins Lager zu nehmen. Als sie den Stängel abbrach, berührte sie unweigerlich auch den fluffigen Staubwedel und nun erlebte Charlie eine wirkliche Überraschung!

Als sie die vielen winzig kleinen Blüten des braungrünen Wedels streifte, durchfuhr ein unbeschreibliches Gefühl der Unausgeglichenheit ihren Körper. Zweifel nagten an ihr.

Welchen Platz hatte sie in dieser Welt? Was war sie wert? Hatte sie sich für stärker und gefestigter gehalten als sie war?

Beängstigende und verwirrende Gedanken schossen in Wellen durch ihren Kopf. Erschrocken zog Charlie ihre Hand zurück und starrte auf die meterhohe Pflanze vor sich. Ihr Selbstwertgefühl und ihre innere Harmonie kehrten zurück, doch der Schock wirkte nach.

Was für ein unglaublich aufwühlender Gefühlszustand! Ein Wirrwarr, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Ein Zustand, in dem sich Unsicherheit und Selbstzweifel in einer sich endlos windenden Spirale ins Unendliche schraubten. Als wäre man plötzlich sein Ich losgeworden und müsste sich vollends neu definieren.

Charlie schüttelte sich und sah sich nach allen Seiten um. Sie war allein, also wandte sie sich wieder der Pflanze zu. Sie berührte sie noch einmal. Genau wie bei Toras Reginkraut war der Effekt, nun da Charlie vorbereitet war, schwächer. Es war eindeutig dieselbe Schwingungsenergie. Diese neue Energie überlagerte eine altbekannte Kraft, die Kraft der Heilkräuter.

Wenn Charlie sich konzentrierte, konnte sie die verschiedenartigen Schwingungen verspüren, die in dieser Pflanze existierten. Sie fühlte eindeutig die Symptome bei Fleisch- und Fischvergiftungen, gegen die es als Heilkraut half, und die Symptome eines Gefühlszustandes, gegen die das Reginkraut als Seelentröster wirkte.

Während Charlie über die Wiese wanderte und mehrere der Riesengräser abschnitt, dachte sie bereits einen Schritt weiter. Dieses Mal würde sie das Blütenwasser auch verwahren können, denn sie wusste, dass die Schwarzelfen Tonkrüge aller Art herstellten. Darunter auch kleine Amphoren, die für die winzigen Elfen natürlich wie große Fässer waren. Sie würden sich ausgezeichnet für Charlies Zwecke eignen.

Die Suche nach den schönsten Wedeln führte Charlie geradewegs in die Mitte der großen Wiese, wo der mächtige Fels aus der Erde wuchs. Als Charlie den Blick über das Gräsermeer schweifen ließ, blieb ihr Auge plötzlich an etwas Grünem hängen, das eindeutig nicht pflanzlich war. Charlie kniff die Augen zusammen.

War das möglich?

Mit einigen schnellen Schritten war sie an dem Felsen angelangt.

Irminsul!

Vergessen waren die langen Wedel des Lindwurmblutkrautes, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Sie untersuchte das Gestein näher. Es handelte sich nicht um den Steinbruch, den Charlie in ihrer Nornenvision gesehen hatte, denn der war eindeutig größer gewesen.

Oder vielleicht doch?

Immerhin waren fast 15.000 Jahre vergangen und der Fels wies eindeutig Spuren von Fremdeinwirkung auf. Charlie konnte sehen, dass mit Gewalt Stücke aus dem Felsen geschlagen worden waren. Wenn man es genau betrachtete, bestand der gesamte Fels aus scharfkantigen Bruchstellen. Offenbar bediente sich hier jedermann freizügig, genau wie der uralte Elf Andvare ihr empfohlen hatte. Das Gestein war von mattgrüner Farbe und wies blaurötliche Maserungen auf. An einigen Bruchkanten schimmerte es hellgrün. Charlie vermutete, dass es sich um frisch geschlagene Stellen handelte.

Sie sah sich suchend um. Leider gab es hier nichts, was als Werkzeug in Frage kam. Ihr Messer war dafür nicht geeignet, und sie trug außer Pfeil und Bogen keine weiteren Waffen bei sich. Ein großer Stein war in der näheren Umgebung nicht zu finden. Nach einer Weile entschied sich Charlie dazu, die Wiese zu verlassen und im nahegelegenen Wichtelwald nach einem passenden Stein zu suchen.

Sie wurde bald fündig und kehrte zu dem Irminsul-Felsen zurück. Mit ein paar gezielten Schlägen gelang es ihr, einige Stücke abzuspalten, doch es war eine schweißtreibende Arbeit. Keuchend ließ sie ihr improvisiertes Werkzeug fallen und sammelte die hellgrünen Bruchstücke ein. Sie kniete neben dem Felsen und drehte und wendete einige Steine in ihren Händen.

Was war an diesem Stein nur so besonderes, dass sie seit Monaten davon träumte?

Sie spürte nichts. Es war nicht wie bei den verschiedenen Heilkräutern oder den Blüten des Lindwurmblutkrautes. Für Charlie war es einfach nur grünes Gestein. Nichts weiter. Und doch musste es eine Bedeutung haben, sonst hätte sie es wohl kaum in den Nornen-Visionen und in ihren Träumen gesehen.

Die Nornen antworteten auf das, was man fragte. Unterbewusst natürlich, denn Charlie hatte weder nach grünen Steinen, noch nach ihren Eltern gefragt. Dass es sie beschäftigte, woher sie kam, das war für Charlie klar. Doch weshalb hatte sie einen Steinbruch mit Irminsul gesehen?

Und dieser alte Mann … Vielleicht war er der eigentliche Grund ihrer Vision gewesen … Vielleicht ging es eigentlich um ihn? Doch weshalb hatte sie dann ständig Träume in Grün? Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem alten Mann und dem Irminsul?

Das grüne Gestein gab es laut Andvare auf dem ganzen Planeten. Es durchzog den gesamten Untergrund, mit Ausnahme der Felseninsel Asgârd, erinnerte sich Charlie.

Andvare hatte Irminsul als Pfeiler Godheims bezeichnet.

Charlie betrachtete die scharfkantigen Stücke in ihren Händen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung was sie damit anfangen sollte. Trotzdem ließ sie alle Stücke in ihre Taschen gleiten und sammelte dann die Lindwurmblutswedel wieder ein. Zumindest etwas, von dem sie wusste, was es zu bedeuten hatte. Dann machte sie sich auf den Weg zurück ins Lager.