Minileseprobe aus "Lovisa - Der Riss im Universum"

Minileseprobe der Woche 48

 

 

Der Mann hatte seinen ersten Schrecken überwunden.

 

»Was zum Teufel …«

 

Ich stand stocksteif mitten im Raum. Das war eindeutig Schach, und gleich kam Schachmatt.

 

Ich überlegte kurz, einfach an dem Mann vorbeizustürmen, doch seine stämmige Statur füllte den Türrahmen komplett aus.

 

»Was zum Teufel …«, wiederholte er sich, die nachfolgenden Worte brüllend: »… tust du hier?!«

 

Ich zuckte zusammen. Mit zwei großen Schritten verließ der Kerl den Türrahmen. Noch bevor ich mich entscheiden konnte, war er zurück, in der einen Hand ein Telefon, in der anderen ein fettes Küchenmesser. Eines von der Sorte, die ein ganzes Schwein zerlegen konnten. Mir wich der Rest Farbe aus dem Gesicht. Mein Herz sackte in die Hose, und ich rang stotternd um die richtigen Worte.

 

»Bleib, wo du bist!«, drohte er. Dann knurrte er etwas von Polizei und Jugend von heute.

 

»Oh, da ist sie ja!«, rief eine weitere Männerstimme. Sie klang um einiges jünger als die des Hausherrn. »Zum Glück ist ihr nichts passiert!«

 

Der Hausherr wirbelte herum, und sah sich einem weiteren Eindringling gegenüber, einem jungen Mann mit ozeanblauen Augen. Ich weiß nicht, wer erschrockener war, ich oder der Hausherr. Während ich den Mann aus meiner Unterrichtsvision mit offenem Mund anstarrte, redete er mit einem merkwürdigen Dialekt munter drauflos.

 

»Das ist meine Schwester, wissen Sie. Sie ist ein wenig …«

 

Er zeigte mit dem Finger an die Schläfe und machte eine Plem-Plem-Bewegung.

 

»Ich sollte heute auf sie aufpassen, und sie ist mir entwischt. Bitte vielmals um Entschuldigung.«

 

Ich japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Anblick war vermutlich sehr hilfreich, denn der Hausherr runzelte angestrengt die Stirn.

 

»Ich heiße Erik. Wir haben mal in so einem Haus gewohnt«, fuhr Erik fort, als der Hausherr nun wieder ihn anstarrte.

 

»Meine Schwester muss es verwechselt haben. Lag der Schlüssel unter dem Blumenkübel?«, fragte er und lächelte wissend. Mir fiel die Kinnlade herunter. Woher wusste der das? Und was machte der überhaupt hier? Und die noch viel interessantere Frage: Wer war er?

 

Erik redete weiter auf den Mann ein.

 

»Hat sie irgendeinen Schaden angerichtet?«

 

Er warf einen Blick durch das Zimmer. Obwohl natürlich nichts zu sehen war, versicherte er: »Falls ja, dann komme ich selbstverständlich dafür auf. Ich hoffe wirklich, dass wir Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet haben. Meine Schwester ist zwar zurückgeblieben, aber sie ist eine Seele von Mensch und tut niemandem etwas zuleide.«

 

Der Hausherr senkte das Telefon, behielt das Messer aber fest im Griff.

 

»Hm, sie ist behindert, sagst du?«

 

Er musterte mich von der Seite, ließ Erik aber nicht aus den Augen. Ich guckte immer noch wie ein lebendes Fragezeichen aus der Wäsche. Mein leicht geöffneter Mund und mein verwirrter Blick schienen den Mann zu überzeugen.

 

»Soweit ich sehen kann, hat sie nichts angerührt«, sagte er und kämpfte mit sich selbst und seinem Mitgefühl einer armen Irren gegenüber.

 

»Sie hat sicher nichts gestohlen«, sagte Erik. »Obwohl es mich wundert, dass sie nicht in der Küche von dem Kuchen genascht hat. Lovisa liebt Frischgebackenes, und hier duftet es wirklich wundervoll.«

 

Meiner Meinung nach trug er etwas zu dick auf. Was mich allerdings die Augen zusammenkneifen ließ, war mein Name. Woher kannte er mich und wusste, wie ich hieß?

 

Misstrauisch presste ich die Lippen zusammen und überlegte ernsthaft, wer gefährlicher war: der Hausherr mit dem Messer oder dieser geheimnisvolle junge Mann mit den ozeanblauen Augen.

 

Während ich noch überlegte, ging Erik an dem Mann vorbei – ich sah, dass er das Messer im Auge behielt, obwohl er gekonnt ungezwungen wirkte – und zwinkerte mir unauffällig zu.

 

 

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